ist das noch nicht. Aber als wir die Litera-
tur durchforsteten, fanden wir eine bahn-
brechende Arbeit japanischer Kollegen.
Die hatten Mäuse untersucht, die in einer
sterilen Umgebung aufgezogen wurden
und deren Darm folglich keimfrei war. Es
zeigte sich, dass diese Tiere extrem stress-
empfindlich waren. Das heißt: Wir hatten
gezeigt, dass Stress auf das Mikrobiom ein-
wirkt; sie hatten gezeigt, dass das Mikro-
biom auf die Stressreaktion einwirkt. Das
sieht doch sehr nach einer realen Wechsel-
wirkung aus, finden Sie nicht?
SPIEGEL:Und worin besteht diese Wech-
selwirkung? Wie erfahren die Mikroben
im Darm, dass das Gehirn da oben ge-
stresst ist?
Cryan:Das war der nächste Schritt für uns.
Wir haben den Vagusnerv der Tiere durch-
trennt, der vom Gehirn in die Peripherie,
auch bis zum Darm, führt. Und tatsächlich
konnten wir damit die Kommunikation
unterbrechen. Dieser Nerv ist also die Ver-
bindung, über die sich Hirn und Mikro-
biom miteinander austauschen.
SPIEGEL:Das Wechselspiel von Nerven-,
Immun- und Hormonsystem untersuchen
Forscher schon seit vielen Jahrzehnten.
Warum ist so lange übersehen worden,
dass sich auch die Mikroben einmischen?
Cryan:Wie so oft waren auch hier neue
Technologien die Triebfeder der Erkennt-
nis. Vor 20 Jahren fehlten uns schlicht die
Möglichkeiten, das Mikrobiom zu erfas-
sen. Wir haben das Wirken der Bakterien
nur im Fall pathologischer Infektionen
wahrgenommen – und das Wirken des Im-
munsystems nur, wenn eine entzündliche
Reaktion aus dem Ruder lief. Erst jetzt ver-
fügen wir über die technischen Mittel,
auch die alltägliche, nicht pathologische
Kommunikation zu studieren.
SPIEGEL:Sie haben den Begriff »Psycho-
biotika« geprägt. Was soll er ausdrücken?
Cryan:Die Bedeutung dieses Begriffs hat
sich im Laufe der letzten paar Jahre ge-
wandelt. Inzwischen verstehen wir darun-
ter jede Art von Eingriff ins Mikrobiom,
die unserer seelischen Gesundheit förder-
lich ist. Wir wollten damit das gängige Kon-
zept der Psychopharmaka infrage stellen.
Die Wissenschaft von den Psychobiotika
will anregen, neu über unsere seelische Ge-
sundheit nachzudenken. Auf eine Weise,
bei der es auch um Ernährung und andere
Umwelteinflüsse geht.
SPIEGEL:Haben Sie das Gefühl, dass die-
ser Gedanke innerhalb der Wissenschaft
auf Zustimmung trifft?
Cryan:Es gibt viel Skepsis, und das ist
auch gut so. Denn die Skepsis spornt uns
an. Tatsächlich haben wir große Fortschrit-
te gemacht. Heute gibt es auf jeder größe-
ren Tagung der Neurowissenschaften eine
Sitzung über das Mikrobiom. Vor zehn
Jahren wäre das undenkbar gewesen.
SPIEGEL:Worum geht es dann auf solchen
Sitzungen?
Cryan:Vor allem um Ernährung. Das ist
ein Thema, das innerhalb der Psychiatrie
rapide an Bedeutung gewinnt. Je nachdem,
was wir essen, florieren andere Bakterien
in unserem Darm. Und die senden dann
andere Botschaften ans Gehirn.
SPIEGEL:Wie spezifisch sind denn solche
Botschaften? In Ihrem Buch behaupten
Sie, Darmbakterien könnten sogar ganz
konkret oben im Hirn Pizza bestellen ...
Cryan:... was mir gar nicht so abwegig er-
scheint. Wir haben zeigen können, dass
das Gehirn in fast jeder Hinsicht von Ver-
änderungen des Mikrobioms beeinflusst
wird: Ob Sie die elektrische Isolation der
Nervenfasern, die Geburt neuer Neuronen
oder die Verzweigung der Nervenzellen
betrachten – alles wird von Mikroben mit-
reguliert. Sie wirken darauf ein, wie das
Gehirn wächst, wie es sich entwickelt und
wie es altert. Es gibt nur sehr wenige Be-
reiche der Neurowissenschaft, in denen
sich keine Einflüsse des Mikrobioms nach-
weisen lassen. Was nun unsere Präferen-
zen beim Essen betrifft, gibt es keinen
Grund, davon auszugehen, dass sie un-
empfänglich für die Signale sind, die von
den Mikroben ausgesandt werden.
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GERARD MCCARTHY
Stressforscher Cryan: »Die Bakterien waren zuerst da, wir kamen erst viel später«