Tel Aviv– Eigentlich sollte es im Septem-
ber losgehen. Israelische Unternehmen
warten auf die versprochenen Genehmi-
gungen, damit sie ihre medizinischen Can-
nabis-Produkte endlich ausführen dürfen.
Aber das Scheitern von Israels Premiermi-
nister Benjamin Netanjahu, nach der Parla-
mentswahl im April eine Regierung zu bil-
den, hat auch Auswirkungen auf ihr Ge-
schäft. Denn die erneuten Wahlen am 17.
September haben dazu geführt, dass es zu
Verzögerungen bei der Erteilung der Ge-
nehmigungen kommt.
Die israelische Regierung hatte im ver-
gangenen Januar grünes Licht für den Ex-
port von medizinischem Cannabis erteilt.
Nach Angaben israelischer Unternehmen
gibt es auch in Deutschland Interesse an ih-
ren Produkten. In Deutschland dürfen Ärz-
te seit März 2017 Cannabis verschreiben.
Die Pflanzen für die Arzneimittel stammen
dem Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte zufolge bisher aus Kana-
da und den Niederlanden.
Cannabis ist seit mehr als 25 Jahren als
medizinisches Produkt in Israel zugelas-
sen, allerdings muss eine Kommission ihre
Zustimmung zur individuellen Verabrei-
chung geben: Im vergangenen Jahr wurde
rund 38 000 Patienten die Anwendung von
medizinischen Cannabisprodukten er-
laubt, etwa ein Drittel der stark steigenden
Anträge wird abgelehnt.
Rund 70 Unternehmen sind in Israel in
diesem Bereich tätig, sie erzielen zusam-
men einen Umsatz von umgerechnet etwa
140 Millionen Euro. Derzeit werden laut Ge-
sundheitsministerium rund 18 Tonnen
Cannabis jährlich für medizinische Zwe-
cke produziert. Die Hersteller wollen mehr
produzieren – auch für den Export. Die is-
raelische Regierung erhofft sich davon zu-
sätzliche Steuereinnahmen in Höhe von
umgerechnet 239 Millionen Euro. Die wirt-
schaftlichen Impulse werden laut einer
Studie im Auftrag der Regierung auf umge-
rechnet 1,2 Milliarden Euro geschätzt.
Weltweit boomt der Markt: Nach Ein-
schätzung des US-Marktforschungsunter-
nehmens BDS Analytics könnte der globa-
le Umsatz im legalen Cannabismarkt von
umgerechnet mehr als zehn Milliarden Eu-
ro im vergangenen Jahr auf knapp 28 Milli-
arden Euro im Jahr 2022 steigen. Israeli-
sche Unternehmen möchten sich einen gro-
ßen Anteil am weltweiten Markt sichern.
Sie haben darüber hinaus bereits eine
neue Zielgruppe zur Anwendung von Can-
nabisprodukten im Visier: Haustiere. Die
Überlegung, was Menschen hilft, könnte
auch Erleichterungen bei Schmerzen von
Tieren führen, hat zu praktischen Versu-
chen geführt. Nach ersten positiven Erfah-
rungen bei Hunden und Pferden werden
nun vom israelischen Anbieter Weedley
erste klinische Studien in Auftrag gege-
ben. Bisher werden nach Angaben des Ge-
sundheitsministeriums rund 200 Studien
in Israel durchgeführt, die sich jedoch auf
Humanmedizin konzentrieren.
Die auf Cannabis spezialisierte Bright-
field-Gruppe hat bereits eine Marktanaly-
se durchgeführt und ist zu dem Ergebnis
gekommen: Wird auch Haustieren aus me-
dizinischen Gründen Cannabis verab-
reicht, könnte dies bis 2022 weltweit Um-
sätze von bis zu einer Milliarde Euro gene-
rieren. alexandra föderl-schmid
von markus zydra
Frankfurt– ChristineMadeleine Odette
Lagarde, 63, ist eine Frau mit vielen Fähig-
keiten. In jungen Jahren reüssierte sie als
Synchronschwimmerin bei französischen
Meisterschaften. Nach dem Studium in Pa-
ris stieg sie bei der amerikanischen Groß-
kanzlei Baker&McKenzie auf. Später folg-
te die Berufung zur französischen Wirt-
schafts- und Finanzministerin. In den letz-
ten acht Jahren lenkte die Mutter zweier
längst erwachsener Kinder den Internatio-
nalen Währungsfonds (IWF). Jetzt ist sie er-
neut Novizin: Zum 1. November über-
nimmt Lagarde von Mario Draghi die Füh-
rung der Europäischen Zentralbank (EZB).
