54 Literatur WOCHENENDE 23./24./25. AUGUST 2019, NR. 162
Selbstkritiker
Middelhoff:
„Ich surfte um
die Welt und war
nicht wirklich
irgendwo.“
Von Hans-Jürgen Jakobs Hamburg
W
er ist Thomas Middelhoff
heute? Der Mann, der als
Chef von Bertelsmann das
Internet nach Deutschland
brachte und bei Karstadt-
Quelle (Arcandor) scheiterte. Der in Deutsch-
land zum Symbol für unsympathischen Turbo-
kapitalismus wurde. Der 2014 hart bestraft wur-
de mit mehrjähriger Haft wegen Untreue und
Steuerhinterziehung und jetzt sein zweites Buch
schrieb, „Schuldig – Vom Scheitern und Wieder-
aufstehen“. Er selbst hat sich auf einer Presse-
konferenz, mit Lächeln, als „Ex-Manager, Ex-
Häftling und versuchsweise Autor“ vorgestellt.
Wer Middelhoff 2019 aber wirklich verste-
hen will, muss über Scheitern, Schreiben und
Glauben reden. In der „Schmökerstube“ im
25hours-Hotel, Hafen-City in Hamburg, will er
zunächst über Versagen sprechen.
I. Scheitern
Damit ist es so eine Sache. Ein „Tabuthema“
sei das, schreibt Middelhoff, damit sei oft
„Stigmatisierung“ verbunden. Andererseits ist
es ein Modethema. Wer als toller, kreativer
Unternehmer gelten will, muss mindestens
einmal gescheitert sein. Auf „Fuck-up-Nights“
zelebrieren Protagonisten ihr Teilzeit-Un-
glück. Middelhoff hat bei einem dieser Events
in Frankfurt festgestellt, dass seine Vorredner
Scheitern so darstellten, als sei das vom Him-
mel gefallen: „Nicht ich, sondern die anderen
waren schuld, heißt es oft. Ich war zwar im
Gefängnis, aber ich bin unschuldig. Das waren
die Anwälte. Es gibt immer eine Relativierung
der eigenen Schuld.“
Relativieren will Middelhoff nichts mehr.
Deshalb hat er das Buch geschrieben. Es ist
ein Striptease auf 287 Seiten, was es sicherlich
besonders macht, ganz nach der inneren Li-
nie: je ehrlicher, desto selbsttherapeutischer.
Je radikaler, desto befreiender. Er sei im Le-
ben „x-mal gescheitert“, sagt der Autor, etwa
in der Jahrgangsstufe 10 nicht versetzt wor-
den. Der Trend der Lebensentwicklung aber
habe weiter angehalten – bis er im November
2014, bei der Verhaftung im Gerichtssaal, auf
vielen Ebenen des Lebens fallierte. Wirtschaft-
lich (Privatinsolvenz), gesellschaftlich (Straftä-
ter), gesundheitlich (Autoimmunkrankheit),
familiär, insgesamt in der Reputation. Middel-
hoff: „Nichts vorher hat mich aufschrecken
lassen. Ich habe versucht, Dinge zu verdrän-
gen und durch einen überproportionalen Ar-
beitseinsatz vor mir selbst wegzulaufen – seit
den Anfangsjahren bei Bertelsmann.“
Die 17 Jahre im Gütersloher Medienkonzern
haben ihn geprägt. Die Vorwürfe der Ehefrau
über die permanente Arbeitsbelastung habe
er abgewehrt „mit der großen Verantwortung
und der Aufgabe, die ich habe. Ich war vollge-
füllt mit Aktivitäten.“ Das bedeutete Reisen,
Fahrer, Hubschrauber, Privatjet – eine abge-
schottete Welt, zu der die Gremien und der
Konferenz-Bullshit eines Konzerns gehören.
Akribisch, fast akademisch erklärt der gläu-
bige Katholik Middelhoff im „Schuldig“-Buch,
wie er gegen alle Todsünden der katholischen
Lehre verstieß. Er hätte versuchen sollen, „zu
meinen Werten zu stehen, auch wenn mich
das einen Karriereschritt gekostet hätte“, sagt
er: „Die Charaktereigenschaften entscheiden,
Vom gefeierten Topmanager zum Straftäter, vom
Wirtschaftsvertreter zum Wirtschaftskritiker, vom Saulus zum Paulus:
Das ist die Geschichte von Thomas Middelhoff.
„Vom Himmel zur Hölle
- und zurück“
dass man da bleibt, wo man ist. Meine haben
sich in die falsche Richtung entwickelt. Das
hat mir das Genick gebrochen.“ Dass er mora-
lisch im Hause Bertelsmann scheiterte, das
auf Ethik Wert legt, ist eine besondere Pointe.
„Heute sehe ich es sehr kritisch, wenn Firmen
ihre Unternehmenskultur so herausstellen“,
sagt Middelhoff. „Da werden oft Dinge hervor-
getragen, die nicht gelebt werden. Häufig wer-
den Wahrheiten verbogen.“
Gegen welche der katholischen Todsünden
haben Sie am meisten verstoßen?
Gegen die Unfähigkeit, im Augenblick zu le-
ben. Ich surfte um die Welt und war nicht
wirklich irgendwo. Und ich war maßlos. Das
würde ich in einem Atemzug nennen mit Stolz
und Hochmut. Meine berufliche Entwicklung
führte zu immer weniger Demut.
Zu welchem Fehler trieb Sie der Stolz?
Wahrscheinlich, dass ich 2004 von der Fi-
nanzfirma Investcorp in London zurück nach
Deutschland ging, als CEO von Karstadt-Quel-
le. Ich aber wollte es allen zeigen, auch den
Journalisten, das kriege ich hin.
Sie wollten sozusagen mit Ihrem Nachfolger
Gunter Thielen und mit Liz Mohn korrespon-
dieren, die Sie 2002 entlassen hatte.
Und das auf Augenhöhe: „Passt mal auf, Ihr
habt einen Fehler gemacht!“ Thielen kommt
an einigen Stellen im Buch vor. Er hätte ei-
gentlich den Job bei Karstadt-Quelle haben
sollen. Irre, wie das Leben manchmal spielen
kann. Das ist ja die zweite Facette: „Thielen,
pass mal auf, ich nehme Dir das jetzt weg!“
Man lernt in diesem Bekenntnis-Buch: In
der gehobenen Wirtschaft geht es manchmal
zu wie im Fußballklub. Es ist auch eine War-
nung vor Gier. Middelhoff, der für einen Deal
von Bertelsmann einen Sonderbonus in Höhe
eines hohen zweistelligen Millionenbetrags
bekam, schaffte es so ins exklusive Netzwerk
der Privatbank Sal. Oppenheim und des Steu-
ersparkünstlers Josef Esch. „Ich habe alles
blind unterschrieben. Die mussten sich gar
nicht groß anstrengen, ich war so gierig nach
allem Möglichen.“ Nach einer Villa in St.-Tro-
pez, nach einer Jacht. Zusehends aber fehlte
die Empathie für Mitmenschen: „Ich bin nicht
eiskalt, bin aber so herübergekommen.“
Es geht
um die
Botschaft,
die Gott in der
Welt haben
will.
Friedhelm Loh
Unternehmer
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