Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

38 FEUILLETON Mittwoch, 21. August 2019


Da hilft nur bürger liche Tugend

Helmuth Plessner kämpfte gegen jedeFormvonRadikalismus. Sein Werk ist ein Plädoyer für die Freiheit


CHRISTIAN MARTY


Alle weltgeschichtlichenTatsachen ereig-
nensich zweimal: das eine Mal alsTr agö-
die, das andere Mal alsFarce – sagt Karl
Marx. Ob er mit dieser Spekulation rich-
tig liegt? Zumindest in Anbetracht einer
wiederaktuellen Entwicklung derKul-
turgeschichte mag man ihmrecht ge-
ben. Es ist eineTr agödie darüber, wie
zerstörerisch einige Gemeinschaftskulte
im 20.Jahrhundert gewirkthaben. Ob in
faschistisch-nationalem, in sozialistisch-
internationalem oder in fundamentalis-
tisch-religiösem Gewand: Gemeinschaf-
ten, die im Namen angeblichreiner Ideale
die angeblich verdorbene Gesellschaft
transformieren wollten, zogen meist eine
Spur derVerwüstung nach sich.
Und es ist eineFarce,wie verbis-
sen gewisse Gemeinschaftskulte zu Be-
ginn des 21.Jahrhunderts auftreten. Ob
in identitätspolitischem, in chauvinisti-
schem oder in schwärmerisch-eschato-
logischem Kleid: Gemeinschaften, die
im Zeichen vermeintlich wahrsterWerte
die vermeintlich verlogene Gesellschaft
umkrempeln möchten, tragen oft eine
Menge anRessentiment mit sich.
Es ist dieser Kontinuität des Ge-
meinschaftspathos geschuldet, dass
eine Schrift, die vor rund 100Jahren ge-
schrieben worden ist, nach wie vor von
grosser Aktualität ist: «Grenzen der
Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen
Radikalismus». Der Biologe, Philosoph
und Soziologe Helmuth Plessner(1892–
1985) hat dieseimJahr1924 vorgelegt,


um allen «Formen deskommunistischen
Ethos» ein «individualistisches Ethos»
entgegenzuhalten.

Der Wert derDistanz


In Zeiten, in denen die Gesellschaft er-
neut von Gemeinschaften unterschied-
lichster Couleur attackiert wird, isteine
Wiederaufnahme der plessnerschen
Schrift wohl angebracht.Worum geht es
in dieser Schrift? ImKern liefert Hel-
muth Plessner damit– diesim Anschluss
an die tönniessche Unterscheidung zwi-
schen «Gemeinschaft» und «Gesell-
schaft» – zweierlei: einerseits eine beis-
sende Kritik am Gemeinschaftsethos,
andererseits ein brillantes Plädoyer für
das Gesellschaftsethos. In stilistisch ful-
minanter Art undWeise bietet er so-
wohl in analytischer als auch in norma-
tiver Hinsicht eine liberale, dieFreiheit
des Individuums in den Mittelpunkt stel-
lende Sozialphilosophie.
Der zentrale Teil des Argumen-
tationsgangs liegt beim Begriff der
Distanz. Im Gegensatz zur Gesellschaft
gehe es in der Gemeinschaft primär
darum, den Einzelnen ansKollektiv zu
binden,bekundetPlessner nicht nur mit
Sicht aufrechtsgerichtete «Bluts-», son-
dernauch auf linksgerichtete«Sach-
gemeinschaften»:Weil Gemeinschaf-
ten sich dadurch charakterisierten, dass
sie die Distanzen zwischen den Indivi-
duen klein hielten, liessen sie diesen we-
nig Entwicklungsräume. Das sei in Ge-
sellschaften anders, denn da bleibe die

Distanz zwischen den Individuen gross,
wodurch es für jene viel Spielräume
gebe. In Gemeinschaften gewinne man
zwar Geborgenheit, verliere dafür aber
Individualität. In Gesellschaften leide
man zwar unter Entfremdung, erfreue
sich dafür jedoch anFreiheit.
Nun ist der Gelehrte keineswegs
der engstirnigen Ansicht,dass Gemein-
schaftengrundsätzlich auf den Scheiter-
haufen der Geschichte gehören. Familie,
Partnerschaft,Freundschaft, sie sind sei-
nerAuffassung nach wichtig.Allein die
umfassende, jeden Bewegungsraum er-
stickende Gemeinschaft, «die bald völ-
kisch, bald international getönteVerklä-
rung der Schrankenlosigkeit imMitei-
nander» – das ist es, was er aus libera-
lerWarte kritisiert:«Esgeht nicht gegen
das Recht der Lebensgemeinschaft,
ihrenAdel und ihre Schönheit. Aber es
geht gegen ihre Proklamation als aus-
schliesslich menschenwürdigeForm des
Zusammenlebens; nicht gegen die com-
munio, wohl aber gegen die communio
als Prinzip, gegen den Kommunismus als
Lebensgesinnung, gegen denRadikalis-
mus der Gemeinschaft.»

