er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

wirbt. Seine Produkte sind dreimal so teu-
er wie herkömmliches Schweinefleisch.


Die verhaltene Politik

In Deutschland leben 27 Millionen Schwei-
ne, 12 Millionen Rinder und 160 Millionen
Hühner, die übergroße Mehrzahl in Mas-
sentierhaltungsbetrieben. Es gibt mehr
Nutztiere als Menschen. Politiker haben
das Thema entdeckt, appellieren an den
Verbraucher, diskutieren über das Tier-
wohl oder fordern eine höhere Mehrwert-
steuer auf Fleisch. Doch ihre Entscheidun-
gen sind bisher kosmetischer Natur; ein
umfassender Gestaltungswille fehlt.
An dem Tierwohl-Label, das Landwirt-
schaftsministerin Klöckner vorgestellt hat,
sollen sich Bauern freiwillig beteiligen.
Nur wer Verbesserungen von der Zucht
über die Haltung bis zur Schlachtung nach-
weisen kann, darf es seinen Produkten
anheften. Viele Landwirte können es sich
allerdings kaum leisten, teure Umbauten
vorzunehmen oder weniger Tiere einzu-
stellen. Gerade die schlechtesten werden
es nicht tun. So lässt sich das System nicht
grundlegend verändern. Ebenso wenig ge-
nügt die pauschale Forderung von SPD-
und Grünenpolitikern nach einer höheren
Mehrwertsteuer auf Fleisch. Zwar kostet
artgerechte Tierhaltung Geld, aber die zu-
sätzlichen Einnahmen kämen dem Staat
zugute und nicht den Bauern.
»Durch eine Erhöhung der Mehrwert-
steuer wird aus dem armen Schwein noch
keine glückliche Sau«, sagt Renate Künast,
bei den Grünen zuständig für Tierethik. Sie
fordert stattdessen eine Verschärfung des
Tierschutzgesetzes. Auch die Institu tion
eines Tieranwalts fände sie sinnvoll. »Der
Stall darf kein rechtsfreier Raum sein«, sagt
sie. »Agrarkriminalität ist ein massiv unter-
schätzter Bereich der Strafverfolgung.«
Tierschützer wünschen sich zudem eine
zentrale und transparente Tiergesundheits-
datenbank, damit Amtstierärzte wissen, wo
sie hinsehen müssen. Landwirte sollen eine
verpflichtende Aus- und Weiterbildung
durchlaufen, die neueste wissenschaftliche
Erkenntnisse einbezieht. »Es muss außer-
dem einen Tier-Mensch-Betreuungsschlüs-
sel geben«, fordert Thomas Blaha, langjäh-
riger Vorsitzender der Tierärztlichen Ver-
einigung für Tierschutz. Eines aber ist klar:
Ein bewussterer Umgang mit dem Wohl -
befinden von Nutztieren hätte unweigerlich
zur Folge, dass weniger Fleisch gegessen
und dafür mehr bezahlt werden müsste.
Ein Rewe-Supermarkt in Berlin: Im
Kühlregal liegen in Plastikfolie einge-
schweißte Fleischstücke. 100 Gramm
Schweinenackensteak kosten 50 Cent. In
der Gefriertruhe bei Netto findet sich im
Angebot eine Großpackung Hähnchen-
keulen. 1 Kilo für 1,24 Euro.


B


ilal M. sitzt im Rollstuhl. Eine Kugel
hat ihn in den Bauch getroffen, zum
Laufen oder Stehen ist er noch zu
schwach, das Atmen fällt ihm schwer. Eine
weitere Kugel hat ihn am Kopf gestreift,
die Wunde ist kaum erkennbar unter den
schwarzen Locken.
Ob der 26-jährige Eritreer jemals wie-
der ganz gesund wird, kann noch niemand
sagen. Mit Sicherheit ist er nicht mehr der-
selbe, seit jenem Montag vor zwei Wo-
chen, als ihn der 55 Jahre alte Hartz-IV-
Empfänger Roland K. im hessischen Wäch-
tersbach niederschoss.
Der Täter nahm sich einige Stunden
nach der Tat das Leben. Im Anschluss
wurde viel über sein Motiv gemutmaßt.
Gelegentlich reißen Selbstmörder andere
Menschen mit in den Tod, aber das sind
oft ihre Partner oder Kinder. Im Fall von
Roland K. spricht einiges dafür, dass er
schon länger suizidgefährdet war und
sein Opfer aus rassistischen Gründen aus-
wählte.
Über Bilal M. erfuhr man derweil nur
wenig. Das ist nicht ungewöhnlich, die
Opfer von Straftaten, ob politisch moti-
viert oder nicht, geraten schnell aus dem
Fokus.
Es ist aber interessant zu erfahren, wie
es jemandem geht, der nach Deutschland
kam, weil er dachte, es sei ein besseres,

sicheres Land – und der dann von einem
fremden Deutschen angeschossen wird.
Bilal M. spricht im SPIEGELzum ersten
Mal über das, was geschehen ist. Beim
Gespräch im Krankenhaus, acht Tage nach
der Tat, ist M. nicht allein. Sein älterer
Bruder ist aus Schweden angereist. Seine
Frau ist wie jeden Tag zu Besuch. Ein deut-
scher Bekannter aus Wächtersbach hat die
20-Jährige regelmäßig zum Krankenhaus
und zurück gefahren. Ein Freund der Fa-
milie übersetzt aus dem Tigrinischen, einer
der Hauptsprachen in Eritrea. Keiner der
Anwesenden will namentlich genannt
oder fotografiert werden. Sie haben Angst,
sie könnten zur Zielscheibe für Nach -
ahmer des Täters werden.
M.s Frau fürchtet sich vor allem vor dem
Bruder des Attentäters: »Vielleicht will er
das Werk seines Bruders vollenden.« Zwei
Tage nach der Tat hatten Einsatzkräfte die
Wohnung des Bruders durchsucht.
Der deutsche Bekannte verweist auf
den am 2. Juni ermordeten Regierungsprä-
sidenten Walter Lübcke. »Nach Kassel ist
man vorsichtiger.« Es ist ihm lieber, wenn
nicht jeder nachlesen kann, dass er sich
für Flüchtlinge einsetzt.
Bilal M. kam Ende 2012 nach Deutsch-
land, nachdem er sich nach eigenen An -
gaben jahrelang vor dem Militärdienst
versteckt hatte, der in dem kleinen Land

32 DER SPIEGEL Nr.33 / 10. 8. 2019


Deutschland

»Mit letzter Kraft«


RassismusBilal M. wurde Ende Juli in Wächtersbach von einem
offenbar fremdenfeindlichen Täter niedergeschossen.
Nun erzählt der Eritreer erstmals, wie er die Tat erlebte.

KAI PFAFFENBACH / REUTERS
Markierungen am Tatort: »Ich dachte, da ist irgendwo ein Autoreifen geplatzt«
Free download pdf