Die Welt Kompakt - 19.08.2019

(Steven Felgate) #1
soll. Oder wie der Westen es sich
wünscht: „Ihr müsst so werden,
wie wir glauben, dass wir sind“,
schreibt der Historiker Ilko-Sa-
scha Kowalczukin seinem pünkt-
lich zu 30 Jahren Mauerfall und
vor dem heißen Ostwahlherbst
erscheinenden Buch „Die Über-
nahme“, das hiermit dringend
empfohlen sei. „Die Konstruktion
‚des Ostdeutschen‘“ heißt ein Ka-
pitel auch bei ihm: „Seit 1990 wird
gebetsmühlenartig wiederholt,
wir müssten uns unsere Ge-
schichten erzählen. Tatsächlich
gemeint war aber, Ostler sollten
Westlern ihre Geschichte erzäh-
len. ‚Seine Geschichte‘ muss nur
das unbekannte Wesen erzählen.“
Radiosender lassen ihre Zuhö-
rer über die 100 besten Ostsongs
abstimmen. Trifft Hansa Rostock
auf den Chemnitzer FC, ist es ein
Ostderby. Man kennt Ostcomics,
Ostschauspieler und die Ostalgie,
die allerdings vom Westen einge-
führt wurde, von MDR bis RTL,
um auch den Westdeutschen ein-
mal als fremdes Wesen dastehen
zu lassen. Unvergessen die An-
fang der Neunzigerjahre von
Franz Josef Wagner geführte „Su-
per!“-Zeitung für den Osten mit
der Schlagzeile: „Angeber-Wessi
mit Bierflasche erschlagen – ganz
Bernau ist glücklich, dass er tot

ist“. Das Normale ist das West-
deutsche, auch heute noch. Die
100 besten Westsongs gibt es
nicht, es gibt kein Westderby zwi-
schen dem FC Heidenheim und
Holstein Kiel, und es gibt zwar
das Phänomen der Westalgie,
aber keinen Begriff dafür.
Der Westen schreibt dem Ost-
deutschen noch immer die Iden-
tität zu, und dem Ostdeutschen
bleibt keine andere Wahl, als die
identitären Zuschreibungen zu
erwidern. Westdeutsche wirken
dann nicht mehr weltoffener,
selbstbewusster und erfolgs-
hungriger, sondern großspuriger,
egozentrischer und rücksichtslo-
ser. Ostdeutsche wirken dann
nicht mehr provinzieller, harmo-
niesüchtiger und verzagter, son-
dern heimatliebender, zurückhal-
tender und genügsamer. Das kul-
turelle Machtgefälle drückt sich
auch im Ich aus, das der West-
deutsche dem Wir des Ostdeut-
schen entgegenstellt. Am
zwangskollektivierenden Wir be-
sitzt der Westen aber keine ex-
klusiven Rechte. Dieses Wir
bringt auch der Osten selbst in
Stellung, um sich seiner selbst zu
vergewissern, sich zu wärmen
und zu wehren.
Ich war lange überzeugt, der
Ostdeutsche würde von selbst

verschwinden. Dann kamen die
Zonenkinder als „Dritte Genera-
tion Ost“, die aus ihren Erinne-
rungen an eine bewegte Kindheit
in den Neunzigern und an den
Einheitsschock der Eltern ein so
rigoroses Ostdeutschsein entwic-
keln konnten, zu dem ich aus
meinen eigenen Erinnerungen an
die DDR nie in der Lage sein wer-
de. Sogar die Generation Z eifert
dem Ostkult nach, dem neuen
Wir, was ihre Angehörigen in
Umfragen auch gern zu Protokoll
geben. Vom Ossi, dem ge-
schrumpften Ostdeutschen,
spricht niemand mehr. Er ist er-
wachsen und möchte auch so be-
handelt werden.
Neulich war ich in der Prignitz,
im Land Brandenburg. Die AfD
wirbt dort zwar unsittlich und
unsinnig, aber geschickt und mit
einem ganz eigenen Ge- spür
für Freund und Feind
auf ihren Wahlplaka-
ten um den Osten.
„Wende 2.0!“, „Voll-
ende die Wende!“,
„Werde Bürger-
rechtler!“, „Hol
dir dein Land
zurück!“, „Sei
dabei, wenn

Geschichte gemacht wird!“, „Die
friedliche Revolution mit dem
Stimmzettel!“, „Der Osten steht
auf!“ Der Spitzenkandidat, ein
Westdeutscher, verwandelt Ost-
deutsche wieder in Deutsche. Ge-
gen das System, den Staat, den
Westen mit einer Verräterin des
Ostens an der Spitze.
Das Dorf Blumenthal begrüßt
seine Besucher mit dem Dreisatz
„Besinnen. Bewahren. Bewegen“
und der Grundschule mit ihrem
frisch gestrichenen Emblem der
DDR an der Fassade. Grabow, die
Gemeinde der völkischen Siedler,
ist das nächste Dorf. Im über-
nächsten, Rosenwinkel, treffen
sich die Einwohner zum Früh-
schoppen, ausdrücklich ohne die
Berliner, wie sie sagen, die Berli-
ner sind die Westdeutschen, die
anderen. Ich darf als Ostdeut-
scher mit ihnen Bier trinken und
Schwein essen.
Nicht nur Jens Reichvom Neu-
en Forum und vom Bündnis 90
stellte 1990 mit der deutschen
Einheit fest, dass er zum Ost-
deutschen geworden war.
Ich bin inzwischen län-
ger Ostdeutscher als
Deutscher in der
DDR, ich scheine im-
mer ostdeutscher zu
werden.

Selbstbewusstsein oder
Identifikation mit dem
Aggressor? Kühlerfront
eines alten Trabant 500


PICTURE-ALLIANCE / ZB

/MATTHIAS HIEKEL

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