Lagarde gilt als trittsicher auf dem inter-
nationalen polit-ökonomischen Parkett. Al-
lerdings fehlt ihr langjährige Arbeitserfah-
rung in einer Notenbank und damit das
akademische Rüstzeug einer versierten
Geldpolitikerin. Sie ist studierte Juristin,
keine Ökonomin. Schafft es Lagarde, das
zu leben, was viele Notenbanker in den letz-
ten 30 Jahren zu kultivieren versuchten?
Politisch unabhängig zu sein, indem man
dem Druck der Finanzminister widersteht.
Notenbanker sind die Alchemisten der
Wirtschaft. Sie schaffen Geld aus dem
Nichts. Dieses Privileg machte die Wäh-
rungshüter in ihrer knapp 400-jährigen
Geschichte immer wieder interessant für
die Schatzmeister des Staates. Geld aus
der Druckerpresse, um Politiker als großzü-
gig dastehen zu lassen – diese Art der politi-
schen Einvernahme führte zu desaströsen
Inflationen, durch die Bevölkerungen ihr
Vermögen verloren haben. Aus diesen Er-
fahrungen erwuchs der Wunsch, den No-
tenbankern mehr Autonomie zu geben, als
Schutzwall vor der Finanzministern.
„Eine große Errungenschaft des ausge-
henden 20. Jahrhunderts war die Erlan-
gung der Unabhängigkeit der Zentralban-
ken in den westlichen Industrienationen.
So war schon die US-Notenbank Federal
Reserve seit ihrer Gründung 1913 unabhän-
gig, und auch die Bundesbank wurde 1957
so geschaffen“, sagt Stefan Bielmeier, Chef-
volkswirt der DZ Bank. Die deutsche Noten-
bank war das Vorbild für die EZB. Die politi-
sche Unabhängigkeit der Notenbanker ist
ein relativ junges Phänomen. „Nach dem
Zusammenbruch des Gold-Standards so-
wie den hohen Inflationsraten der 70er-
und frühen 80er-Jahre wollte man damit
im Kampf gegen die Inflation die Glaub-
würdigkeit stärken“, sagt Joachim Fels, Di-
rektor beim amerikanischen Vermögens-
verwalter Pimco.
Doch mit dem Ausbruch der globalen Fi-
nanzkrise vor zehn Jahren haben Noten-
banken der westlichen Industriestaaten
eine zusätzliche Funktion übernommen.
Nur sie schienen dazu fähig, das Finanzsys-
tem schnell und effektiv zu stabilisieren,
durch das Absenken des Leitzinses auf na-
he null Prozent und vor allem durch den An-
kauf von Staatsschulden. Diese lockere
Geldpolitik ohne historisches Beispiel hat
die Grenze zwischen den Sphären der No-
tenbanker und Regierungen durchlässig
gemacht. Auch in der EU.
Die neue EZB-Präsidentin Lagarde wird
sich mit diesem Erbe Draghis auseinander-
setzen müssen. Der Italiener hat viele Leit-
planken gesetzt, die Lagarde so schnell
nicht wird verschieben können. Kurz vor
seinem Abschied möchte Draghi die Geld-
politik noch weiter lockern. So gilt die Ent-
scheidung des EZB-Rats zur Erhöhung des
Strafzinses auf Bankeinlagen im Septem-
ber als sicher. Dieser Plan hat die Kritik aus
Deutschland an einer „politisierten EZB“,
der es nur um die Rettung Italiens gehe, er-
neut verschärft.
