Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.09.2019

(lily) #1

SEITE 2·MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


BERLIN, 1. September

E


ingepreist. Das ist so ein Mode-
wort im politischen Berlin. Ihm
wird die Funktion eines emotiona-
len Airbags nachgesagt, der den
Aufprall nach einem Unfall weniger
schmerzhaft machen soll. Unfälle sind
Wahlen, die schlecht für eine Partei ausge-
hen. Oder sehr schlecht. Deswegen heißt
es vorher, wenn die Umfragen dieses be-
fürchten lassen, dass ein schlechtes Ergeb-
nis „eingepreist“ sei. Dass so ein Airbag in
der Politik nur begrenzten Nutzen hat, zeig-
ten allerdings die jüngsten Wahlen, die
hart durchschlugen in die große Koalition
in Berlin. Nach der Wahl in Hessen kündig-
te die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin ih-
ren Rückzug aus der Politik an, nach der
Europawahl warf die Partei- und Fraktions-
vorsitzende der SPD, Andrea Nahles, alle
Ämter hin. Dabei waren in beiden Fällen
schlechte Ergebnisse erwartet worden.
Nun also Sachsen und Brandenburg. In
der Parteizentrale der CDU in Berlin, dem
Konrad-Adenauer-Haus, hatten die Air-
bags nicht dafür gesorgt, dass der Zusam-
menstoß mit der Wirklichkeit folgenlos
blieb. Dafür waren die Verluste in den bei-
den Ländern doch zu groß. Aber immer-
hin landete die CDU in Sachsen deutlich
vor der AfD, was das wichtigste Resultat
auch für die Bundespartei war. Noch be-
vor Generalsekretär Paul Ziemiak den
Ausgang der beiden Wahlen kommentier-
te, trat der christdemokratische Minister-
präsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Ha-
seloff, im Adenauer-Haus vor die Kamera
und formulierte seine Erleichterung. Man
sei froh, die AfD „in die Schranken“ gewie-
sen zu haben. Um schnell auch von den
Ländern abzulenken, richtete er sich an
die Bundesregierung, die „liefern“ müsse.
Anschließend kommentierte Generalse-
kretär Ziemiak im Namen der Parteifüh-
rung die Wahlergebnisse, die „gemischte
Gefühle“ auslösten. So empfinde er Freu-
de, aber auch Enttäuschung, sagte Ziemi-
ak. Erwartungsgemäß wandte er sich zu-
nächst dem für die CDU besseren Ergeb-
nis in Sachsen zu, angesichts dessen er
„Freude und Erleichterung“ empfinde. Es
handele sich um einen „ganz persönlichen
Erfolg“ Michael Kretschmers, des Minis-
terpräsidenten, dem Ziemiak den Auftrag
mitgab, die nächste Regierung zu bilden.
Mit dem Blick nach Brandenburg äußerte
Ziemiak, er wisse, wie „enttäuscht“ die
dortige CDU sei. In einer polarisierten

Auseinandersetzung zwischen dem sozial-
demokratischen Ministerpräsidenten und
der AfD sei es der CDU nicht gelungen,
durchzudringen. Zur Bundespolitik sagte
Ziemiak während seines knapp fünfminü-
tigen Auftritts nichts. Gleichwohl wird
der Sonntag für die Diskussion in der Ber-
liner Koalition nicht folgenlos bleiben.
Was die Bundespolitik betraf, so war
seit Monaten „einzupreisen“, dass die
Wahlkämpfer in Sachsen und Branden-
burg mit weniger personeller Unterstüt-
zung rechnen konnten. Denn eine füh-
rungslose Partei kann ja schlecht ihre
Wertschätzung für die jeweiligen Landes-
kandidaten dadurch zum Ausdruck brin-
gen, dass sie ihr Führungspersonal in die
Region entsendet. Die SPD hatte in den
vergangenen drei Monaten an der Partei-
und an der Fraktionsspitze lediglich kom-
missarische Amtsinhaber vorzuweisen,
insgesamt vier.
Im Juni war Andrea Nahles von ihren
Ämtern als Partei- und Fraktionsvorsitzen-
de zurückgetreten. Ihre Kritiker hatte das

