Handelsblatt - 28.09.2019

(Axel Boer) #1

„Eine definitive Entscheidung


ist noch nicht gefallen, aber seit


gestern Abend sieht es so aus,


dass es tatsächlich zu einer gemein -


samen Regierung kommen könnte.“


Laura Garavini, Senatorin der italienischen
Sozialdemokraten (PD), über Koalitions verhandlungen
mit der regierenden Fünf-Sterne-Bewegung

„Wir leben am Ende


der westlichen


Hegemonie.“


Emmanuel Macron, Frankreichs
Präsident, fordert eine neue globale
Wirtschaftsordnung.

Stimmen weltweit


Die Schweizer „NZZ“ kommentiert nach dem
Gipfeltreffen der bedeutendsten
Wirtschaftsnationen, dass es den westlichen
Staaten an Geschlossenheit fehle:

D


er G7-Gipfel hat verdeutlicht, was man
schon länger weiß: Der Westen hat keine
gemeinsame Agenda mehr. Um darüber
hinwegzutäuschen, machte man schnell die Um-
weltzerstörung im Amazonas zum Hauptthema.
Da kann man Betroffenheit mimen, tun kann man
wenig, denn zuständig ist die Regierung Brasiliens,
die in Biarritz nicht mit von der Partie ist. (...)
Biarritz zeigt einmal mehr die Schwächen des
G7-Formats. Ursprünglich sollten die Treffen dazu
dienen, dass die Führer der westlichen Welt im
Rahmen eines „Kaminfeuergesprächs“ im direkten
Austausch ihre Positionen ausloten und gemeinsa-
me Prioritäten festlegen konnten. Daraus ist ein di-
plomatischer Zirkus mit Grossaufmarsch von Me-
dien und Demonstranten geworden. Er bringt nur
noch Bilder von lächelnden, scherzenden, sich
umarmenden Staatslenkern (samt Damen) hervor,
aber keine gemeinsamen Zielsetzungen.

Das niederländische „NRC Handelsblad“
würdigt den Gipfel in Biarritz als Beitrag zum
internationalen Dialog:

I


n der heiklen Iran-Frage hat Emmanuel Ma-
cron seinen Spielraum als Vorsitzender opti-
mal genutzt. Er ging ein erhebliches Risiko
ein, als er den iranischen Außenminister Moham-
med Dschawad Sarif in den zu einer Festung um-
gestalteten Badeort einfliegen ließ. US-Präsident
Donald Trump sprach zwar nicht mit dem Iraner,
sagte aber, Macron habe ihn vorab um Zustim-
mung gebeten. Die Gespräche über den Iran deu-
teten an, dass es möglicherweise doch eine diplo-
matische Lösung für den Konflikt zwischen den
USA und dem Iran geben könnte, der entstanden
ist durch den Rückzug der USA aus den Vereinba-
rungen, die der Iran mit der internationalen Ge-
meinschaft getroffen hatte. (...) Das wichtigste Er-
gebnis ist freilich, dass die G7-Treffen als Ge-
sprächsforum erhalten bleiben. Frankreich wollte
zu einer Verbesserung des internationalen Dialogs
beitragen. Das ist gelungen, auch wenn die trans-
OECD, Laura Garavini, AFPatlantischen Unstimmigkeiten bestehen bleiben.

Die Brüsseler Tageszeitung „De Standaard“
bezweifelt, dass die Vermittlungserfolge
Emmanuel Macrons den G7-Gipfel lange
überdauern:

O


b Macron mit seinem Vermittlungsver-
such Erfolg hat, ist noch eine sehr große
Frage. Trump wiederholte die Forderung,
dass der Iran bei einem neuen Abkommen auch
seine ballistischen Raketen aufgeben müsse. Vor-
läufig gibt es keinerlei Hinweise, dass das islami-
sche Regime dazu bereit ist – oder was es im Ge-
genzug fordern könnte.
Irans Präsident Hassan Ruhani und sein Außen-
minister Mohammed Dschawad Sarif mögen dem
reformfreudigeren Flügel angehören, der das Ab-
kommen retten und so die Wirtschaft des Landes
wiederbeleben will. Aber da sind auch noch der
„Oberste Führer“ Ajatollah Ali Chamenei – die
höchste politische und religiöse Autorität im Iran –
und die berüchtigten Revolutionsgarden. Die gute
Nachricht ist, wenigstens vorläufig, dass auf hoher
Ebene miteinander geredet wird.