Viele Deutsche orientieren sich intellek-
tuell an der geldpolitisch strengen Bundes-
bank. Dabei wird oft unterschlagen, dass
auch Deutschlands Währungshüter in ih-
rer Geschichte deutsche Staatsanleihen ge-
kauft haben. Ebenso erlebte Deutschland
zu D-Mark-Zeiten längere Perioden, in de-
nen das Geld der Sparer real nichts mehr
abwarf. Der Streit darüber, ob die EZB zu
weit geht, akzentuiert die Frage, wo die
Grenzen verlaufen zwischen einer poli-
tisch „unabhängigen“ und „abhängigen“
Notenbank.
Geldpolitik ist, wie der Begriff schon
sagt, auch Politik, und zwar in dem Sinne,
dass sie verbindliche Rahmenbedingun-
gen setzt für den Preis des Geldes. Mit ih-
ren Maßnahmen steuern Notenbanker die
Wirtschaft und beeinflussen auch die Ver-
mögensverteilung in einem Land. Aktionä-
re und Hausbesitzer haben enorm von der
Nullzinspolitik profitiert, viele andere aber
nicht. Die EZB und andere Notenbanken
mögen sich als politisch unabhängig be-
greifen, dennoch wirkt ihre Geldpolitik in-
zwischen so stark in den Wohlfahrtsbe-
reich der Gesellschaft, dass die Frage der
Legitimation inzwischen zu Recht gestellt
wird. Schließlich sind gewählte Parlamen-
tarier für Verteilungsfragen zuständig,
und nicht die Währungshüter. Dieses
grundsätzliche Legitimationsdefizit wird
noch verstärkt durch den Fachjargon der
Währungshüter, der für den allergrößten
Teil der Gesellschaft schlicht unverständ-
lich ist. Als Beleg mögen die Reden der EZB-
Granden dienen, die auf der Homepage ein-
sehbar sind.
Inzwischen mischen sich Politiker im-
mer stärker ein in die Geldpolitik. US-Präsi-
dent Donald Trump forderte von der Fed
so lange eine Zinssenkung, bis sie schließ-
lich kam. Die amerikanische Notenbank
steht nun als Umfaller da, obwohl sie den
Schritt gut begründen konnte. Auch in Eu-
ropa gibt es Politiker, die von der EZB for-
dern, die Staatsschulden komplett zu über-
nehmen. Auch die Idee vom Helikopter-
geld kursiert, mit der Notenbank als Füll-
horn, die jedem Bürger direkt Geld über-
weist. Und dieModern Monetary Theory
aus den USA findet Anhänger. Zentralban-
ken könnten demnach problemlos Staats-
schulden finanzieren, solange das Geld in
rentable Investitionen fließe. Viele Interes-
sengruppen zerren an den Währungshü-
tern und rufen: Macht mehr, ihr Alchemis-
ten, ihr könnt es doch!
Es ist eine vertrackte Situation, denn in
den 80er-Jahren hatten Notenbanken die
besseren Argumente. Sobald die Inflation
anzog, konnte man den Geldhahn ohne gro-
ßen Widerstand zudrehen. Doch seit vielen
Jahren bleibt die Teuerung aus, trotz des
billigen Geldes. Und weil die EZB mit
knapp zwei Prozent eine bestimmte Inflati-
onsrate erreichen möchte, macht sie wei-
ter mit Nullzins und Anleihekäufen. Sie
stützt dadurch auch unrentable Banken
und fördert das Überleben von Zombieun-
ternehmen. An den Börsen entstehen ge-
fährliche Preisblasen.
Lagarde sollte die EZB aus diesem Teu-
felskreis befreien, indem sie im Clinch mit
den Politikern den Spieß umdreht und
sagt: „Ihr wollt noch mehr von uns? Nein,
wir wollen jetzt was von euch! Ihr seid da-
für zuständig, Geld in die Hand zu neh-
men, für Bildung, Brücken und Internet.
Ihr müsst die Euro-Zone krisenfest ma-
chen.“ Im Bundesfinanzministerium darf
man sich darauf einstellen, dass sich die
neue EZB-Präsidentin politisch einmi-
schen wird – für staatliche Mehrausgaben.
Lagarde muss es tun, denn Europas Wirt-
schaft schwächelt, und die EZB ist am En-
de ihrer vertretbaren Möglichkeiten.
Und eines noch: Lagarde sollte rausge-
hen zu den Bürgern Europas. Die EZB ge-
rierte sich zu lange als elitäres Hohes Ge-
richt, das in vermeintlich grenzenloser
Weisheit über den Preis des Geldes befand.