auf dem falschen Fuß erwischt. Eigentlich
war es erst für den Spätsommer vorgese-
hen gewesen, die glücklose Chefin nach
abermals verlorenen Landtagswahlen zu-
mindest um eines ihrer Ämter zu bringen.
Nun hat die SPD in Brandenburg und in
Sachsen auch ohne Nahles mächtig an
Stimmen verloren, in Brandenburg aber
die Spitzenposition verteidigt.
Am Wahlabend fasste Thorsten Schä-
fer-Gümbel die Ergebnisse so zusammen:
„Wir sind sehr erleichtert, dass wir in Bran-
denburg die AfD als stärkste parlamentari-
sche Kraft verhindern konnten. In den letz-
ten Wochen haben wir dort 10 Prozent-
punkte aufgeholt.“ Zu Sachsen sagte er,
dort habe man eine starke Polarisierung
erlebt, Martin Dulig habe einen „engagier-
ten und lebensfrohen Wahlkampf“ ge-
macht, bei allerdings „begrenzen Möglich-
keiten“. Generalsekretär Lars Klingbeil
sagte, die SPD sei in Brandenburg „fast
viertstärkste Partei“ in den Umfragen ge-
wesen und habe enorm aufgeholt.
Was die Bundespartei betraf, so hatten

die kommissarischen Sachwalter dafür ge-
sorgt, dass die Wahlkämpfer etwas Rü-
ckenwind bekamen, etwa mit dem Kabi-
nettsbeschluss zur Milliarden-Ausstiegs-
hilfe für die Kohle-Gebiete in Branden-
burg und Sachsen und zum Solidaritätszu-
schlag. Außerdem hatten Schäfer-Güm-
bel, Manuela Schwesig und Malu Dreyer
sowohl im Koalitionsausschuss als auch
bei zahlreichen öffentlichen Auftritten
eine Regierungsnormalität repräsentiert,
die im Vergleich zum Vorjahres-Tohuwa-
bohu in der Koalition geradezu gediegen
und professionell wirkte. Im Übrigen ver-
suchten die sozialdemokratischen Bun-
desminister durch zahlreiche Sommerrei-
sen das Fehlen einer Partei- und Frakti-
onsspitze zu kompensieren. Viele davon
führten keineswegs zufällig besonders oft
nach Sachsen und Brandenburg.
Hat es sich gelohnt? Während sich Diet-
mar Woidke in Brandenburg und Martin
Dulig in Sachsen mit allen Kräften gegen
die drohenden Niederlagen stemmten, un-
terstützt von vielen Kandidatinnen und

Kandidaten für die es ums Ganze ging,
drehte sich in und um Berlin herum seit
acht Wochen ein immer größer werden-
des Karussell von Bewerberinnen und Be-
werbern für den Parteivorsitz. Zuletzt ka-
men im Drei-Tages-Takt neue Aspiranten
hinzu, manche von mehr, andere von weni-
ger Begleitmusik drumherum umrahmt.
In den ohnehin von Politikskepsis
durchwachsenen Wahl-Ländern kam das
offenkundig nicht an. Schwesig mahnte
am Wahlabend, den Protest der Wähler
im Osten ernster zu nehmen. Was für die
Parteizentrale und Generalsekretär Kling-
beil als munteres Erneuerungstreiben zu
vermarkten war, wirkte wohl in Senften-
berg oder Grimma eher noch tiefer ver-
stimmend. An solchen Orten mögen viele
den Eindruck haben, dass die Bundespar-
tei gar nicht weiß, was sie selbst und ihre
Mitglieder bewegt. Hätte Andrea Nahles
wirklich einen besseren Eindruck ma-
chen können? Auch der Blick auf die be-
vorstehende Wahl in Thüringen bietet trü-
be Aussichten. Wenn es überhaupt wie-

