Die AfD greift dies dankbar auf. Sie
stimmt ein in die Volksverräterchöre und
diffamiert die politische Konkurrenz als
realitätsferne Altparteien.
Da hilft es auch nichts, dass die Kanz-
lerin aus dem Osten kommt. Das macht
es vielleicht sogar noch schlimmer, weil es
eine der ihren ist, von der sie sich verraten
fühlen. AfD-Chef Alexander Gauland hat
auch vor diesem Hintergrund die Parole
herausgegeben, die Kanzlerin zu »jagen«.
Im Sommer 2015 kamen Syrer, Afgha-
nen, Tunesier und Libyer. Und die Ost-
deutschen, sagt Kollmorgen, hätten sich
gefragt: Was haben die denn geleistet? Wir
haben hart gearbeitet, und die bekommen
das Westgeld fürs Nichtstun? Und warum
flüchten eigentlich nur junge Männer? Lun-
gern auf den zentralen Plätzen der Stadt
in der Sonne, während wir in der Firma
malochen gehen? Und wieder sei da das
Gefühl, dass auf einmal genug Geld da sei.
Für andere.
Der Frust suchte sich ein Ventil, je pro-
vokanter, desto besser. Da kam die AfD
gerade recht. Die Universität Leipzig hat
2016 analysiert, dass sich Menschen we-
gen ihrer Einstellung zu Flüchtlingen mit
der Partei identifizieren. Die einen, die
Modernisierungsverlierer, lehnten die
Migranten als Konkurrenz um Arbeits-
plätze und Sozialleistungen ab. Die ande-
ren sähen in dem Zustrom eine »Gefahr
für die kulturelle Homogenität der Gesell-
schaft«. Letztere seien in der AfD in der
Mehrheit.
Rudolf Lenke ist einer jener Menschen,
die sich von den bisherigen Volksparteien
abgewendet haben und derentwegen SPD-
Mann Platzeck die Demokratie inzwi-
18 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019
Titel
Neue Mitbürger
Ausländeranteil 2018 und die Veränderung
gegenüber 1991, jeweils in Prozent
Quelle:
Statistisches
Bundesamt
Anteil Veränderung
728
655
535
476
333
130
+ 124
121
111
104
102
90
63
62
58
45
Berlin
Bremen
Hessen
Hamburg
Baden-Württ.
NRW
Bayern
Saarland
Rheinland-Pfalz
Niedersachsen
Schlesw.-Holst.
Sachsen-Anhalt
Sachsen
Thüringen
Brandenburg
Meckl.-Vorpom.
21,
19,
17,
16,
16,
14,
14,
12,
11,
10,
8,
5,
5,
5,
5,
4,
als das Land Berlin Einwohner hat. Etliche
Städte und Dörfer verloren die Hälfte ihrer
Bevölkerung.
Im aktuellen Jahresbericht der Bundes-
regierung zum Stand der deutschen Ein-
heit heißt es lapidar: »Auch 2020 wird die
Wirtschaftskraft in den neuen Ländern
noch deutlich schwächer sein als in den al-
ten Ländern.«
Das ist die eine Wahrheit. Eine andere ist
deutlich optimistischer. Die Gehälter sind
im Osten niedriger, ja, aber auch die Mieten
und die Immobilienpreise. Familien finden
leichter eine Kita. Die durchschnittlichen
Renten von Männern und Frauen sind im
Osten sogar leicht höher. Die Agentur Prog-
nos hat die Lebensqualität in den 16 deut-
schen Bundesländern untersucht: Bis auf
Sachsen-Anhalt liegen alle ostdeutschen
Länder im Bundesschnitt oder darüber.
Mecklenburg-Vorpommern hat Bayern
als beliebtestes Sommerurlaubsland der
Deutschen abgelöst. Und in der Frage, wo
junge Menschen am besten auf die Zu-
kunft vorbereitet werden, liegt der Osten
ganz vorn: Die Kindergärten, Schulen und
Hochschulen sind in Sachsen bundesweit
am besten, so eine Untersuchung der Ini-
tiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Thü-
ringen landet auf Platz drei.
Und doch scheinen diese Erfolgsmeldun-
gen nicht gegen das Gefühl der Benachtei-
ligung zu helfen. Als das Umfrage institut
dimap 2018 die Sachsen befragen ließ, fühl-
ten sich 52 Prozent von ihnen als Bürger
zweiter Klasse. Vor allem Ältere waren
überdurchschnittlich häufig dieser Meinung.