Doch dieses Wirken in der Geheimloge
kann den Herausforderungen einer immer
komplexeren Welt kaum genügen. Die Be-
legschaft der EZB hat diesen Missstand be-
merkt. Die Gewerkschaft beklagte in
einem offenen Brief „Ja-Sagertum“ in der
EZB; neue Ideen hätten kaum eine Chance.
Lagarde galt beim IWF als gute Manage-
rin, als eine, die zuhörte und auch Fehler
eingestand. Genau diese Eigenschaften
könnten der EZB jetzt gut tun.
DEFGH Nr. 190, Montag, 19. August 2019 15
Raus aus dem Teufelskreis
Christine Lagarde übernimmt im Herbst das Präsidentenamt der Europäischen Zentralbank. Die Französin trifft auf
eine verunsicherte Institution, an der viele Interessengruppen zerren. Sie könnte genau die Richtige sein
von ulrike sauer
V
or zehn Tagen ließ Matteo Salvini
seine Maske fallen und erhob An-
spruch auf die „volle Macht“. Zu
dem Entschluss drängten den Lega-Chef
neben seiner Partei auch 20 Spitzenkräfte
der italienischen Wirtschaft, lautet die of-
fizielle Version. Ob das so stimmt und wen
Salvini angerufen hat, weiß er allein. Doch
unbestreitbar genießt der Populist unter
Italiens Unternehmern Sympathie. Und
niemand ergriff das Wort, um sich die Ver-
einnahmung zu verbitten und öffentlich
auf Distanz zu gehen.
Das ist leichtfertig. Eine wirtschaftli-
che Führungsklasse, die sich vor den Pro-
pagandakarren eines rechtsnationalisti-
schen Populisten spannen lässt, verrät die
Interessen ihrer Unternehmen, ihrer Be-
schäftigten und der Jugend des Landes.
Salvinis hochsommerliche Irrfahrt ist kei-
ne der üblichen römischen Regierungskri-
sen. Dem Innenminister war nach 13 Mo-
naten Regierung die Hegemonie in der Ko-
alition mit den Cinque Stelle nicht mehr
genug. Er will „freie Hand“ haben und mit
Italiens liberaldemokratischer Tradition
brechen. Er versucht, Europas drittgrößte
Volkswirtschaft aus ihrer Verankerung im
Westen zu lösen. Er führt neue internatio-
nale Allianzen im Schilde. Er fühle sich in
Moskau wohler als in einigen EU-Haupt-
städten, sagte Salvini russischen Unter-
nehmern. In Mailand versuchen Staatsan-
wälte, Licht in die Verhandlungen eines Le-
ga-Vertreters mit Emissären Putins um
die Parteifinanzierung zu bringen. Dazu
passt, dass Salvinis Wirtschaftsberater
entschiedene Gegner des Euro sind. „Wir
werden die Steuern senken, egal was die
EU dazu sagt“, kündigte der Vize-Premier
an. Sollten den Worten Taten folgen, ist
der Weg zum Italexit kurz.
Sicher: Der Bruch mit den Cinque Stelle
hat in der Wirtschaft Jubel ausgelöst. Mit
ihrer Ahnungslosigkeit und Arroganz ha-
ben die Neulinge, die seit Juni 2018 an den
wirtschaftspolitischen Schalthebeln sit-
zen, die Unternehmer zur Verzweiflung ge-
bracht. Ihr dirigistischer, industriefeindli-
cher Kurs schlug private Investoren in die
Flucht und beförderte das Comeback des
Staates. Sie drehten die Arbeitsmarkt-
und die Rentenreform zurück. Sie stopp-
ten die erfolgreichen Innovations- und Ex-
portoffensiven ihrer Vorgänger. Sie blo-
ckierten Infrastrukturprojekte und fro-
ren bewilligte Investitionen ein. In ihrem
Machtrausch feuerten sie kompetente
Leute in den Behörden und Wirtschaftsin-
stituten und legten so deren Aktivitäten
lahm. Der Streit mit der EU um die Schul-
denpolitik trieb die Zinskosten für Staats-
anleihen in die Höhe. Das trug zur Läh-
mung des Wachstums und zur Isolation
Italiens bei. Nur hatten Lega und Cinque
Stelle all das so in ihrem Regierungsver-
trag vereinbart und im Parlament stets ge-
meinsam verabschiedet. Dennoch sagte
Industriellenchef Vincenzo Boccia im ver-
gangenen Herbst noch: „Wir glauben in
dieser Regierung fest an die Lega“.