der aufwärts gehen sollte mit der Sozialde-
mokratie, dann nach einem langen, müh-
samen Marsch. In diesem waren Branden-
burg und Sachsen nur zwei Etappen. Cars-
tens Schneider, der parlamentarische Ge-
schäftsführer der Bundestagsfraktion und
Thüringer sah den Wahlabend so: „Kämp-
fen lohnt sich!“
Der Boden, auf dem der christdemokra-
tische Teil der großen Koalition steht, ist
nicht annähernd so rissig. In einem in der
Partei als beispielhaft angesehenen Wett-
bewerb dreier Kandidaten wählte die
CDU sich im Dezember vorigen Jahres
ihre neue Vorsitzende. Zunächst herrsch-
te große Zufriedenheit mit Annegret
Kramp-Karrenbauer. Doch dann gingen
die Umfragewerte der CDU nicht nach
oben, die Europawahl ging nicht gut aus,
die persönlichen Werte der Chefin ver-
schlechterten sich deutlich. Sie wurde un-
sicher, fing an, Fehler zu machen.
Hinter vorgehaltener Hand werden in
der CDU inzwischen Zweifel geäußert, ob
Kramp-Karrenbauer die Erneuerung der
Partei wirklich gelingt. Für diese war sie
Anfang 2018 schließlich mit einem Ergeb-
nis nahe den hundert Prozent zur Gene-
ralsekretärin gewählt worden. Schon wird
in der Partei gefragt, was etwa aus dem
Projekt einer allgemeinen Dienstpflicht
geworden sei, das Kramp-Karrenbauer
vor einem Jahr angekündigt hatte. Der
schleswig-holsteinische Ministerpräsi-
dent Daniel Günther, ein CDU-Mann mit
Sympathien sowohl für die Bundeskanzle-
rin als auch für die Parteivorsitzende, wur-
de von der Frankfurter Allgemeinen Sonn-
tagszeitung jetzt mit dem Satz zitiert:
„Wir werden Merkel und ihre Art, Politik
zu machen, noch vermissen in Deutsch-
land.“ Als wäre es abgestimmt gewesen,
erhielt Merkel am Samstag von der Leipzi-
ger Handelshochschule die Ehrendoktor-
würde. Begründung war ihr politischer
Führungsstil.
Nun wird die CDU nicht so schnell ner-
vös wie die SPD. Wenn Kramp-Karren-
bauer für einen Moment auf jene Zeit zu-
rückblickte, da Angela Merkel so lange
Parteivorsitzende war, wie sie es jetzt ist,
also auf das Ende des Jahres 2000, so wür-
de sie das sicher beruhigen – falls sie
denn unruhig ist. Im Dezember 2000, Mer-
kel war gerade acht Monate CDU-Chefin,
kam das ZDF-Politbarometer zu dem Er-
gebnis, dass sich 46 Prozent der Unionsan-
hänger den bayerischen Ministerpräsiden-
ten und CSU-Vorsitzenden Edmund Stoi-
ber als Kanzlerkandidaten für die Wahl
im Herbst 2002 wünschten. Nur 30 Pro-
zent der Unionsanhänger sprachen sich
zugunsten von Merkel aus. Sogar unter al-
len 1271 Befragten lag Stoiber noch leicht
vor Merkel.
Die große Koalition wird nicht gleich
auseinanderfallen am Tag nach den Wah-
len in Sachsen und Brandenburg. Die
CDU will das ohnehin nicht. Die SPD will
erst zum Jahresende auf einem Parteitag
entscheiden. Unberührt werden die Ver-
luste in den beiden ostdeutschen Ländern
aber das fragile Bündnis in Berlin nicht
lassen. Eingepreist oder nicht.

