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liegen lernen ist nicht schwer – je-
denfalls nicht für jene Menschen,
die sich bei Andrey Krekhov als
Freiwillige melden. Der Informa-
tiker von der Universität Duisburg-Essen
stülpt seinen Probanden eine klobige Bril-
le über, die sie in eine virtuelle Umgebung
versetzt.
Unvermittelt finden sich Krekhovs Ver-
suchspersonen vor einem Spiegel wieder,
aus d em ihnen nicht ihr Ebenbild ent -
gegenblickt, sondern ein bunt gefiederter
Vogel. Dieser ist in einem Käfig gefangen
und hockt, die Flügel hängend, auf einer
Stange. Wenn nun die Probanden die
Arme heben, regen sich die Schwingen
ihres Gegenübers; springen sie hoch, so
sehen sie, wie der Vogel im Spiegel auf
seiner Stange hüpft.
Meist dauert es nicht lange, bis die Pro-
banden, getäuscht durch ihr vermeint -
liches Spiegelbild, in den Körper des
Vogels schlüpfen. Plötzlich ist ihnen, als
wären es ihre eigenen Flügel, die da
schlagen. Immer heftiger rudern die Test-
personen mit ihren Armen, bis sie sich,
eifrig flatternd, plötzlich emporgehoben
fühlen.
Der Spiegel, der unten im Käfig hängt,
ist bald dem Blick entschwunden. Er ist
auch nicht länger vonnöten. Menschen-
hirn und Vogelkörper sind bereits zu ei-
nem Ganzen verschmolzen – vergessen
ist, wie lächerlich den Zuschauern außer-
halb der virtuellen Welt das angestrengte
Gehampel der Arme erscheinen muss.
Die Illusion ist nicht perfekt: Der virtu-
elle Vogel wirkt steif, die Sitzstangen ru-
ckeln durchs Blickfeld, und ein Gefühl
freien Flugs will sich ohnehin nicht einstel-
len – schon deshalb, weil Gitterstäbe den
Raum begrenzen. »Noch stehen wir am
Anfang«, erklärt Krekhov. »Erstaunlich
ist, dass es überhaupt klappt.«
Mittels virtueller Simulation haben der
Forscher und seine Kollegen ihre Pro -
banden schon in Nashörner, Tiger, Fleder-
mäuse und sogar in Spinnen verwandelt.
Viele der Testpersonen gaben zu Protokoll,
dass sie das Gefühl hatten, sich die Glied-
maßen der Tiere tatsächlich mental anzu-
eignen.
Wer allerdings auf berauschende Flug-
erlebnisse hofft, der wird von Krekhovs
Experimenten enttäuscht. Der Schwer-
kraft des menschlichen Körpers könnendie Probanden auch in der virtuellen Welt
nicht entkommen. Entsprechend taugt die
Simulation des Vogelflugs allenfalls dazu,
anschaulich zu vermitteln, wie kräftezeh-
rend das Flügelflattern ist.
Andererseits werfen die Duisburger Ver-
suche ein Rätsel auf, das trivial erscheint
und doch in die Tiefe unseres Selbstver-
ständnisses führt: Was ist »ich«? Warum
sind wir so sicher, dass die Hand, die wir
uns vor Augen führen, wirklich die unsere
ist? Und woher wissen wir, wenn wir in
der U-Bahn auf den Boden schauen, wel-
che von den vielen Füßen da unten zu uns
gehören?
Antworten auf solche Fragen zu finden,
hat sich der schwedische Neurowissen-
schaftler Henrik Ehrsson zur Lebensauf-
gabe gemacht. »Als Kind hatte ich die
verrückte Idee, Gott könnte einen Fehler
gemacht haben«, erzählt er. »Ich glaubte,
er hätte meine Seele versehentlich in den
Körper meines Bruders gepflanzt und
seine in den meinen. Und jetzt, so dachte
ich, lebten wir unsere Leben im falschen
Körper.«
Im »Labor für Hirn, Körper und Selbst«
des renommierten Stockholmer Karolins-WissenschaftWas ist »ich«?
HirnforschungWie fühlt es sich an, ein Vogel zu sein? Und ist es möglich, den eigenen
Körper zu verlassen? Mit faszinierenden Illusionsexperimenten
ergründen Neurowissenschaftler das Geheimnis der Selbstwahrnehmung.88
MARGIT KÖRBEL / DER SPIEGEL
Redakteur Grolle bei Flügelschlagsimulation: Großes Interesse der SpieleindustrieDER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019