Nun ist es höchste Zeit für eine Operati-
on Wahrheit. Italiens Unternehmer soll-
ten Farbe bekennen. Die Wirtschaft
wächst seit vier Quartalen nicht mehr. Die
Unternehmen stemmen sich gegen das Ab-
rutschen in die dritte Rezession in einem
Jahrzehnt. Salvinis Koalitionsbruch er-
höht die Unsicherheit. Er ist Gift in einer
Situation, die von Ängsten vor einer neu-
en Schuldenkrise und vor den Verwerfun-
gen im Welthandel überschattet wird.
Wer dem Rechtsextremisten erlaubt,
den Italienern seine Nähe zur Wirtschaft
vorzugaukeln, handelt fahrlässig. Wie ist
Salvinis autarke Weltanschauung denn
vereinbar mit den Interessen der zweit-
stärksten Exportwirtschaft Europas?
Glauben die Industriellen auch an den
„Plan B“ von Salvinis ehemaligem Europa-
minister Paolo Savona, der den Euro-Aus-
tritt Italiens propagiert? Wie können Nord-
italiens Unternehmen, die eng in die Wert-
schöpfungsketten jenseits der Alpen inte-
griert sind, einen Dauerkrieg gegen die
EU überleben? Wie soll das Land in der
Selbstisolation gegen die USA und China
bestehen? Hilft das zugesagte Schutz-
schild kleinen Firmen, sich in der globali-
sierten Welt zu behaupten? Oder waren
nicht die Wachstumsanreize der Vorgän-
ger der klügere Weg? Die Industrie klagt
laut über den Mangel an qualifiziertem
Personal. Macht Salvinis systematische
Volksverdummung die Gesellschaft für
die Zukunft fit? Und: Kann man all das
still in Kauf nehmen, nur weil die Lega
Steuersenkungen und Steueramnestien
verspricht? Mit genau dieser Haltung sind
Italiens Unternehmer schon unter Berlu-
sconi schlecht gefahren. Die Gefahr eines
Durchmarsches des Lega-Chefs scheint
vorerst gebannt. Aus der Welt ist sie nicht.
Ihre Verantwortung müsste es Italiens In-
dustriellen gebieten, der Realität heute
ins Auge zu blicken. Bevor es zu spät ist.
Früher dachte Merle Emre, dass Kinder
das Ende der eigenen Freiheit bedeuten.
„Aber man kann trotzdem weiter Interes-
sen haben und eine Karriere verfolgen“,
sagt sie. „Was man dafür neben einem star-
ken Willen braucht, ist Flexibilität. Ich
möchte entscheiden können, ob ich zu
dem wichtigen Meeting gehe oder zu der
Schulaufführung, für die meine Tochter
seit Wochen geübt hat. Und ich muss aus-
halten können, dass mal das eine, mal das
andere Vorrang bekommt.“ Emre hat drei
Kinder, sie sind zehn, sieben und fast zwei
Jahre alt. Bei ihrer Arbeit als Hochschullei-
terin hat sich die 38-Jährige vorgenom-
men, mehr Flexibilität möglich zu machen
- für Mütter und Väter. Und sie möchte
mehr darüber sprechen, dass es möglich
ist, gleichzeitig im Beruf erfolgreich zu
sein und eine Familie zu haben.
Seit drei Jahren ist sie Mitglied des Netz-
werks „Working Moms“ in Hamburg, in-
zwischen ist sie Vorsitzende. Selbstbe-
schreibung des Vereins: „Die Working
Moms stehen dafür, dass Frauen selbstver-
ständlich beides haben können – Kinder
und Karriere.“ Interessentinnen müssen
dreimal als Gast zu Meetings kommen, ein
Motivationsschreiben verfassen, den Auf-
nahmeausschuss überzeugen. Fast alle der
100 Frauen im Hamburger Netzwerk sind
in Führungspositionen. „Das Exklusive
hat mich erst irritiert“, sagt Emre. „Aber
ich habe es sehr zu schätzen gelernt. Wir
unterstützen und vertrauen uns.“ Lange
ging es dem Verein eher nicht um eine poli-
tische Botschaft, sagt Emre. Ihr sei aber
wichtig, auch nach außen aufzutreten.