POTSDAM, 1. September. Es klingt wie
eine Drohung. Viele hätten gesagt, dass
nach der Wahl hoffentlich alles vorbei sei,
sagt Andreas Kalbitz, Spitzenkandidat der
Brandenburger AfD, seinen Anhängern
bei der Wahlparty am Sonntagabend in
Werder (Havel). Und kündigt an: „Gar
nichts ist vorbei, es geht jetzt erst richtig
los.“ Sein Parteifreund Björn Höcke, der
aus Thüringen gekommen ist, um mit der
Brandenburger AfD zu feiern, sagt dieser
Zeitung: „Das ist eine friedliche Revoluti-
on an der Wahlurne, die wir heute erlebt
haben.“
Es ist vor allem die Stärke der AfD, die
bei diesen Wahlen für bundesweites Inter-
esse sorgt. Vor fünf Jahren waren Sachsen
und Brandenburg die beiden Länder, in de-
nen die AfD erstmals in Landesparlamen-
te einzog, mit fast 10 Prozent in Sachsen
und gut 12 Prozent in Brandenburg. Heute
sitzt die Partei in allen Landesparlamen-
ten und im Bundestag, kann als konsoli-
diert gelten. Die Hochrechnungen nach
den Landtagswahlen zeigten am Sonntag-
abend in Brandenburg ungefähr eine Ver-
doppelung, in Sachsen sogar fast eine Ver-
dreifachung ihres Stimmenanteils. Eine
solche Zustimmung haben die Rechtspo-
pulisten bundesweit noch nicht erreicht –
mit Ausnahme der Landtagswahl in Sach-
sen-Anhalt im März 2016, als die AfD auf
24,3 Prozent kam und zweitstärkste Kraft
hinter der CDU wurde. Schon damals hat
dieser Erfolg der AfD dazu geführt, dass
eine Regierungskoalition mit drei Part-
nern (CDU, SPD, Grüne) gebildet wurde.
Die AfD wollte sich in ihrem Wahl-
kampf in Sachsen und Brandenburg in die
Tradition der Wiedervereinigung vor 30
Jahren stellen. Sie klebte Slogans wie
„Wende 2.0“ oder „Vollende die Wende“,
was ehemalige DDR-Bürgerrechtler em-
pörte. Das Vorgehen der AfD schien aller-
dings geschickt. Denn die Berufung auf
das deutsche Volk und auf einen bestimm-
ten Nationalismus spielte zu Wendezeiten
eine Rolle. Im Osten führende AfD-Politi-
ker wie Andreas Kalbitz in Brandenburg
und Björn Höcke in Thüringen, aber auch
der Bundesvorsitzende Alexander Gau-
land kommen aus dem Westen. Den Auf-
bau einer Partei, die weit rechts und natio-
nalistisch orientiert ist, sahen sie in Ost-
deutschland als besonders aussichtsreich
an. Die Erfolge der NPD in Sachsen –

