Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von ruth schneeberger

P


aule strahlt. Es ist einer dieser
hitzigen Sommertage, wie sie
Berlin seit dem Supersommer
2018 kaum noch anders kennt,
am nächsten Tag wird das Ther-
mometer auf knapp 40 Grad Celsius klet-
tern. Paule liegt schaukelnd im Wasser der
Müggelspree und zieht mit seiner knallro-
ten Farbe Neugierige an. Nicht allzu viele,
das ist Marcel Franke ganz recht. Er ist der
Fährmann vonPauleIII, der ältesten und
kleinsten Fähre Deutschlands, einem Ru-
derboot. Und er sagt: „Am schlimmsten ist
Vatertag“, danach komme Pfingsten. „Bis
da vorne haben sie angestanden, alle mit
Fahrrädern, 50, 60 Stück“, sagt der 27-Jäh-
rige und zeigt in Richtung Spreewiesen.
„Die habe ich alle weggeschickt.“
Von der resoluten Art des Fährmanns
müssen sich Besucher nicht abschrecken
lassen, denn für Nichtradler und kleinere
Radlergruppen hat er ein großes Herz.
„Der ist so ein Berliner Original, da können
wir alle einstecken“, sagt Markus Falkner
vom Berliner Verkehrsbetrieb BVG. Das Un-
ternehmen, das die kleine Ruderfähre be-
treibt, ist schon ein wenig stolz auf den neu-
en Rudermann. Obwohl der eigentlich aus
Frankfurt an der Oder stammt.

Die Ruderfähre ist Teil des Berliner Nah-
verkehrs, offiziell ist es die Linie F24. Zum
Kurzstreckenpreis können Besucher sich
hier übersetzen lassen, vom Ufer in Rahn-
dorf hinüber nach Müggelheim oder an-
dersherum. Hier, das ist südöstlich von Kö-
penick, wo die Spree aus dem Müggelsee
in Richtung Dämeritzsee austritt. Die Fäh-
re legt nur einen kurzen Weg zurück: etwa
36 Meter für 1,70 Euro pro Person. Beför-
dert von reiner Muskelkraft. Acht Passagie-
re passen in das Boot. Oder vier mit Fahrrä-
dern. Allzu große Radfahrergruppen muss
Franke wegschicken, weil sonst kaum
Platz für Passagiere bleibt; auch E-Bikes
dürfen nicht mit an Bord, wegen des Ge-
wichts und der Versicherung. Einmal woll-
te einer sein Moped mit übers Wasser neh-
men, auch der hatte keine Chance.
Wer sich zu Franke ins Boot setzt, der
merkt rasch: Hier ist jemand mit Leiden-
schaft am Werk. Wie selbstverständlich
hievt der Fährmann in Sekundenschnelle

