Der Standard - 24.08.2019

(lily) #1

AlbumA2 Samstag, 24. August 2019


iFortsetzung vonSeiteA1


Wilfried Embacher,
Rechtsanwalt in Wien
(u.a.Einwanderungs-
undAsylrecht), war
Anfang Juni eine
Woche aufLampedusa.
Foto: http://www.corn.at

Gewissen und den auf hoher See
geltenden Regeln. Demnach ist al-
len in Not geratenen Menschen zu
helfen, Fragen nach der Ursache
der Not werden nicht gestellt. Das
Erreichen eines sicheren Hafens
ist einziges Ziel der Hilfe. Darüber
herrscht auch Einigkeit zwischen
Einsatzkräften und Helfern auf
dem Meer und in Lampedusa.
Politik wird an Land gemacht,
auf dem Meer wird nicht unter-
schieden nach Herkunft, Ge-
schlecht oder politischer Über-
zeugung. „Pe’mmare nun ce stan-
ne taverne“ („Auf dem Meer gibt
es kein Schutzhaus“), lautet ein
Sprichwort auf Ponza, einer an-
deren italienischen Insel. Wer auf
dem Meer unterwegs ist, muss
selbst zurechtkommen, eine Ein-
kehr ist nicht möglich, helfen
können allenfalls andere Boote.
Diese Prinzipien werden auch an
die Kinder, die das Meer nur von
Wochenendausflügen oder den
Ferien kennen, weitergegeben. In
Lampedusa sind die Freizeitmög-
lichkeiten beschränkt, Bootsaus-
flüge und damit Aufenthalte auf
hoher See gehören zum Alltag.
Die vor der Küste Afrikas gele-
geneInselwurdeerst1842vonder
Familie Tomasi di Lampedusa an
das Königreich beider Sizilien
verkauft, das 1843 durch die Ent-
sendung von 120 Beamten, Hand-
werkern und Bauern mit dem Ver-
such begann, die wirtschaftlichen
und politischen Interessen des
Königs Ferdinand II. von Neapel
durchzusetzen. Zu diesem Zeit-
punktlebtenrund2000Menschen
auf der Insel. Der Fischfang be-
gann erst eine Rolle zu spielen,
nachdem die Neuankömmlinge
die bewaldete Insel beinahe voll-
ständig gerodet hatten, um Holz-
kohle zu exportieren.

Verständnis für Unerwünschte
Die veränderten Lebensbe-
dingungen und die Nutzung der
Insel als Ort für Verbannte führ-
ten am Ende des 19. Jahrhunderts
zu einer bemerkenswerten Migra-
tionsbewegung. Bisherige Bewoh-
ner verließen die Insel Richtung
Nordafrika, wo sie sich bessere
wirtschaftliche Voraussetzungen
erhofften. Gleichzeitig trafen von
der Verbannung betroffene Krimi-
nelle, Mafiosi oder politisch Un-
liebsame auf der Insel ein. Die
heutige Bevölkerung hat daher
sehr unterschiedliche Ursprünge,
eine tiefere Verbundenheit durch
eine gemeinsame lange Geschich-
te besteht nicht. Das Verständnis
derNachkommenehemaligerVer-
bannter für die im 21. Jahrhundert
Unerwünschten ist aber größer als
anderswo.
Verbunden sind die Lampedu-
sani durch das gemeinsame Be-
wältigen der schwierigen Lebens-
bedingungen, denn die beson-
deren Verhaltensregeln auf ho-
her See gelten nahezu uneinge-