2004 erreichte sie bei den Landtagswah-
len 9,2 Prozent – und der DVU in Branden-
burg – 6,1 Prozent im selben Jahr – hatten
schon Jahre vorher darauf hingewiesen,
dass ein größeres Wählerpotential auf der
äußersten Rechten vorhanden war.
Was aber bedeutet der Erfolg in Sach-
sen und Brandenburg für die AfD? Zualler-
erst eine Stärkung des rechtsradikalen
„Flügels“ der Partei, der von Höcke und
Kalbitz geführt wird. Es gilt als wahr-
scheinlich, dass sich dieser gewachsene
Einfluss bei den Vorstandswahlen auf
dem Bundesparteitag der AfD im Dezem-
ber niederschlagen wird. Allerdings hat
Kalbitz schon seinen Verzicht auf eine
Kandidatur erklärt – seine zahlreichen
Verbindungen zu rechtsextremistischen
Organisationen, von denen vor der Wahl
weitere bekannt wurden, verhindern eine
solche Kandidatur. Ähnliches gilt für Hö-
cke, der gern über Thüringen hinaus Kar-
riere machen würde, aber wegen seiner
Rechtsaußen-Positionen in der Partei
kaum mehrheitsfähig wäre. Dennoch
könnte ein Politiker aus dem Osten mit an
die Spitze der Partei gewählt werden, der
entweder aus dem „Flügel“ kommt oder
ihm nahesteht, wie etwa der sächsische
Bundestagsabgeordnete Tino Chrupalla
aus Görlitz, der bei der Bundestagswahl
seinen Wahlkreis gegen Michael Kretsch-
mer gewann. Der 78 Jahre alte Parteivor-
sitzende Alexander Gauland trägt sich mit
dem Gedanken, nicht wieder zu kandidie-
ren. Festlegen will er sich darauf aller-
dings nicht – nach der Erfahrung des Bun-
desparteitags in Hannover Ende 2017. Da-
mals hatte Gauland erst kandidiert, nach-
dem der „Flügel“ eine Wahl des Berliner
AfD-Vorsitzenden Georg Pazderski verhin-
dert hatte und der Parteitag fast Doris von
Sayn-Wittgenstein zur Vorsitzenden ge-
wählt hätte – jene Frau, die nun auf An-
trag des Bundesvorstands vom Schiedsge-
richt der AfD wegen der Unterstützung ei-
nes rechtsextremen Vereins ausgeschlos-
sen wurde. Der Erfolg in Sachsen und
Brandenburg und damit die Stärkung des
Flügels könnten sich allerdings auch als
Bumerang für die AfD erweisen: Denn
eine damit verbundene weitere Radikali-
sierung der Partei könnte zu Austritten
und auch zu Verlusten bei den Wählern in
den konservativen Milieus in Westdeutsch-
land führen. (tobs./mwe.)

POTSDAM/BERLIN, 1. September. In
der 17. Etage des Mercure-Hotels in Pots-
dam staut sich heiße Luft. Dicht gedrängt
stehen Grünen-Anhänger beieinander, sie
wollen mal so richtig feiern an diesem
Abend. Vor ein paar Wochen stand die Par-
tei bei 13, 14 Prozent, zwischendurch so-
gar schon mal bei 17. Man traut den Um-
fragen, schließlich hatten die sich in Bay-
ern, Hessen und bei der Europawahl auch
bewahrheitet. „Unsere Themen sind in
Brandenburg angekommen“, so hat es die
brandenburgische Spitzenkandidatin Ur-
sula Nonnemacher ein paar Tage vor der
Wahl festgestellt. Um 18 Uhr sollte der Be-
weis geliefert werden, dass auch der Osten
Deutschlands durchgegrünt ist. Doch der
Balken, der auf dem großen Bildschirm er-
scheint, bleibt bei zehn Prozent stehen. In
Sachsen landen die Grünen bei acht Pro-
zent. Einstellig. Das sind die Grünen nicht
mehr gewohnt. In beiden Bundesländern
haben sie ihr Ergebnis der letzten Land-
tagswahl deutlich gesteigert. Und trotz-
dem wirkt es wie eine Niederlage.
„Erwartungsmanagement“ ist ein Wort,
das die Grünen gerne benutzen. Die vie-
len neuen Mitglieder, der Andrang bei öf-
fentlichen Auftritten der Parteivorsitzen-
den – darüber haben sich die Grünen ge-
freut, aber es schwang auch immer die Sor-
ge mit, zu enttäuschen. Die Grünen wis-
sen, dass sie eine Projektionsfläche für un-
erfüllbare Wünsche sind. Und dass ein
Hype so schnell wieder verschwinden
kann, wie er gekommen ist. Wenn der Er-
folgs-Nimbus erste Kratzer bekommt,
kann das ganz schnell gehen.
Auf den vergangenen Wahlpartys spra-
chen grüne Spitzenpolitiker von Demut.
Jetzt musste Annalena Baerbock den Bran-
denburger Grünen Mut machen. Sie erin-
nerte die Partei daran, dass man sich über
dieses Ergebnis früher unbändig gefreut
hätte. „Sonst haben wir nicht geschwitzt,
sondern gezittert, dass wir in den Landtag
einziehen“, ruft die Parteivorsitzende, die
bis 2013 den brandenburgischen Landes-
verband geführt hat. Zwischen 1994 und
2009 waren die Grünen in Brandenburg
nur außerparlamentarische Opposition.
Man sei immer stärker und stärker gewor-
den, sagt Baerbock. „Und es geht noch wei-
ter“, ruft sie.