die Fahrräder zweier Ausflügler ins Boot
und hilft nicht nur Senioren beim Einstei-
gen, sondern auch jüngeren Gästen, die
vom schweren Schaukeln erst mal überfor-
dert sind. Ob ein- oder aussteigen, Franke
reicht allen die Hand. Und beantwortet im-
mer wieder dieselben Fragen zu Bootsma-
ßen (fünf mal 1,80 Meter, 800 Kilogramm)
und Bootsgeschichte (seit 1911).
Viel Zeit hat er nicht dafür: „Wenn es
schlecht läuft, brauchen wir drei Minuten
bis zum anderen Ufer.“ Schlecht läuft es
dann, wenn ein anderes Boot den Weg
kreuzt. Ansonsten benötigt Franke nur elf
Ruderschläge, um die Müggelspree zu
queeren. Dann dauert es eine Minute. Eine
enorme Zeitersparnis etwa für Radler:
Müssten sie über die benachbarte Brücke
fahren, wären sie 20 Minuten länger unter-
wegs, Autofahrer wegen Umleitungen so-
gar eine Dreiviertelstunde, Fußgänger ei-
ne Stunde. 2018 setzten insgesamt etwa
5000 Personen über und fast 2200 Räder.
Der Fährmann muss seine Erzählungen
kurz unterbrechen, am Ufer wartet ein klei-
ner Bub. Der Vater hat ihn gebracht, auf
der andere Seite winkt die Mutter. Eigent-
lich verkehrt die Fähre stündlich, doch ge-
fahren wird viel öfter. Immer wenn je-
mand am Ufer steht. Oder wenn einer ruft:
„Fährmann, hol’ über!“
Vor mehr als hundert Jahren war es ein
Anwohner, Richard Hilliges, der die Ruder-
fähre initiiert hatte, weil ihn oft Leute ge-
fragt hatten, wie sie hier übers Wasser kä-
men. Bis 1942 betrieb Hilliges die Fähre
selbst, danach ruderte seine Frau Lenchen
noch eine Weile. Von 1947 bis 2013 war das
Boot öffentlich in Betrieb, mehr als 20 Jah-
re lang gesteuert von Fährmann Paul
Rahn, der als Legende gilt. Nach ihm ist
das Boot benannt. „Diesen Status will ich
auch irgendwann mal erreichen“, sagt der
aktuelle Fährmann Franke und lächelt.
Seit zwei Jahren ist er aufPaule IIIim Ein-
satz, er sagt: „Ich liebe meinen Beruf.“ Oft
muss er für Selfies posieren.
Was macht die Faszination der Ruder-
fähre aus, die im Auftrag der BVG von der
Weißen Flotte Stralsund betrieben wird?
Für viele Berliner liegt der Müggelsee im
Niemandsland. Zwar ist er mit 7,4 Quadrat-
kilometern Berlins größter Badesee, doch
die hintere Ecke ist kaum bekannt. Die
meisten wissen nicht mal, dass das noch
Berlin ist. Und dass hier der normale Nah-
verkehrsfahrschein der Tarifgruppe B gilt.
Dem Fährmann steht auf Müggelhei-
mer Seite ein Schuppen zur Verfügung, in-
klusive Fahrkartenautomat und großem
Wasservorrat, vier bis sechs Liter trinkt er
an heißen Tagen. Das Rudern ist anstren-
gend, aber es mache Spaß, sagt Franke.
Mittags stärkt er sich auf Rahndorfer Seite
im Biergarten des letzten Müggelspree-
fischers, direkt an der Anlegestelle. Der
Räucherfisch ist köstlich – und günstig. Or-
te und Häuser hier wirken fast dörflich, hin-
ter dem Waldstück nebenan gibt es einen
Kleingartenverein. Neben vielen Anwoh-
nern rudert Franke meist Touristen ans an-
dere Ufer, die von der kleinen Ruderfähre
im Reiseführer gelesen haben. An diesem
Tag sitzen eine junge Schwedin, die in Ber-

lin lebt, und deren Mutter, die übers Wo-
chenende zu Gast ist, bei Franke im Boot.
Das hier sei besser als das Brandenburger
Tor, sagen sie. Nur nicht so zentral.
DochPaule IIIund Fährmann Franke
vermitteln mehr als das kurze Glücksge-
fühl von Touristen, ein Berliner Original
entdeckt zu haben. Oder den Wunsch der

Anlieger, möglichst schnell übers Wasser
zu kommen.Paule IIIist ein Gegenentwurf
zum Globalen, ein freundliches Nostalgie-
Relikt aus einer Zeit, in der Menschen noch
per Muskelkraft die Natur bezwangen.
Und die Fähre ist ein Beleg dafür, dass das
Gigantische nicht immer das Bessere ist.
Deshalb hatte sich der Heimatverein Köpe-

nick auch stark dafür eingesetzt, dass die
Fähre weiter im Einsatz bleibt. Im Jahr
2013 wollte die BVG den Fährbetrieb ein-
stellen – er sei zu unrentabel, hieß es.
18 000 Unterschriften wurden gesam-
melt. „Wer ein Herz für etwas Besonderes
hat, der muss sich dagegen wehren“, hatte
Andreas Thamm als Protestlosung ausge-

