Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

nissen auf SPD-Parteitagen. Es geht vor
allem um die Vorzeichen, unter denen
diese Vorsitzendenwahl eigentlich stehen
sollte: Alles würde nun neu, so hofften vie-
le nach Nahles’ Abgang, ganz anders, ir-
gendwie besser. Es roch nach Revolution.
Die üblichen Gesetzmäßigkeiten der so-
zialdemokratischen Erbfolge schienen au-
ßer Kraft zu sein, plötzlich war fast alles
denkbar. Und nun tritt ein Mann auf den
Plan, der das Partei-Establishment wie
kaum ein Zweiter verkörpert, der für den
Status quo steht, nicht für Revolution.
Kann das klappen? Hat er eine Chance?
Und warum glaubt er offensichtlich daran?
Dass Scholz sich nun dem Urteil seiner
Partei stellt, ist erstaunlich, wenn man sich
seine Karriere anschaut. Darin gab es zwar
spektakuläre Höhepunkte, etwa 2011, als
er für die SPD die absolute Mehrheit in
Hamburg eroberte. Doch wenn es um
neue Positionen und Herausforderungen
ging, ließ Scholz sich immer rufen. Er kam
dann, wenn klar war, dass er und nur er es
machen sollte. Den offenen Wettbewerb
hat er zumindest innerparteilich bislang
nie gesucht.
Nun tut er es doch. Wie kam es dazu?
Zunächst deutete nichts darauf hin, dass
er mit Nahles’ Nachfolge irgendetwas zu
tun haben könnte. Scholz war klar, dass
nach dem Rücktritt seiner Vertrauten oh-
nehin niemand auf ihn wartete. Und so
nahm sich der Finanzminister noch am
Abend von Nahles’ Rückzug als erster pro-
minenter Sozialdemokrat aus dem Spiel.
»Es wäre völlig unangemessen, wenn
ich das als Vizekanzler und Bundesminis-
ter der Finanzen machen würde. Zeitlich
geht das gar nicht«, sagte er in der Sen-
dung von Anne Will. »Ich habe jedenfalls
diese Variante für mich sofort ausge -
schlossen.« Will fragte nach: »Sie wollen
nicht SPD-Vorsitzender werden?« Darauf
Scholz: »Nein.« Als Bundesfinanzminister
sei das »nicht zeitlich zu schaffen«.
Zu diesem Zeitpunkt ging man in
Scholz’ Team davon aus, dass eine Nach-
folgerin längst bereitstünde: Manuela
Schwesig, Ministerpräsidentin in Mecklen-
burg-Vorpommern. Die ist zwar schon
genauso lang stellvertretende Parteivorsit-
zende wie Scholz, nämlich seit 2009, stün-
de aber mit ihren 45 Jahren eher für Auf-
bruch und Veränderung als Scholz, 61.
Doch dann passierten kuriose Dinge.
Die Sozialdemokraten machten Schwesig,
die rheinland-pfälzische Ministerpräsiden-
tin Dreyer und den Hessen Schäfer-Güm-
bel zu ihren Interimsvorsitzenden – und
alle drei stellten quasi als erste Amtshand-
lung klar, keinesfalls für den Chefposten
kandidieren zu wollen. Damit war Schwe-
sig ebenfalls aus dem Rennen.
Überhaupt schien niemand aus der ers-
ten Reihe zu wollen, von den Parteivizes
kam kaum noch jemand infrage, Minister


winkten ab. Es wirkte, als wäre der SPD-
Vorsitz keine Ehre, sondern eine Strafe.
Spätestens an diesem Punkt richteten
sich die Blicke nach Niedersachsen. Der
dortige SPD-Landesverband ist von jeher
einer der mächtigsten, er hat Politiker wie
Gerhard Schröder, Peter Struck und Sig-
mar Gabriel hervorgebracht.
Und tatsächlich, so sah es aus, tummel-
ten sich auch diesmal die einzig wirklich
Ambitionierten in Niedersachsen. Gene-
ralsekretär Lars Klingbeil ließ durchbli-
cken, dass er Interesse am Chefposten
habe. Und Niedersachsens Innenminister
Boris Pistorius lotete im Hintergrund seine