D


ie Große Koalition ist die Koalition der großen
finanzpolitischen Verweigerer. Obwohl in der
Steuerpolitik so viel zu tun wäre, im Steuer -

system so viele Ungerechtigkeiten zu beseitigen wären,


blockieren sich Union und SPD in die steuerpolitische


Besinnungslosigkeit. Daran ändern auch der Soli-Teilab-


bau und die Reform der Grundsteuer nichts. Im Gegen-


teil: Beides war verfassungsmäßig geboten, sonst hätten


Union und SPD auch hier Dämmerschlaf gehalten.


Doch auf einmal ist die Steuerpolitik mit Karacho zu-


rück auf der politischen Agenda. Die „schwarze Null“


und die Schuldenbremse werden plötzlich selbst von


Ökonomen in Zweifel gezogen, die jahrelang für eine


Nullschuldenpolitik waren. Die SPD springt freudig auf


die Schuldendebatte auf und legt mit ihrer Forderung


nach einer Wiedereinführung der Vermögensteuer


noch eine Schippe drauf. Nach dem jahrelangen steuer-


politischen Stillstand könnte die nächste Wahl zu einem


steuerpolitischen Kulturkampf werden.


Das wäre erfreulich. Klare Antipoden in der Steuer-


politik würden die Unterschiede der Volksparteien wie-


der sichtbarer machen und die populistischen Ränder
schwächen. Politisch gesehen ist aus Sicht der verzwei-
felten SPD die Forderung nach einer Vermögensteuer
daher zumindest den Versuch wert. Ökonomisch be-
trachtet allerdings steht sie genauso im Kontrast zur gu-
ten Finanzlage wie der Ruf nach neuen Schulden.
So hat der Staat laut neuen Zahlen im ersten Halbjahr
einen Überschuss von 45 Milliarden Euro gemacht, al-
lein der Bund nahm 17 Milliarden mehr ein, als er aus-
gab. Nun ist das mit diesen Halbjahreszahlen so eine Sa-
che, es ist eine virtuelle Rechnung, das Geld nicht in
der Kasse, es existieren verschiedene, umstrittene Be-
rechnungsmethoden, kurzum: Es ist furchtbar kompli-
ziert. Was sich aber aus den Daten schon ablesen lässt:
Der Staat steht vor dem sich ankündigenden Ab-
schwung finanziell weiter gut da. So haben sich die
Steuereinnahmen je Bürger seit 2010 fast verdoppelt.
Statt Steuererhöhungen wären daher jetzt gezielte
Steuerentlastungen für Geringverdiener und Unterneh-
men angezeigt, die konjunkturfördernd wirken. Doch
hier verharren Union und SPD im gewohnten Blockade-
modus. Bundesfinanzminister Olaf Scholz weiß, dass er
mit Unternehmensteuersenkungen im Rennen um den
SPD-Vorsitz die Herzen der Genossen nicht erobern
wird, mit der Forderung nach einer Vermögensteuer
dagegen vielleicht schon. Die Union auf der anderen
Seite hat mit Ausnahme ihrer Forderung nach einem
vollständigen Soli-Abbau überhaupt keinen Plan, was
sie in der Steuerpolitik will. Dabei bietet ihr die SPD
jetzt die Chance, sich zur Abwechslung mal wieder als
Partei der Sozialen Marktwirtschaft zu profilieren.

Haushaltspolitik


Geld ist genug da


Der Staat erzielt weiter
Überschüsse. Die Diskussionen
über neue Schulden und
Steuererhöhungen führen deshalb
in die Irre, findet Martin Greive.

Der Autor ist Korrespondent im Hauptstadtbüro.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik


MITTWOCH, 28. AUGUST 2019, NR. 165


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