schränkt auch an Land, das in den
Wintermonaten bei Schlechtwet-
ter auch länger nicht erreichbar
sein kann.
1992 kamen die ersten Flücht-
lingsboote aus Nordafrika. In den
ersten Jahren erfolgte die Versor-
gung der Ankommenden unorga-
nisiert, getragen von der selbstver-
ständlichen Hilfsbereitschaft der
Lampedusani. Für die in den Jah-
ren 2001 bis 2003 erbrachte Hilfe
wurde der Gemeinde Lampedusa
und Linosa am 2. Juli 2004 vom
damaligen Staatspräsidenten Car-
lo Azeglio Ciampi die Goldene
Medaille für zivile Verdienste ver-
liehen. Dennoch sah sich auch der
italienische Staat zum Handeln
gezwungen und richtete zunächst
ein Aufnahmezentrum am Flug-
hafen ein, in weiterer Folge wur-
de eine ehemalige Kaserne für
diesen Zweck umgebaut. Heute
wird diese Einrichtung Hotspot
genannt, die Ankommenden ver-
bleiben in der Regel nur kurz und
werden in italienische Aufnahme-
zentren weitergebracht.
Die ständig steigende Zahl der
Bootsflüchtlinge führte 2009 zu
Protesten der Lampedusani, die
sich gegen die chronische Über-
füllung des Aufnahmezentrums
bei gleichzeitigem Verbleib der
Angehaltenen auf der Insel richte-
ten.NachweitersteigendenAn-
kunftszahlen im Jahr 2011 muss-
te die Bevölkerung die Versorgung
der Ankommenden übernehmen,
die staatlichen Einrichtungen wa-
ren heillos überfordert. Noch heu-
te wundern sich die Lampedusani
darüber, dass damals eine Krise
verneint wurde, diese aber jetzt
bei im Vergleich zu 2011 lächer-
lichgeringenAnkunftszahlenher-
beigeredet wird. Seit dem ersten
dokumentierten Bootsunglück
mit 21 Toten im Jahr 1996 gehö-
ren Berichte über das oder Erfah-
rungenmitdemErtrinkenaufdem
Weg nach Europa zum Alltag der
Lampedusani. Zahlreiche Fischer
und Bootsausflügler bargen selbst
Lebende und Tote aus dem Meer,
Landungen an den wenigen zu-
gänglichen Stellen an der Süd-
küste führen immer wieder zu
unerwarteten Begegnungen zwi-
schen Flüchtlingen und Ein-
heimischen sowie Touristen.

Identifikation des Publikums
Es sind Touristen, die mittler-
weile–wie Carola Rackete–auch
aus Deutschland kommen, wo von
2005 bis 2009 sehr erfolgreich
eine der ersten Telenovelas mit
dem TitelWegezumGlückaus-
gestrahlt wurde. Vermutlich emp-
fahlen einflussreiche Manage-
mentberater die Produktion der
letztlich789Folgen,weildieIden-
tifikation des Publikums mit der
Suche nach den Wegen zum
Glück besonders stark war. Das
Streben nach Glück ist ein zutiefst
menschliches Verhalten, daher

warenauchfrühemenschenrecht-
liche Konzepte davon geprägt,
jedem Menschen das Recht auf
ein glückliches Leben zu ermög-
lichen.
Von solchen Überlegungen hat
sich das Europa des Jahres 2019
längst verabschiedet, es gilt als
unbestrittene Mehrheitsmeinung,
dass Menschen ihr Weg zum
Glück verunmöglicht werden
muss, auch wenn es sie das Leben
kostet. Dennoch erstaunt, mit wel-
cher Leichtigkeit auch das durch
Art 3EMRK garantierte Recht auf
Lebenmittlerweileinfragegestellt
wird, obwohl der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte
bereits 2012 entschied, dass eine
Rückführung nach Libyen die Be-
troffenen unter anderem in ihrem
Recht auf Leben verletzt (Hirsi Ja-
maa u. a. gegen Italien, Urteil vom
23.2.2012,27765/09).Staaten,die
die Menschenrechtskonvention
unterschriebenhaben,dürfenalso
niemanden nach Libyen bringen.
Ungeachtet dessen wird genau
diese Forderung immer wieder als
ein Argument gegen die Landung
auf Lampedusa und als recht-
mäßige Alternative erhoben.

