Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

schen Separatisten der PKK, die mithilfe
der USA Syriens Nordosten unter ihre
Kontrolle gebracht haben.
Erdoğan wollte Putins Spiel spielen.
Doch in dem zählt am Ende nur militäri-
sche Stärke, und da konnte Erdoğan nicht
gewinnen. Zwar hat er, auch um sich Pu-
tins Gunst zu sichern, das russische Flug-
abwehrsystem S-400 gekauft, dessen erste
Einheiten im Juli geliefert wurden – gegen
vehementen Widerstand Washingtons.
Doch der vollständige Bruch mit der Nato
blieb aus. Moskau bekam nicht, was es
wollte – und nimmt nun stückweise An-
kara weg, was es gern hätte.
Jene zwölf schwer befestigten Militär-
basen der türkischen Armee in und um Id-
lib, die verharmlosend als »Beobachtungs-
posten« bezeichnet werden, halfen nichts:
Sobald Russland und das Assad-Regime
losschlugen, konnten die türkischen Trup-
pen den Vormarsch nicht stoppen. Auch
die drei Militärkonvois, die Ankara noch
im Verlauf des Montags als Machtdemons-
tration in den Süden Idlibs rollen ließ, ka-
men nicht weit. Zumindest der erste wurde


von Assads Jets gestoppt. Die bombardier-
ten die Fahrzeuge nicht direkt, ihre Ein-
schläge kamen nahe genug, um sie zum
Halten zu bringen.
Für Assad läuft im Moment alles nach
Plan. Drei Jahre lang ließ sein Regime nach
jeder Rückeroberung Rebellen und Op -
positionelle in Bussen nach Idlib deportie-
ren, auch um ein menschliches Antlitz zu
wahren. Doch Idlib ist Endstation. Oder
wie es Suhail al-Hassan, Kommandeur
von Assads »Tiger-Kräften« auf dem Tele-
gram-Kanal der Armee verkündete: »Ich
befehle, auf dem Schlachtfeld die Kinder
vor den Erwachsenen, die Frauen vor den
Männern umzubringen! Wir werden es
keinem Terroristen mehr gestatten, zwi-
schen uns zu leben!« 
Wer sich Assad nicht unterwirft, ist in
den Augen des Regimes ein Terrorist. Wer
in der falschen Gegend lebt, ebenso. Für
die Entkommenen aus Chan Scheichun gibt
es keine Zuflucht mehr. Zwar verhandeln
türkische und russische Emissäre zumindest
über ein Ende der Bodenoffensive, sollen
sich die HTS-Dschihadisten nun doch aus

dem Süden Idlibs zurückgezogen haben.
Doch die Luftangriffe gehen weiter, trafen
allein am Mittwoch zwei Krankenhäuser. 
Mahmud Derwisch, der Chronist des
Stadtrats von Chan Scheichun, der penibel
jeden Toten, jeden Verwundeten, jeden
Luftangriff und jede Fassbombe festhielt,
war mit Frau und Kind schon Ende Juli ge-
flohen. Nach Ariha, ins Zentrum der Pro-
vinz. Auch dort bombardierten Jets am
Freitag vergangener Woche wieder Wohn-
viertel. 
Badria Barakat, 81 Jahre alt, lebt in Ari-
ha mit ihrer Enkelin Ghazal. Ihre Söhne
kämpfen in Assads Armee, ihre Töchter
sind geflohen nach Deutschland und Alep-
po. Barakat saß vor ihrem Haus, als eine
Rakete in der Nähe einschlug, sie warf sich
schützend vor ihre Enkelin. Splitter trafen
sie in Bauch, Schulter und Kopf. Nach
einer Notoperation hat sie überlebt, mit
einem Splitter im Kopf, den niemand ent-
fernen kann, verzweifelt, allein, fragend:
»Wo soll ich hin?« 
Susanne Koelbl, Christoph Reuter

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019 85


ABDULLAH HAMMAM / AFP
Helfer bergen Opfer nach einem Luftangriff in Idlib: »Wer auf der Straße war, wurde beschossen«
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