Ein Aussenseiter


Als Plessner seine «Kritik des sozialen
Radikalismus» veröffentlichte, um dem
IndividuumFreiheitsräume zu sichern
beziehungsweise um der Gemeinschaft
Grenzen zu ziehen, erhielt er zunächst
einigen Zuspruch – so beispielsweise von
Siegfried Kracauer, dem Starfeuilleto-

nisten jenerJahre. Bloss: Zuspruch war
nicht dieRegel. Im Allgemeinen blieb
Plessner – sozusagen im Einklang mit
seinerindividualistischen Philosophie –
kaum beachtet,einAussenseiter, der zu-
dem während der1930erJahre aufgrund
seinerjüdischen Herkunft zurAusreise
nach Holland gedrängt worden ist.
Dieser Umstand sagt weniger über
dasWerk als über dieWeimarerRepu-
blik aus. Die geistige Situation dieser ver-
hängnisvollen Zeit ist nicht zuletzt durch
eine Mixtur aus nationalistischen, sozia-
listischen undkonservativen Ideen ge-
prägt – ein so freiheitsliebendes, so anti-
totalitäres Ethos wie jenes des Quer-
kopfes Plessner hat es da schwer. Um
mit dem Ideenhistoriker Christian Graf
von Krokow zu sprechen: «Zu wenig
Zunftgeist, zu viel anWeltbürgertum,
zu viel Bildung und zu viel Liberalität.
Und eben damit das Schicksal (...), unter
Deutschen kaum opportun zu sein.»
Und heute?Viel geändert hat sich
nicht an derRezeption dieses unge-
wöhnlichen Menschen.Wen wundert’s:
In einerWelt,in der«Volksgemein-
schaften»,«Wertegemeinschaften» –
und andere Gemeinschaften mehr auf
geradezu penetranteWeise versuchen,
ihren Maximen Geltung zu verschaffen,
kann jemand, der zurRücksicht mahnt,
höchstens ein Zaungast sein. Nicht zu-
le tzt in Deutschland, wo Intellektuelle
es seit je verstehen, den Untertanengeist
transzendentalphilosophisch zu adeln,
tut man sich schwer mit einer ange-
messenenWürdigung des Liberalen. Im
Deutschen ist «Liberalismus» anschei-
nend nicht nur im übertragenen Sinn ein
Fremdwort.

Die Hygiene desTaktes


Durch diese Marginalisierung ge-
rät einer der originellsten Denker des
20.Jahrhunderts aus dem Blick, obwohl
seine Stimme gerade heute wertvoll
wäre. DennPlessner versteht es wie kein
Zweiter, aufzuzeigen, woraus ein huma-
nes, tolerantes, grossmütiges Leben be-
steht. In diesem Sinn stellt er dem sozia-
lenRadikalismus eine stolze Gelassen-
heit gegenüber: Plessnerist der grosse
Verkünder der Zivilisiertheit, einer
Tugend, die der Bürgerlichkeit angehört,
die umso mehr in Erinnerung gerufen
werden müsste, als sie fast vergessen ist.
Das plessnerschePathos ist nirgends
so gut fassbar wie im vorletzten Kapi-
tel der Grenzschrift, dem wohl besten
Abschnitt aus seinerFeder überhaupt,
der mit «Die Logik der Diplomatie. Die
Hygiene desTaktes» überschrieben ist.
Das Kapitel bietet in pointierterForm
dasCredo desAutors, einRésumé seiner
Weltanschauung – und liest sichals zeit-
los gültigeAufforderung zu einem zivili-
si erten Leben:«Takt ist die Bereitschaft
(. ..), andere zu sehen und sich selber
dabei aus dem Blickfeld auszuschalten,
andere nachihrem Massstab und nicht
nach dem eigenen zu messen.Takt ist
der ewig wacheRespekt vor der ande-
ren Seele und damit die erste und letzte
Tugend des menschlichen Herzens.»
Kann man es schöner sagen?Freilich
verbietet es sich dem Liberalen, ande-
ren vorzuschreiben, auf welcheWeise
sie liberal zu werden hätten. EineVer-
haltenslehre wie die plessnersche be-
ruht aufVoraussetzungen, die sie selber
nicht garantieren kann – genau da liegt
die entscheidende«Grenze» des klassi-
schen Liberalismus.Was sich hingegen
tun lässt: Mankann denjenigen,die sich
selbst nie aus dem Blickfeld ausschalten,
die andere permanent am jeweils eige-
nen Massstab messen, die Distanz weder
gegenüber sich noch gegenüber anderen
besitzen und deren Lebensführung also
wenig gemein hat mit einem taktvollen
Verhalten – man kann diesen Menschen
vorAugen führen, was sie sich eigentlich
erlauben.Vielleicht ist der zurzeit so oft
auftretende Mangel «anRespekt vor der
anderen Seele»keineTr agödie. Sicher-
lich aber ist dieser Mangel – eineFarce.

ChristianMartyist Ideenhis toriker, Journalist
und Unternehmer. Soeben ist im Beltz-Verlag
sein Buch «Max Weber. Ein Denker der Frei-
heit » erschienen.