Doch erstmal muss das Ergebnis verar-
beitet werden. Schnell hatte der Bundes-
vorstand zusammen mit den Spitzenkandi-
daten der beiden Länder eine Sprachrege-
lung gefunden: Man habe in den vergange-
nen Tagen von vielen Wählern gehört,
dass sie eigentlich grün wählen wollten,
aber sich aus taktischen Gründen doch an-
ders entschieden hätten. Die Angst, dass
die AfD stärkste Kraft werden könnte,
habe die Brandenburger zur SPD und die
Sachsen zur CDU getrieben. So ist es am
Abend auf allen Kanälen zu hören. Zwar
gibt es noch keine Daten, die diese Annah-
me stützen, immerhin klingt sie plausibel.
In Brandenburg hatte es schon Gedanken-
spiele gegeben, wie man einen Parlaments-
präsidenten der AfD verhindern könnte.
Allerdings hatten sich die Grünen selbst
als Gegenpol zur AfD positioniert und die
Landtagswahlen zur entscheidenden
Schlacht stilisiert: Mut und Menschlich-
keit oder Hass und Hetze, so lautete die
Formel.
Die Brandenburgische Spitzenkandida-
tin Nonnemacher sagt am Abend, man
müsse darüber reden, warum nicht jede
Umfrage eins zu eins in Wählerstimmen
umgesetzt worden sei. Und dann lobt sie
auch schon wieder und rechnet vor, dass
man wegen der gestiegenen Wahlbeteili-
gung wohl das Ergebnis der Europawahl
vom Mai gehalten habe. Da lagen die Bran-
denburger Grünen bei 12,3 Prozent.
Die Grünen sperren sich in Branden-
burg nicht gegen Rot-Rot-Grün. Den meis-
ten im Land ist das lieber als ein Kenia-
Bündnis, auch wenn Rot-Schwarz-Grün
eine stabilere Mehrheit hätte. Man werde
aber die bisherige Regierung nicht einfach
mit grünen Stimmen verlängern, sagt Non-
nemacher am Abend. Auf die Inhalte kom-
me es an. Baerbock will an diesem Abend
noch keine „roten Linien“ ziehen. In Bran-
denburg gibt es ohne die Grünen keine
Mehrheit, anders als in Sachsen, wo die
Partei – entgegen der Erwartungen – für
die Regierungsbildung möglicherweise
gar nicht nötig ist.
Zwei Stunden später brandet im Mercu-
re-Hotel noch mal Applaus auf. Marie
Schäffer hat das Direktmandat für die Grü-
nen in Potsdam gewonnen. Das erste Mal
in der Geschichte der Brandenburger Grü-
nen. Immerhin. (bub.)

Triumph der Radikalen


Was bedeutet das Ergebnis für die Bundes-AfD?


Quellen: ARD; ZDF; Amt für Statistik Berlin-Brandenburg / Fotos Klemm, Thiel, dpa / F.A.Z.-Grafik Heumann

Landtagswahl in Brandenburg
Ministerpräsidenten, Koalitionen und Stimmanteile in Prozent1)

26,

10,

4,

10,

23,

SPD

Grüne

FDP

5,0 BVB/FW3)

Linke

AfD
15,6 CDU

1990 1994 1999 2004 2009 2014 2019

SPD

Manfred Stolpe, SPD
1990 –

Matthias Platzeck, SPD
2002 –

Bündnis 90 CDU Linke
FDP

CDU

DVU

NPD2)

PDS/Linke

FDP

SPD

Grüne

1) Stimmenanteile ausgewählter Parteien seit 1990. 2) NPD 1990: 0,1 und 1999: 0,7 Prozent. 3) Brandenburger Vereinigte Bürgerver-
einigungen/Freie Wähler.

