Focus - 16.08.2019

(Sean Pound) #1
STREITGESPRÄCHSTREITGESPRÄCH

FOCUS 34/2019


trie über 20 Jahre lang mit jeweils zwei
Milliarden Euro bei den Stromkosten
entlastet werden. Das sind die zweiten
40 Milliarden Euro.
Plus die Kosten für die Entschädigung
der Unternehmen?
Schmitz: Wenn wir genehmigte Anlagen
aus politischen Gründen deutlich früher
schließen müssen als geplant, haben die
Unternehmen und ihre Eigentümer, die
Aktionäre, ein Recht auf Entschädigung.
Baerbock: Na ja, Kohlekraftwerke aus
der Zeit von Konrad Adenauer sind längst
abgeschrieben. Die brauchen auch keine
Entschädigung. Es geht hier schließlich
um das Geld von Steuerzahlern.
Schmitz: Das stimmt so nicht, aber es
gibt noch ein größeres Problem, und das
betrifft die Tagebaue. Wenn wir den Tage-
bau Hambach vorzeitig schließen, blei-
ben da 1,1 Milliarden Tonnen Kohle in der
Erde. Das ist die Hälfte unserer gesamten
Kohlevorräte, mit denen wir gerechnet
haben. Vor allem aber brauchen wir ein
komplett neues Rekultivierungskonzept,
wenn der Hambacher Forst als Halbinsel
stehen bleiben soll, um die Böschungen
des Tagebaus standsicher zu machen. Das
alles kostet sehr viel Geld und muss neu
genehmigt werden.
Der Streit um den Hambacher Forst
ist zum Symbol geworden. Geht es im
Kampf gegen den Klimawandel nicht
ohne Symbole, Frau Baerbock?
Baerbock: Erstens reden wir von einem
jahrhundertealten Wald, einem der letz-
ten großen Mischwälder in Mitteleuropa
mit einem einzigartigen Ökosystem, und
nicht bloß von einem „Forst“. Zweitens
ist es doch absurd, wenn die Bundesre-
gierung einerseits für Hunderte von Mil-
lionen Euro neue Bäume pflanzen will,
und andererseits alte abgeholzt werden,
die große Mengen an CO 2 speichern,
um noch mehr CO 2 in die Luft blasen zu
können. Und drittens, ja, auch Symbole
machen deutlich, worum es geht.
Schmitz: Aber bitte nicht mit Gewalt
und vermummten Demonstranten, die
in Tagebaue eindringen und damit sich
und andere in Lebensgefahr bringen. Was
ich bei den Protesten und Besetzungen
im rheinischen Revier erlebt habe, war
teilweise kriminell.
Heiligt der Zweck die Mittel, wenn
es um eine gute Sache wie den Klima-
schutz geht, Frau Baerbock?
Baerbock: Nein. Ich trenne hier klar:
Gewalt lehne ich ab. Aber in Deutschland,
in unserem demokratischen Rechtsstaat,
haben wir die Tradition von verschiede-
nen Formen des zivilen Ungehorsams. Sie
sind Teil unserer demokratischen Kultur.


Schmitz: Das sehen aber Grünen-nahe
Umweltaktivisten anders. Mir macht das
große Sorgen. Wenn ich mit Umweltver-
bänden am Tisch sitze, und wir reden
über den Hambacher Forst, und ich sage
hinterher, wir kommen jetzt im Moment
noch nicht klar, aber lasst uns bitte
gemeinschaftlich einen Aufruf gegen
Gewalt machen, und die sagen mir dann:
Nee, können wir nicht machen mit Ihnen.
Da hört es bei mir auf.
Baerbock: Wie gesagt, bei Gewalt ziehen
wir eine klare Grenze. Klar ist aber auch:
Ohne die Umweltbewegung und die gro-
ßen Klimaproteste wären wir heute nicht
da, wo wir sind.
Schmitz: Aber es waren nicht die Umwelt-
verbände, der Treiber war die Politik.
Baerbock: Das stimmt nicht. Jahrzehnte-
lang haben die Umweltverbände Klima-
schutz vorangetrieben. Und bis vor Kurzem
wurden sie – wie auch wir – noch ausge-
lacht für den Kohleausstieg. Nehmen Sie
die Kohlekommission. Es war nicht leicht
für Greenpeace, da überhaupt mit reinzu-
gehen. Aber der Schritt hat bewiesen, wie
sinnvoll es ist, unterschiedliche Akteure an
einen Tisch zu bekommen.
Schmitz: Wie viel Greenpeace in der
Gesellschaft bewegt hat, weiß ich nicht
so genau. Aber selbst wenn, sollten sie
sich jetzt auch an den Kompromiss halten,
den sie unterschrieben haben.
Hilft es dem Klima, wenn wir neue,
moderne Kraftwerke wie Datteln noch vor
Inbetriebnahme schließen und dafür
Kohlestrom aus weniger sauberen Kraft-
werken in Polen oder Tschechien beziehen?
Schmitz: Wenn das Kraftwerk Datteln
ans Netz geht, ist das eine Entscheidung
für mindestens 20 weitere Jahre ...
Baerbock: ... genau das ist das Problem.
In 20 Jahren müssen wir raus sein aus
der Kohle.
Ohne Kohle geht es offenbar nicht. Wir
sind ja in letzter Zeit mehrfach nur knapp
an einem Blackout vorbeigeschrammt.
Schmitz: Es gab zuletzt kritische Situ-
ationen bei der Netzstabilität, aber das
hatte nichts mit der Kohle zu tun. Natür-
lich brauchen wir genug Ausweichkapa-
zitäten, wenn der Wind nicht bläst und
die Sonne nicht scheint. Aber das muss
nicht unbedingt Kohle sein, sondern kann
auch mit Gaskraftwerken geregelt wer-
den. Aber wenn wir nur die Kohlekraft-
werke schließen, dann geht es schief.
Baerbock: Und deswegen hilft es auch
nicht, wenn die Bundesregierung zwar
von Klimaschutz redet, aber gleichzeitig
den Ausbau der erneuerbaren Energien
abwürgt. So schaffen wir die Klimaziele
nie – und Tausende von Arbeitsplät-

„Ohne die


großen


Klimapro-


teste wären


wir heute


nicht da, wo


wir sind“


Annalena Baerbock
Free download pdf