geben, der Fischer von nebenan. Ohne die
Fähre hätte er vielleicht schließen müssen.
Der Senat ließ sich erweichen. Zusammen
mit der BVG finanzierte die Stadt 2015 die
Wiederaufnahme des Fährbetriebs.
2018 musste die Ruderfähre noch ein-
mal renoviert werden. Ein Motorboot hat-
te es heftig gerammt. Glücklicherweise
war der kleine Neffe von Marcel Franke ge-
rade aus dem Boot gestiegen. „Sonst wäre
Schlimmes passiert.“ Das Boot wurde über-
holt und umlackiert – früher war es blau
nun ist es knallrot. Und der Unfall wurde
zum Anlass genommen, den regen Party-
verkehr auf dem Müggelsee zu überden-
ken. Dort darf alles, was weniger als 15 PS
hat, ohne Führerschein gefahren werden;
viele Hobbysportler kennen die Verkehrs-
regeln auf dem Wasser nicht. Für Binnen-
schiffer Franke, der unter der Woche grö-
ßere Fähren lenkt, wird das zum Problem:
AuchPaule IIImuss öfter warten, bis das
Partyvolk lautstark vorübergezogen ist.
Wer die Ruderfähre nutzen möchte, hat
dazu an Wochenenden und Feiertagen von
Mai bis Oktober die Gelegenheit, jeweils
von elf bis 19 Uhr. Empfehlenswert ist die
Anreise von der Anlegestelle Müggelwer-
derweg in Rahndorf. Dort startet stündlich
die größere Fähre F23 – solarbetrieben
und ebenfalls im BVG-Tarif inbegriffen.
Sie fährt auch zur Anlegestelle Kruggasse.
Während der 25-minütigen Fahrt mit Pan-
oramablick über den Müggelsee, vorbei an
Strandbad, Naturschutzgebiet, Garten-
häuschen und braun gebrannten Wasser-
sportlern, bekommen Besucher einen schö-
nen Eindruck von der Gegend. Dann lohnt
sich die Anfahrt für die ja nur einminütige
Überfahrt mitPaule IIIerst recht.

Fährmann,


hol’ über!


InBerlin ist eine Ruderfähre Teil des öffentlichen


Nahverkehrs. Das kann auch gefährlich werden


Ohne die Ruderfähre
wärenFußgänger
eine Stunde
länger unterwegs.

Das Fahrzeug sieht mehr als eigenwillig
aus: Eine weit nach vorn gestreckte
Schnauze, auf deren Spitze der Scheinwer-
fer sitzt. Was so mit muss auf eine Reise,
das kann direkt darüber, auf dem kleinen
Gepäckträger, verstaut werden. Fahrer
und Beifahrer werden geschützt durch ein
kleines Blechschild auf Beinhöhe, auf der
Sitzbank ist ausreichend Platz für beide.
Voilà, das ist die Čezeta, ein Elektroroller
aus Tschechien. Aber nicht irgendein Elek-
troroller. Ein Roller mit Tradition.

Entwickelt wurde der Motorroller in
den Fünfzigerjahren von dem tschechoslo-
wakischen Waffen- und Maschinenbauun-
ternehmen Česká zbrojovka (ČZ) mit Sitz
in Strakonice, gelegen zwischen Pilsen
und Budweis; erstmals verkauft wurde der
Roller 1957. Der Ingenieur Jaroslav Fran-
tišek Koch wollte einen „Rolls-Royce auf
zwei Rädern“ bauen, so heißt es. Es ent-
stand so etwas wie die tschechische Ant-
wort auf die italienische Vespa, aber auch
viele andere Hersteller setzten damals auf
Motorroller. Was viele im heute vom Auto
geprägten Deutschland nicht (mehr) wis-

sen: In den Fünfziger- und Sechzigerjah-
ren waren es vor allem Motorräder und
-roller, die die Menschen mobil machten.
Marken wie DKW, Kreidler, Zündapp oder
Victoria prägten lange Zeit die deutsche
Motorrad- und Motorrollerindustrie, Nürn-

berg wuchs über mehrere Jahrzehnte zum
Zentrum der Branche – bis zu ihrem Nie-
dergang in den Sechzigerjahren.
Ähnlich verlief die Entwicklung auf der
anderen Seite des Eisernen Vorhangs: Die
Motorräder von MZ aus dem sächsischen

