Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

E


s dauert nicht lange, bis Maryam
T. in Tränen ausbricht*. »Wofür
hat man ihn umgebracht?«, fragt
sie. T. hat vor wenigen Tagen den
Vater ihrer Kinder verloren. Sie waren seit
zwei Jahren getrennt, das schon, aber da
sei doch noch so viel gewesen zwischen
ihnen, die Erinnerung an die gemeinsame
turbulente Vergangenheit; die vier gemein-
samen Kinder, um die er sich bis zuletzt
so liebevoll gekümmert habe.
Maryam T. sitzt in einem Berliner Café
und erzählt vom Gefühl der ständigen
Angst. Morddrohungen hätten sie und
Zelimkhan Khangoshvili, ihr Ex-Mann, in
den vergangenen Jahren immer wieder
erhalten, mehrere Mordversuche habe er
überlebt. Deshalb seien sie ständig geflo-
hen, aus der georgischen Provinz in die
Hauptstadt Tiflis, er in die Ukraine, sie
nach Polen, dann nach Brandenburg und
schließlich nach Berlin.
Am Freitag vergangener Woche war
Khangoshvili gegen 11.50 Uhr gerade auf
dem Weg in die Moschee, als sich ihm im
Kleinen Tiergarten von hinten ein Fahr-
radfahrer näherte. Ein Schuss streckte
Khangoshvili nieder, zweimal schoss der
Täter ihm aus kurzer Distanz in den Kopf.
Khangoshvili war sofort tot.
»Wofür?«, fragt Maryam T. Mit dieser
Frage beschäftigen sich nicht nur Freunde
und Familie des Toten, sondern auch die


  1. Mordkommission der Berliner Polizei,
    die Generalstaatsanwaltschaft, Geheim-
    dienste mehrerer Länder, der Generalbun-
    desanwalt, das Bundesinnenministerium,
    das Auswärtige Amt und das Bundeskanz-
    leramt.
    Die Antwort dürfte darüber entschei-
    den, ob sich der kaltblütige Mord zu einer
    diplomatischen Krise mit Russland aus-
    wachsen könnte. Mehrere Anzeichen je-
    denfalls deuten darauf hin, dass Khango -
    shvili aus politischen Motiven getötet wur-
    de. Möglicherweise war ein auslän discher
    Nachrichtendienst an der Tat beteiligt.
    Erst im vergangenen Jahr hatte der
    Mordversuch an dem russischen Ex-Agen-
    ten und Überläufer Sergej Skripal und des-
    sen Tochter für einen internationalen Auf-
    schrei gesorgt. Zwei mutmaßliche Agenten
    des russischen Militärgeheimdienstes GRU
    hatten Skripal das Nervengift Nowitschok
    an die Türklinke geschmiert. Skripal und
    seine Tochter entgingen knapp dem Tod.



  • Vorname geändert.


Westliche Staaten wiesen daraufhin
mehr als hundert russische Diplomaten
aus. Vier russische Abgesandte mit Ge-
heimdiensthintergrund mussten Berlin ver-
lassen.
Entsprechend nervös ist man nun in der
Bundesregierung. »Wenn es sich um einen
ähnlich gelagerten Fall handelt, ist er nicht
hinnehmbar und erfordert Konsequen-
zen«, sagt ein hochrangiger Beamter,
»aber auch deswegen sind vorschnelle Be-
schuldigungen jetzt nicht angebracht.«

Khangoshvilis mutmaßlicher Mörder
wurde kurz nach der Tat gefasst. Jugend-
liche hatten ihn auf der Flucht gesehen,
Einsatzkräfte der Polizei waren in der
Nähe. Es handelt sich um einen angeblich
49-jährigen russischen Staatsbürger, Va-
dim Sokolov, der die Tat bestritten hat.
Die Ermittler der Generalstaatsanwalt-
schaft gehen fest davon aus, dass er ein
Auftragskiller ist. In wessen Auftrag er han-
delte, wissen sie nicht.
Die denkbaren Szenarien reichen von
tschetschenischen Islamisten, die aus Ra-
che gehandelt haben könnten, bis zu Ri-
valitäten im Bereich der Organisierten Kri-
minalität. Die Ermittler prüfen aber auch
Theorien, wonach der tschetschenische
Diktator Ramsan Kadyrow oder Russlands
Nachrichtendienste, etwa der berüchtigte
GRU, hinter dem Mord stehen könnten.
Es gab in den vergangenen Jahren mehrere
solcher Fälle.

2006 starb der russische Ex-Agent und
Kremlkritiker Alexander Litwinenko an
einer Polonium-Vergiftung. Zwei mutmaß-
liche russische Agenten sollen ihm das
radioaktive Material in London in den Tee
gegeben haben.
2009 verließ der 27-jährige Tschetsche-
ne Umar Israilow gegen Mittag einen Su-
permarkt im Wiener Bezirk Floridsdorf
und war wenig später tot. Ein Killerkom-
mando hatte ihn abgepasst und mehrmals
auf ihn geschossen. Israilow hatte in Tsche-
tschenien gegen die Russen gekämpft. Er
war 2003 gefangen genommen, gefoltert
und bedroht worden und wurde danach
in eine paramilitärische Einheit Kadyrows
gesteckt. Ihm gelang jedoch die Flucht,
und er verklagte Kadyrow vor dem Euro-
päischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Im vergangenen Jahr dann klebte das
russische Nervengift Nowitschok an der
Klinke der Skripals. Moskau dementierte
eine Beteiligung, doch Rechercheure der
Investigativprojekte Bellingcat und The
Insider enttarnten die beiden Täter als
GRU-Männer.
In der vergangenen Woche wies der
Kreml jegliche Beteiligung an dem Mord
im Kleinen Tiergarten von sich. Der russi-
sche Staat habe mit den Geschehnissen
»natürlich nichts zu tun«, teilte Dmitrij Pes-
kow mit, der einflussreiche Sprecher von
Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Doch sowohl der tschetschenische Dik-
tator Kadyrow als auch russische Nach-
richtendienste hätten ein klares Motiv ge-
habt, Khangoshvili umzubringen. Das er-
gibt sich aus den Angaben seiner Ex-Frau
sowie ehemaliger Funktionäre georgischer
und ukrainischer Sicherheitsbehörden.
Zelimkhan Khangoshvili, ein ethnischer
Tschetschene, wurde 1979 im georgischen
Pankisi-Tal geboren. Als im Jahr 1999 der
Zweite Tschetschenienkrieg begann, half
er zunächst Flüchtlingen. Von 2001 an
kämpfte er selbst.
»Sie empfanden es als ihre Pflicht, ihr
Land zu beschützen«, sagt Maryam T. »Ich
wusste, dass ich ihn nicht aufhalten kann.«
Khangoshvili soll ein Kommandeur und
ein Vertrauter des tschetschenischen Sepa-
ratistenführers Aslan Maschadow gewesen
sein. Fotos aus dieser Zeit zeigen Khan-
goshvili mit Maschadow, aber auch mit
dem islamistischen Rebellenkommandeur
und Terroristen Schamil Bassajew. Sowohl
Bassajew als auch Maschadow wurden spä-
ter durch russische Kräfte getötet.

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Deutschland

Der Killer aus Russland


KriminalitätDer Mord an einem Exil-Georgier in Berlin war womöglich politisch motiviert.


Die Anzeichen mehren sich, dass Moskau dahintersteckt.


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Mutmaßlicher Mörder Sokolov
Mit falscher Identität ausgestattet
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