Chancen aus, als Partnerin hatte er sich
Petra Köpping ausgeguckt, sächsische In-
tegrationsministerin. Auch Arbeitsminis-
ter Hubertus Heil, ebenfalls Niedersachse,
führte Gespräche mit potenziellen Mit-
streiterinnen.
Das Problem: Sie alle wollten Stephan
Weil nicht vorgreifen, dem Ministerpräsi-
denten und SPD-Chef in Niedersachsen.
Sollte er für den Bundesvorsitz kandidie-
ren, so die interne Losung, würde kein an-
derer Niedersachse gegen ihn antreten.
Doch Weil zögerte, wochenlang. Mal
hieß es, er überlege, mal, er sei raus, dann
wieder verschwand er mit mehrdeutigen
Botschaften in den Urlaub. Zwischenzeit-
lich wirkte es, als wollte er Klingbeil un-

terstützen. Tatsächlich war Weil zwischen-
durch in Gesprächen mit Familienministe-
rin Franziska Giffey. In ihr sahen viele die
weibliche Idealbesetzung für den Vorsitz –
wäre da nicht die offene Frage, ob die Freie
Universität Berlin ihr nun den Doktortitel
aberkennt oder nicht. Doch auch Giffey
wird nicht antreten. Ende dieser Woche
teilte sie das der SPD-Spitze sogar schrift-
lich mit.
All das führte dazu, dass sich die erste
Reihe der Partei selbst blockierte. Zwi-
schendurch trat ein Kandidatenpärchen
nach dem anderen auf den Plan: Michael
Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt,

gemeinsam mit der nordrhein-westfä -
lischen Landtagsabgeordneten Christina
Kampmann. Die Umweltpolitikerin Nina
Scheer mit dem Gesundheitsexperten Karl
Lauterbach. Mit jeder dieser Paarungen
wuchs der Druck auf die Kabinettsmitglie-
der, auf Heil, Scholz, Maas.
Und so richteten sich die Blicke wieder
auf den Mann, der seit Wochen in seinem
Ministerium saß, Finanzpolitik machte
und dem Treiben vermeintlich aus der Fer-
ne zuschaute. Aus Scholz, dem Auslauf-
modell, war durch die verkorkste Bewer-
bersuche plötzlich ein begehrter Kandidat
geworden, der sich vor SMS und Anrufen
kaum retten konnte – zumal Maas intern
als Leichtgewicht gilt.

20 DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019


Deutschland

Karussell
der Kandidaten
Bisherige Bewerber
für den SPD-Parteivorsitz

Karl Lauterbach, 56
Vize-Fraktionschef,
Gesundheitsexperte

Nina Scheer, 47
Bundestags-
abgeordnete,
Umweltpolitikerin

Gesine Schwan, 76
Ex-Universitätspräsidentin,
frühere Präsidentschafts-
kandidatin

Christina
Kampmann, 39
Ex-Familienministerin NRW,
Landtagsabgeordnete

Michael Roth, 48
Staatsminister im Auswärtigen
Amt, Bundestagsabgeordneter

Simone Lange, 42
Flensburger Ober-
bürgermeisterin

Alexander Ahrens, 53
Oberbürgermeister
von Bautzen

Robert Maier, 39
Vizepräsident des SPD-
Wirtschaftsforums

Hans Wallow, 79
Ehemaliger Bundestags-
abgeordneter

Ralf Stegner, 59
stellvertretender
Parteichef

Weiterer Bewerber: Björn Kamlah, 44,
Parteimitglied seit 2017

EVELIN FRERK / DPA; MONIKA SKOLIMOWSKA / DPA; KAY NIETFELD / DPA; WOLFGANG KUMM / DPA; REINER ZENSEN; CARSTEN REHDER / DPA; MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL
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