DerSozialphilosoph HelmuthPlessner gehört zu den profiliertestenVertretern einesliber alen Humanismus. HORSTTAPPE / KEYSTONE


Wie man


den Raum hört


Marco Arturo Marelli zum
70.Geburtstag

MARIANNE ZELGER-VOGT

Es war die erste Spielzeit der Intendanz
vonAugust Everding an der Hamburgi-
schen Staatsoper. GötzFriedrich hiess
der neue Oberspielleiter, John Neu-
meier der neue Ballettdirektor,Toni
Businger der Erste Bühnenbildner. In
solch illustremTeam begann1973 die
Laufbahn einesTheaterkünstlers, des-
sen klangvoller Name in der Opernwelt
baldzueinem Gütesiegel werden sollte:
Marco ArturoMarelli.
Everding hatte den damals gerade
24 Jahre alten Schweizer als Assisten-
ten von dessenLandsmann Businger
ausWien nach Hamburggeholt. Schon
in derersten Saison durfte der Absol-
vent der ZürcherKunstgewerbeschule
für ein Neumeier-Ballettdas Bühnen-
bild kreieren, die erste von vielen Arbei-
ten für die Hamburger Oper. Die interna-
tionale Bühne betrat er1976 alsAusstat-
ter einer «Lohengrin»-Inszenierung von
Everding im antikenTheater von Orange.
Inseinem Curriculum sindauch Hagen,
Mannheim, Bremen, Nürnberg, Darm-
stadt und Mainz vermerkt. Doch fast von
Anfanganwar er an den erstenAdres-
sen gefragt, und darausresultierte die Zu-
sammenarbeit mit massgeblichenRegis-
seuren wieKurt Horres,Alfred Kirchner,
Hans Neugebauer und HarryKupfer.

Kleine undgrosse Bühnen


1983 debütierte er dann in Hamburg mit
Johann ChristianBachs «Amadis» sel-
ber alsRegisseur. DiePersonalunion
vonRegisseur undAusstatter – seit
1986 imVerein mit derKostümbildnerin
Dagmar Niefind, seiner Ehefrau–sollte
fortan wie bei Marellis älterenKollegen
Ponnelle, Freyer, Rose undWernickezur
Norm werden.
Das Verzeichnis seinerArbeiten,für
dieJahre1984 bis 2010 dokumentiert in
dem Bildband «Ich höre denRaum», liest
sich wie einFührer durch das Opern-
repertoire. Kaum eine Epoche, Stilrich-
tung oder Gattung zwischen Händel und
den Zeitgenossen Neikrug («Through
Roses» in Hamburg), von Bose («Die
Leiden des jungenWerthers» in Schwet-
zingen und Hamburg), Pintscher («Tho-
mas Chatterton» in Dresden) undRei-
mann («Medea» inWien), mit der sich
Marelli nicht auseinandergesetzthat. Die
Dimensionen der Bregenzer Seebühne
hatte er 20 15 bei Puccinis«Turandot»
ebenso im Griff, wie er auf kleine Büh-
nenWeite und Prunk zaubernkonnte.
Marellis bildnerische Phantasie
scheint unerschöpflich zu sein, doch sie
unterliegt stets derKontrolle eines dra-
maturgischen Denkens.Allein schon die
fünf Produktionen, die er während der
ÄraPereira für das Zürcher Opernhaus
geschaffen hat, zeugen von derBand-
breite seiner souverän zwischen Phantas-
tik und Abstraktion, zwischen Bewegt-
heit und Statik fluktuierenden, dabei
stets werkbezogenen Ästhetik: Ligetis
«Grand Macabre», Schuberts«DesTeu-
felsLustschloss»,Verdis «Simon Bocca-
negra», Massenets«Werther» und Mar-
tins «Le vin herbé». Die Mezzosopranis-
tinVesselina Kasarova, die in«Werther»
die Charlotte verkörperte, erinnert sich
noch gut an die Zusammenarbeit: «Er
war perfekt vorbereitet, kannte dasWerk
à fond, wusste genau, was er wollte, ein
Profi und Ästhet, der mit uns Sängern
intensivgearbeitet hat.»

Inspirationsquelle Musik


Gemeinsam ist Marellis Inszenierun-
gen, bei aller stilistischenBandbreite,
ihre ausgeprägte Stimmungshaftigkeit
und Lesbarkeit. Die Psychologie der
handelndenPersonen steht weniger im
Fokus seines Interesses, seine Inspira-
tionsquelle ist die Musik, die Bühne ver-
steht er primär als Klangraum.
Diese Gewichtung macht seine Arbei-
ten auch bei wechselnden Besetzungen
wertbeständig undrepertoiretauglich. So
wirdMarco Arturo Marelli hoffentlich
noch lange über den 70. Geburtstag hin-
aus, den er an diesem Mittwoch begeht,
mit bestehenden und neuen Schöpfungen
auf den Opernbühnen präsent bleiben.
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