P.M. History - 09.2019

(nextflipdebug2) #1

Die Pocken haben verschiedene
Kulturen offenbar bereits vor Jahr­
tausenden heimgesucht. Im antiken
China sollen sie um 1120 v. Chr. ihre
Opfer gefunden haben. Die prophylak­
tische Maßnahme der Inokulation, auf
die ich weiter unten eingehen werde,
wird in chinesischen Texten beschrie­
ben, die auf das sechste vorchristliche
Jahrhundert datiert werden. In ägypti­
schen Papyri finden sich offenbar keine
Hinweise auf die Krankheit, doch hat
man an der Mumie des um 1157 v. Chr.
verstorbenen Pharao Ramses V. Verän­
derungen im Gesicht gefunden, die für
Pockennarben gehalten werden. Das
antike Europa scheint weitgehend ver­
schont geblieben zu sein; die Pocken
kamen vor allem in Asien und Afrika
vor und begleiteten die Gründer des
Islam von der Arabischen Halbinsel ins
Zweistromland und nach Nordafrika.
Um etwa 910 verfasste der in Bagdad
wirkende persische Arzt Rhazes eine
exzellente Beschreibung mit dem Titel
"Abhandlung über die Pocken und die
Masern". In dieser wird erstmals eine
Trennlinie zwischen den beiden mit
Hauteruptionen auftretenden Krank­
heiten gezogen; bemerkenswerterwei­
se hielt Rhazes die Masern für das ge­
fährlichere Leiden!


N

ach Europa kamen die Po­
cken im Mittelalter. Als Vektor,
Krankheitsüberträger, werden
die Hunnen genannt, was zutreffen
mag - oder der uralten Neigung ge­
schuldet ist, Fremden und Feinden alle
denkbaren infernalischen Eigenschaf­
ten zuzuschreiben. Um das Jahr 1000
jedenfalls hatten weite Teile Europas
Bekanntschaft mit den Pocken ge­
macht; lediglich nach Skandinavien,
Russland und Island war die Seuche
nicht vorgedrungen. Das Schicksal Is­
lands war typisch für die Katastrophe,
die der Kontakt der Variola-Viren mit
einer Population bedeutet, die über kei­
nerlei Immunität gegen diese Erreger
verfügte. Im Jahr 1241 brachte ein däni­
sches Schiff die Viren auf die Insel; nach


Pocken

PROFITEUR Konquistador Hernan Cortes- hier in der Schlacht von Otumba 1520 -
besiegt mit seinen Truppen das von den Pocken schwer dezimierte Volk der Azteken

wenigen Wochen waren 20 000 der dort
lebenden Nordeuropäer tot -was etwa
40 Prozent der Gesamtbevölkerung Is­
lands entsprach. Diese Tragödie spielte
sich in noch weit größerer Dimension
ab, als die europäischen Entdecker und
Eroberer nach 1500 die Pocken in die
Neue Welt einschleppten. Sie töteten
weit mehr Ureinwohner als es die Ar­
kebusen, Musketen und Degen der Ein­
dringlinge je vermocht hätten. Hernein
Cortes konnte 1519 bis 1521 mit seinen
600 Soldaten die Hochkultur der Azte­
ken nur deshalb erobern, weil unter den
Einwohnern Mexikos das große Sterben
umging. Zunächst vor der Hauptstadt
Tenochtitlan zurückgeschlagen, erwar­
teten die Konquistadoren einen Gegen­
angriff der Azteken, der indes nie kam.
Stattdessen eroberten Cortes und
seine Männer die Stadt; einer der Spa­
nier berichtete von dem Grauen, das sie
dort erwartete: "Die Häuser und Gehöf­
te waren voller Leichen. In den Straßen
und auf den Plätzen war es das Gleiche,
man konnte kaum einen Fuß setzen,
ohne auf den Körper eines Indianers zu
treten. Der Gestank war so schlimm,
dass keiner ihn aushalten konnte." In
Mexiko sollen von 25 Millionen etwa

18 Millionen Ureinwohner den Pocken
zum Opfer gefallen sein.
Es war nicht die einzige Hochkultur
in der Neuen Welt, die von den Pocken
so dezimiert wurde, dass die christli­
chen Eroberer leichtes Spiel hatten. Um
1526 erreichten die Pocken das Reich
der Inka. Binnen zehn Jahren kamen
durch diese und andere von den Spa­
niern eingeschleppte Krankheiten wie
Influenza, Diphtherie und Typhus zwi­
schen 50 und 90 Prozent der Bewohner
um. Dem Konquistador Francisco Pizar­
ro genügte 1532 eine bescheidene Ar­
mee von 110 Fußsoldaten und 67 Kaval­
leristen zur Eroberung des durch diese
Infektionskrankheiten und einen Bür­
gerkrieg angeschlagenen Imperiums.

D

ie Anfälligkeit der amerikani­
schen Ureinwohner für die Po­
cken wurde auch später noch
von den Eroberern ausgenutzt, ja so­
gar gezielt eingesetzt. Zwischen dem
Oberbefehlshaber der britischen Armee
in Nordamerika, Sir Jeffrey Amherst,
und seinem an der Grenze der Kolo­
nie Pennsylvania zum Indianergebiet
stationierten Kommandanten, Colo­
nel Henry Bouquet, ist die folgende
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