„Ich will, dass sich das Denken in starren
Rollenmustern verändert“, sagt sie. „Und
das geht nur, indem man es vorlebt und an-
deren davon erzählt.“
Familienleben und eine Karriere zu ha-
ben, sei nicht immer leicht, sagt Emre. Was
ihr am Schwersten fällt, sagt sie, sei nicht
die „Vereinbarkeit“ von Beruf und Familie,
sondern die Trennung der beiden Rollen.
Also voll Mutter sein, wenn sie mit ihren
Kindern zusammen ist, und sich bei der Ar-
beit auf die Arbeit konzentrieren können.
Die ständigen Rollenwechsel zwischen
Mutter und Chefin fallen ihr schwer. Trotz-
dem ist ihr wichtig, zu zeigen, dass es geht.
Wenn junge Frauen sich für Berufe ent-
scheiden, von denen sie glauben, dass sie
es leicht machen, auch Familie zu haben,
will sie rufen: „Mach, was du willst!“
Emre ist vor Kurzem Leiterin der Ham-
burger Macromedia geworden, einer priva-
ten Hochschule mit etwa 700 Studenten
und Berufsschülern. Sie hat sich hochgear-
beitet bei mehreren Unis, unter anderem
an der TU in Hamburg-Harburg. Nebenher
hat sie über mehrere Jahre hinweg einen
Master in BWL gemacht.
An der Hochschule Macromedia in Ham-
burg sind fast ausschließlich Männer Pro-
fessoren, was sie gerne ändern würde. Oft
heiße es aus Berufungskommissionen,
dass es einfach nicht genug qualifizierte
Frauen gebe, sagt sie. „Ich frage die Betei-
ligten dann, was sie aktiv dafür getan ha-
ben, damit sich mehr Frauen bewerben.“
Sie möchte an der Hochschule einiges än-
dern. „Mein Ziel ist es, eine Arbeitskultur
zu schaffen, die auf Eigenverantwortung
und nicht auf Kontrolle baut, und bei der
man selbstverständlich auch um 15 Uhr zu
einem Kita-Picknick gehen kann.“
Als ihr drittes Kind geboren wurde, ist
sie wieder Vollzeit in den Job eingestiegen,
als der Kleine vier Monate alt war. Ihr
Mann kümmert sich hauptsächlich um die
Kinder. Er sei sowieso viel geduldiger. „Ich
bastele nicht und ich spiele nicht gerne Kin-
derspiele“, sagt sie. „Es fällt mir allerdings
schwer, das offen zu sagen.“ Noch immer
gebe es schließlich sehr konkrete Bilder,
wie eine Mutter zu sein hat. Sie mache an-
dere Dinge gern mit den Kindern, etwa Aus-
flüge – und das macht sie nicht zu einer
schlechteren Mutter. kathrin werner
WIRTSCHAFT
Cannabis für den Weltmarkt
Israelische Firmen wollen ihre Arzneiprodukte auch in Deutschland verkaufen. Sogar Haustiere sollen versorgt werden
Christine Lagarde wird am 1. November Chefin der Europäischen Zentralbank. Kritiker monieren, dass ihr der Stallgeruch einer Notenbank fehlt. FOTO: JOHN THYS/AFP
NAHAUFNAHME
„Ichwill, dass sich
das Denken in
starren Rollenmustern
verändert.“
Merle Emre
FOTO: OH
Cannabis-Plantage in Israel. Die Pflan-
zen dienen als Rohstoff für Medizinpro-
dukte. FOTO: DPA
ITALIEN
Operation Wahrheit
Sie bastelt nicht
Merle Emre setzt sich für Flexibilität arbeitender Mütter ein
„Wir werden die
Steuernsenken, egal was
die EU dazu sagt.“
Lagarde könnte den Spieß
umdrehen – und etwas von
den Politikern fordern