Unbekannte Tote
Zumindest die Lampedusani
wissen aber, dass die Boote weiter
aus Nordafrika abfahren werden
und es nicht zu ihrem persön-
lichen Glück beiträgt, wenn ande-
reMenschen in ihrem Meerertrin-
ken oder in libysche Folterlager
gebracht werden. Auch den Ten-
denzen der Erniedrigung durch
Missachtung des Wertes eines
Menschenlebens widerstehen sie
und haben begonnen, die Erinne-
rung an die Verstorbenen zu pfle-
gen. Im „porto vecchio“ werden
auf Booten gefundene Gegenstän-
de ausgestellt und auf dem Fried-
hof ist den unbekannten Toten
ein eigener Teil gewidmet. Europa
könnte sich seiner humanitären
Werte besinnen, statt auf die inte-
ressengesteuerten Vorschläge der
Managementberater zu hören.
Bis dahin werden auf Lampe-
dusa die Passagiere der Schnell-
boote der Liberty Line zwar wei-
terhin herzlich willkommen ge-
heißen werden, die aus Afrika
kommenden und nach europä-
ischer Freiheit strebenden Men-
schen hingegen als unerwünscht
direkt im Hafen, der sich nicht
schließen lässt, festgenommen
und in den Hotspot überstellt wer-
den.
Paola behält recht. Das Meer um
Lampedusa erfrischt den Geist,
die unzählbaren Toten sind Mah-
nung gegen die Gleichgültigkeit
und Auftrag, das Sterben im Mit-
telmeer zu beenden.

Erwähnte und weiterführende Bücher
über Lampedusa
Emma Jane Kirby,„Der Optiker von
Lampedusa“. Piper-Verlag,2017
Pietro Bartolo und Lidia Tilotta,„An das
Leid gewöhntman sich nie“.Suhrkamp-
Verlag, 2017
Davide Enia,„Schiffbruch vor Lampe-
dusa“. Wallstein-Verlag, 2019
Gilles Reckinger, „Lampedusa: Begegnun-
gen am Rande Europas“. Peter-Hammer-
Verlag, 2013
UlrichLadurner,„Lampedusa,Große
Geschichte einer kleinenInsel“. Residenz-
Verlag, 2014

Filme
Jakob Brossmann,„Lampedusaim
Winter. Der Kampfum Solidarität am
Rande Europas“. Dokumentarfilm, 2015
GianfrancoRosi,„Fuocammare
(Seefeuer)“.Dokumentarfilm, 2016.
Goldener Bär2016, Nominierung für
den Oscar inder Kategorie bester
Dokumentarfilm 2017

vierzig gerettet werden können.
Die Albträume nach diesem Ereig-
nis lassenihn nicht mehr los. Das
Meer, das er nach seinen Angaben
zum Leben braucht und ihn erst
nach Lampedusagebracht hat, hat
auf dramatischeWeisedieses, sein
Leben verändert.
PietroBartolowarvieleJahreals
Leiter des Policlinico von Lampe-
dusa für die medizinische Erst-
versorgung der Migranten verant-
wortlich und ist seit kurzem Ab-
geordneter des Europäischen Par-
laments. Er hat seine Erfahrungen
in Gesprächen mit der Journalis-
tin Lidia Tilotta verarbeitet und
macht deutlich, wie selbstver-
ständlich die Hilfe, die zuvor auf
dem Meer gewährt wurde, auch
nach der Ankunft im Hafen fort-
gesetzt wird, bevor staatliche Ein-
richtungen den Geretteten ein an-
deres Gesicht Europas zeigen.


DröhnendesSchweigen


Die Schilderungen Bartolos zei-
gen, wie oft das Überleben eine
Frage des Zufalls ist, insbesonde-
re bei schwierigeren Behandlun-
gen, für die ein Weitertransport
nach Sizilien notwendig ist, der
nicht immer gewährleistet ist.
Aber auch Bartolo lässt keine
Zweifel an der Sinnhaftigkeit sei-
nes Handelns offen, weil jedes
gerettete Leben jeden Einsatz und
jeden Schmerz im Falle des Miss-
erfolgs rechtfertigt.
Carola Rackete hat nicht nur die
Berechtigung humanitären Han-
delns bewiesen, sie hat auch die
Fragen der Seenotrettung und der
europäischen Verantwortung von
Lampedusa nach Norden getragen
und kontroversielle Auseinander-
setzungen ausgelöst. Während die
politischen Reaktionen erwartbar
ausfielen, ließ Siemens-Chef Joe
Kaeser aufhorchen, indem er nach
der Festnahme Racketes auf Twit-
ter die Meinung vertrat, dass Men-
schen, die Leben retten, nicht ver-
haftet werden sollen. Umgehend
wurdeervomManagementberater
Reinhard Sprenger zurechtgewie-
sen, der ihm ausrichtete, dass der
Tweet zu einer Moralisierung bei-
trage, die sich in der westlichen
Gesellschaft wie ein Spaltpilz aus-
breite, und es Aufgabe von Mana-
gern sei, das Geld, das ihnen nicht
gehöre, zu verwalten. Um anderes
mögen sich Kirchen und Politik
kümmern. So verständlich die
Sorge von Managementberatern
über selbstständig denkende und
eine eigene Meinung vertretende
Manager sein mag, ist doch vor
allem das dröhnende Schweigen
anderer Führungskräfte in der
Wirtschaft verstörend.