Während der Finanzkrise der Jahre
2008/09, glaubt Kollmorgen, fühlten sie
sich in ihrer Annahme bestätigt. Die Ost-
deutschen waren davon nicht besonders
betroffen. Aber sie erlebten, wie der Staat,
der die Gelder für den Solidarpakt weiter
gekürzt hatte und weniger in den Osten
investierte, plötzlich Milliarden für die
Bankenrettung übrig hatte und nebenbei
auch noch Griechenland helfen konnte.
Der Soziologe spricht von »Nacken-
schlägen« für die Bürger, mit Folgen für
die politische Landschaft: »Wie sich die
Ostdeutschen zu den etablierten Parteien
verhalten? Natürlich entfernen sie sich
von ihnen bei diesen Erfahrungen.« In
der DDR fühlten sich die Menschen von
der SED und den Blockparteien verraten
und verkauft. Nun glauben sie, dass die
Eliten in der Demokratie auch nicht bes-
ser seien. »Volksverräter« skandieren sie.
Die Universität Jena hat 2018 die Thürin-
ger zur Zufriedenheit mit der Demokratie
befragt. Drei Viertel fühlten sich nicht
wirksam vertreten und waren sicher, kei-
nen Einfluss darauf zu haben, »was die
Regierung tut«. Ganze 80 Prozent waren
sich sicher, die Parteien wollten lediglich
ihre Stimme, aber beachteten ihre Inte-
ressen nicht.
schen am Rande der Krise wähnt. Lenke
ist ein Mensch, der sich lange im etablier-
ten Parteiensystem engagiert hat und ge-
wiss kein Verlierer der Einheit ist. Er hat
schlicht abgeschlossen mit der CDU, der
Kanzlerin und deren Flüchtlingspolitik.
Der kleine, kräftige Mann sitzt mit Ho-
senträgern auf blauem T-Shirt am Schreib-
tisch seines Büros, hinter ihm eine DDR-
Schrankwand mit den Pokalen seiner
eislaufenden Töchter. Er ist Zahntechniker-
meister in Zschieren, einem Stadtteil Dres-
dens. 54 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder,
Mitglied im Schützenverein. »Nicht abge-
hängt«, wie er gleich betont. Sofort nach
der Wende hat er die Firma gegründet. Das
Labor steht hinter seinem Haus, die Schul-
den sind abgezahlt. Dem Mann könnte es
materiell kaum besser gehen.
Nach 1989 engagierte sich Lenke für die
CDU. Er war Ortsverbandsvorsitzender.
Im Netz gibt es noch Bilder von 2014. Ein
dynamischer Lenke in Hemd und Jackett
wirbt mit den anderen Kandidaten für die
Kommunalwahl: »Dresden. Wir kümmern
uns drum. CDU.«
Heute geht Lenke regelmäßig montags
zu Pegida. Die CDU hat er 2015 verlassen,
am 1. September will er AfD wählen.
Was ist schiefgelaufen im Leben des
Zahntechnikers? Lenke sagt, die CDU sei
ihm nicht mehr konservativ genug gewe-
sen. Er sehne sich nach dem früheren CSU-
Vorsitzenden Franz Josef Strauß, für den
es rechts von der CSU nur noch die Wand
geben durfte. Angela Merkel habe die Par-
tei zur Mitte hin geöffnet, dies sei ein
schwerer Fehler gewesen. »Ich habe trotz-
dem noch lange die Fahne hochgehalten«,
versichert Lenke. Aber irgendwann war
eben Schluss. »Die Flüchtlingskrise war
das i-Tüpfelchen.«
Flüchtlinge aufzunehmen löse keine
Probleme, Integration funktioniere nicht.
»Wie viele wollen wir denn aufnehmen?«
Grenze dicht und eine Festung Europa:
Das hatte sich Lenke von der Kanzlerin
gewünscht. Und das Geld für Unterbrin-
gung und Verpflegung von Flüchtlingen
hätte er lieber in die Bildung investiert.
Lenke ist der berühmt-berüchtigte
besorgte Bürger. Er sagt, er sei nicht
ausländerfeindlich, er habe eine Bulgarin
in seinem Labor beschäftigt, und er reise
wegen des Sports der Töchter durch halb
Europa. Er habe kein Problem mit ande-
ren Kulturen. Die Menschen könnten
auch gern nach Deutschland kommen,
aber nur, wenn sie für sich selbst sorgten.
Und die Flüchtlinge? Man müsse Geld in
deren Heimatregionen investieren, damit
die Menschen dort bleiben wollten.
Lenke verharrt kurz hinter seinem
Schreibtisch und sagt, dass er selbst mit-
unter darüber nachdenke, ob er nun ein
Nazi sei. Der Begriff werde inzwischen so
inflationär verwendet, dass er beinahe sei-