Zschopau und diverse Motorroller aus der
sogenannten Vogelserie (mit Modellen wie
Schwalbe, Habicht oder Sperber) aus dem
Simson-Werk in Suhl in Südthüringen er-
möglichten vielen DDR-Bürgern ihre indi-
viduelle Mobilität. Dort kam erst mit der

politischen Wende 1989 das Aus für die tra-
ditionsreichen Zweiradstandorte.
In Tschechien wiederum waren es die
Čezeta-Roller, die zahlreiche Anhänger fan-
den. Die Roller, die in ihrer Formgebung
auch ein wenig an einen Torpedo erinnern,
hatten anfangs eine Leistung von acht PS,
später waren es neuneinhalb. Der Zweitakt-
Einzylinder beschleunigte den Roller auf
bis zu 90 Kilometer pro Stunde. Mitte der
Sechzigerjahre allerdings wurde die Pro-
duktion eingestellt; auch in den sozialisti-

schen Ländern interessierten sich mehr
und mehr Menschen für Automobile und
schenkten Motorrädern und -rollern weni-
ger Beachtung. Dennoch: Mehr als 120 000
Stück sollen produziert worden sein, in
mehr als 40 Länder wurde die Čezeta ex-
portiert. In Automobil- und Technikmuse-
en unter anderem in Neuseeland und Riga
finden sich heute noch Čezeta-Exemplare.
Nun lässt ein Brite den alten Čezeta-Rol-
ler neu aufleben – mit einer entscheiden-
den Ausnahme: Statt mit einem Benzin-
soll der neue Tschechen-Torpedo mit ei-
nem Elektroantrieb losrollern. Neil Ea-

monn Smith war in den Neunzigerjahren
von Großbritannien nach Tschechien aus-
gewandert und hatte dort die Fahrzeuge
aus den Fünfzigerjahren entdeckt. „Ich lie-
be Motorroller“, sagte der Brite demHan-
delsblatt. In einer Fabrikhalle im tschechi-
schen Prostějov lässt er die Stromer nun in
Handarbeit fertigen.
Die neue Čezeta 506 gibt es in zwei Versi-
onen: eine mit elf PS Spitzenleistung und
80Stundenkilometer Höchstgeschwindig-
keit sowie ein 15-PS-Modell, das bis zu 115
Kilometer in der Stunde schaffen soll. Die
maximale Reichweite gibt Smith mit
200 Kilometer an. Preiswert allerdings
sind die Roller nicht gerade: Knapp 12 000
Euro kostet die Basisversion, wer den stär-
keren Motor und eine leistungsfähigere
Batterie will, landet rasch bei 16 000 Euro
und mehr. In Prag hat Smith kürzlich ei-
nen Shop eröffnet, in dem er nicht nur sei-
ne E-Roller präsentiert, sondern auch die
lange Čezeta-Historie. Einen Importeur
für Deutschland gibt es noch nicht, Smith
setzt auf den Direktvertrieb im Internet.
Zudem versucht er, mit Mietfahrzeugen
den Nostalgie-Scooter zumindest in Prag
bekannter zu machen. Touristen und Ein-
heimische sollen so die neue Čezeta ken-
nenlernen. Immerhin das ist vergleichswei-
se günstig: Die Miete übers Wochenende
liegt bei 150 Euro. marco völklein

Enorme Zeitersparnis

Torpedo aus Tschechien


Der Čezeta-Motorroller machte nach dem Krieg viele im Ostblock mobil, dann verschwand er vom Markt. Nun lässt ein Brite ihn wieder auferstehen


Der Entwickler sagte einst,
er habeeinen „Rolls-Royce auf
zwei Rädern“ bauen wollen

Dynamisch sollte die
Werbung für den Čezeta in
den Fünfzigerjahren
wirken. Das neue Modell
mit Elektroantrieb
(oben) orientiert sich stark
am Original-Roller.
FOTOS: ČEZETA

Mit einem Preis von knapp
12000 Euro ist die neue
Čezeta kein günstiges Vergnügen

DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 68


MOBILES LEBEN


Seit 1911 wird hier gerudert: Die FährePauleIIIverbindet Rahndorf und
Müggelheim. Fährmann Marcel Franke (Bild rechts unten) sagt: „Ich liebe meinen Beruf.“
FOTOS: RUTH SCHNEEBERGER, HORST STURM/DPA, WEIßE FLOTTE STRALSUND

Der bayerisch-chinesische Elektrowagen
NioES 8 fährt sich besser als manch
deutsches Modell  Seite 67

Fast konkurrenzfähig


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