Politik an Land


Da es sich bei der Rettung von
Menschenleben aber keinesfalls
um Moralisierung handelt, folgen
die Lampedusani weiter ihrem


ALBUM
Mag. Mia Eidlhuber(Ressortleitung)
E-Mail:album@derStandar d.at

AlbumA2 Der tödliche Weg ins Glück Samstag, 24. August 2019


Kolumnistenglück: Bis Oktober
muss ich mir über keine Themen
den Kopf zerbrechen, weil es
außer dem Wahlkampf keine
Themen gibt. Außerdem bleibt
es mir erspart, über die SPÖ zu
schreiben, weil die sich ihrer
Medienpräsenz nach zu urteilen
in Luft aufgelöst haben dürfte.
Dafür geht es bei der FPÖ hoch
her. Anfang der Woche hat der
mit allen Zuckerwassern gewa-
schene Parteichef Norbert Hofer
alias „der Siaßlate“ oder „Il
Zucchero“ im ORF verkündet,
dass er sich eine politische Rück-
kehr von Strache schwer vor-
stellen kann. Nicht genug damit:
Tags darauf wurde ruchbar, dass
er Hazees Facebook-Seite geka-

pert und seinen Vorgänger unter
digitale Kuratel gestellt hat.
Das nenne ich eine saubere
Parteifreundschaft! Kaum bläst
Strache Gegenwind entgegen,
haut ihm Il Zucchero den Haken
ins Kreuz! Wie stellt sich Hofer
das vor? Soll Strache die 25.000
Euro für den nächsten Operball
aus eigener Tasche bezahlen?
Und wer spielt den Querver-
binder zum österreichischen
Lumpenproletariat, wenn Stra-
che mundtot gemacht wird?
Aber nicht nur zwischen
Il Zucchero und Kuratel-Heinzi
gärt es. Auch Kickl ist noch im
Spiel und neidet Hofer dessen
enorme Publikumsakzeptanz.
Obwohl der Bimaz bei vier Fünf-
teln der Bevölkerung so beliebt
ist wie eine Gürtelrose, scharrt er
hörbar mit den Hufen und spitzt
auf einen Ministerposten. Wahr-
scheinlich plant er eine Privat-
razzia und lässt ein dutzend
Kampflipizzaner in Hofers Ein-
familienhaus in Pinkafeld ein-

reiten, um an kompromittieren-
des Material heranzukommen.
Harte Zeiten für die FPÖ also.
Der Österreichischen Horten-
Partei (ÖHP) geht es indes ganz
gut. Ich hätte nur eine Bitte an
Sebastian Kurz: nämlich im
Wahlkampf von der Verwendung
des Wortes „anpatzen“ Abstand
zu nehmen. Ich kenne fünf Dut-
zend kultivierte Leute, die auf
der Stelle zu vomieren beginnen,
wenn sie diese hyperabgestand-
ene Vokabel hören, so sehr hängt
sie ihnen zum Hals heraus.
Ein Vorschlag wäre,„anpat-
zen“ durch ein sinnverwandtes
Wort zu ersetzen. „Anwischerln“
zum Beispiel (es muss ja nicht
gleich „anschiffen“ sein). „Ich
will mich nicht am gegenseitigen
Anwischerln beteiligen“, „Sie
können mich ruhig anwischerln,
aber nicht die Veränderung, für
die ich stehe“: Solche Ansagen
brächten frischen Wind in einen
öd gewordenen Politdiskurs. Nur
trauen muss man sich halt.

„Siekönnen mich


ruhig anwischerln.“


Erste Notizen aus


dem Wahlkampf2019


DA MUSS


MAN DURCH


Die Krisenkolumne


Von Christoph Winder

Carola


Rackete hat die


Fragen der


Seenotrettung


und der euro-


päischen Verant-


wortung von


Lampedusa nach


Norden


getragen und


kontroversielle


Diskussionen


ausgelöst.



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