29,
18,

26,

19,4 19,

23,

38,

54 ,

39,

31,9 33,0 31,

13,4 18 ,

23,

28,0 27,

18,
6,

2 , 2 1,9 3,

7,

1,

12,
2,

6,4 1, (^9) 3,
5,
5,3 6,1 6,
0,1 0,7 1,12,
2,22,
29,
18,
26,
19,4 19,
23,
38,238,238,
54,154,154,
39,339,339,
31,931,931,9 33,033,033,0 31,931,931,
13,4 18,
23,
28,0 27,
18,
6,
2,2 1,9 3,
7,
1,
12,
2,
6,4 1,9 3,
5,
5,3 6,16,16,1 6,
0,10,10,1 0,70,70,7 1,11,11,12,62,62,
2,22,22,22,72,72,
Dietmar Woidke, SPD
seit 2013
Wahlbeteiligung
2019: 61,
2014: 47,
Ergebnis nach
Auszählung aller
Wahlbezirke
Alles schon längst eingepreist
Eine Partei sieht rot:die drei kommissarischen SPD-Vorsitzenden Schwesig, Schäfer-Gümbel und Dreyer am Wahlabend im Willy-Brandt-Haus Foto Reuters
Opfer der Zweikämpfe?
Die Grünen legen zu, doch viele hatten sich mehr erhofft
Quellen: ARD; ZDF; Statistisches Landesamt, Statistisches Bundesamt Fotos Reuters, Thiel, ddp, dpa / F.A.Z.-Grafik heu./pir.
1990 1994 1999 2004 2009 2014 2019
7,7/7,
10,3/10,
4,3/4,
8,4/8,
27,9/27,
SPD
Linke
FDP
Grüne
AfD
32,4/32,2 CDU
CDU
Kurt Biedenkopf, CDU
1990 –
Georg Milbradt, CDU
2002 –
SPD FDP SPD
CDU
NPD
PDS/Linke
FDP
SPD
Grüne



  1. Stimmenanteile ausgewählter Parteien seit 1990 in Prozent. 2) Für NPD 2019 lag noch kein Wert vor.
    53,
    58,1 56,
    41,1 40,
    39,
    19,
    16,
    10,7 9,8 10,4 12,
    9,
    10,2 16,
    22,2 23,6 20,
    18,
    5,
    1,7 5,
    10,
    1,
    4,1 2,6 5,
    4,9NPD
    0,7 NPD 1,4 5,1 6,4 3,
    53,
    58,1 56,
    41,1 40,
    39,
    19,119,119,
    16,616,616,
    10,710,710,7 9,89,89,8 10,410,410,4 12,412,412,
    9,79,79,
    10,2 16,
    22,2 23,6 20,
    18,
    5,
    1,7 5,
    10,
    1,
    4,1 2,6 5,
    4,9NPD
    0,7 NPD 1,4 5,1 6,4 3,
    9,29,
    5,65,
    Stanislaw Tillich, CDU
    2008–
    Michael Kretschmer, CDU
    seit 2017
    Landtagswahl in Sachsen 2019
    Ministerpräsidenten, Koalitionen und Stimmanteile in Prozent1)
    Hochrechnungen


  2. von ARD/ZDF
    Stand 22.45 Uhr
    Wahlbeteiligung
    2019: 65,
    2014: 49,
    Inden Parteizentralen
    von CDU und SPD wird
    nicht geglaubt, dass die
    Wahlen im Osten
    Folgen haben werden –
    das erwies sich schon
    früher als Irrtum.
    Von Peter Carstens
    und Eckart Lohse



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