Süddeutsche Zeitung - 20.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von alexander menden

B


ereits im zweiten Raum der Bridget-
Riley-Retrospektive in Edinburghs
Scottish National Gallery bleibt dem
Besucher nichts anderes übrig, als kurz die
Augen zu schließen und ihnen eine Ruhe-
pause zu gönnen. Anders sind die Bilder
hier nicht zu bewältigen, denn sie sind
schwindelerregend. Im zweiten Saal sind
die Schwarz-Weiß-Arbeiten der engli-
schen Malerin versammelt, auf die sie sich
von Anfang bis Mitte der Sechzigerjahre
konzentrierte. „Crest“ (1964) etwa, ein um
45 Grad gedrehtes, gleichsam auf die Ecke
gestelltes Quadrat, dessen vertikal verlau-
fende Wellenformen man nur wenige Mo-
mente betrachten muss, bevor sie zu flim-
mern beginnen. Der Effekt ähnelt jenem,
den man erzielt, wenn man länger auf die
Rillen einer laufenden Rolltreppe starrt.
Man sieht Farben, die nicht da sind, der Bo-
den scheint zu schwanken. Es ist, als neh-
me das Bild den Sehnerv in einen gewaltlo-
sen, aber unnachgiebigen Klammergriff.
Das Œuvre Bridget Rileys, die mittlerwei-
le 88 Jahre alt und nach wie vor überaus
produktiv ist, mischt Statik und Kinetik in
einer Weise, die dem visuellen Cortex alles
abverlangt. Die gebürtige Londonerin fand
über den Pointillismus Georges Seurats zu
ihrem Verständnis von Malerei als Instru-
ment einer Art optischer Wissenschaft. In
Edinburgh sind ihre ersten Versuche mit
der – noch gegenständlichen – pointillisti-
schen Technik zu sehen. Doch schon in den

frühen Sechzigerjahren ging diese Kunst
in etwas Geometrisches über, etwas zu-
gleich vollkommen Unsentimentales und
Bewegendes.
Dass eine Ausstellung mit Werken Jack-
son Pollocks, die sie 1959 in der Londoner
Whitechapel Gallery sah, Riley ebenfalls
nachhaltig beeinflusste, ist weniger leicht
nachzuvollziehen als die Verbindung zu
Seurat. Während bei Pollock der Zufall der
tropfenden Farbe die Formgebung be-
stimmt, ist es bei Riley eine geradezu klini-
sche Präzision. Was beide verbindet, ist ih-
re abstrahierende Kompromisslosigkeit.

So mag es in der Rückschau unausweich-
lich gewesen sein, dass die irisierende
Kraft von Rileys Schwarz-Weiß-Arbeiten,
die bis heute ihre bekanntesten sind, mit
dem psychedelischen Glamour von „Swin-
ging London“ assoziiert wurde. Doch der
zeitliche Zusammenfall der beiden Phäno-
mene ist akzidentell. Rileys Kunst gehört
nicht einer längst verflossenen Pop-Ära
an, sie entsteht vielmehr immer wieder im
Augenblick der Wahrnehmung.
Beim Überbegriff „Op Art“ kommt den
meisten wohl vor allem der Name Victor Va-
sarely in den Sinn. Dass Riley eine mindes-
tens ebenso bedeutende Vertreterin dieser
Stilrichtung ist wie der Ungar, darüber

kann spätestens nach dem Besuch der
Edinburgher Schau kein Zweifel mehr be-
stehen. Man könnte sogar argumentieren,
dass die desorientierende Ambivalenz ih-
rer Arbeiten und deren unmittelbare Wir-
kung auf den Betrachter über jene Vasare-
lys hinausgehen. Der britische Kritiker Da-
vid Thompson verglich Vasarelys dreidi-
mensionale Konstrukte einmal mit Luxus-
autos „samt hochwertiger Karosserie“.
Bridget Riley hingegen isoliere den „Mo-
tor“ – „das bewegende Element als autono-
mes Motiv“, weshalb ihre Werke manch-
mal als Diagramm gelesen würden, ohne je-
des dekorative Beiwerk, und weshalb sie ei-
nen so konzentrierten Effekt erzielten.
Tatsächlich mag es manchen Besuchern


  • vor allem solchen, die nie eine Welt ohne
    Grafiksoftware gekannt haben – wie ein
    Wunder erscheinen, dass ein Mensch mit
    rein analogen Mitteln wie Öl und Acryl aus
    der Hand derart exakt zu arbeiten imstan-
    de ist. Die ungeheure Genauigkeit von Wer-
    ken wie „Vapour“ (1970), deren weiße, grü-
    ne und graue Streifen in ihrer Breite mini-
    mal, aber offenkundig planvoll voneinan-
    der abweichen, erscheint gewissermaßen
    übermenschlich. In einem eigenen Saal
    sind jedoch Entwürfe auf Millimeterpa-
    pier ausgestellt, die klar machen, mit
    welch obsessiver Akkuratesse Riley ihre Li-
    nien, Wellen und Punktgemälde entwirft
    (letztere sind übrigens weitaus komplexer
    und nuancenreicher als die von ihnen be-
    einflussten, epigonalen Arbeiten Damien
    Hirsts).


Bahnbrechende Arbeiten wie das 1962
entstandene „Movement in Squares“, eine
logarithmisch in weiße und schwarze Qua-
drate und Rechtecke geteilte Fläche, erhält
gerade durch ihre Präzision eine gleicher-
maßen unerwartete und unvermeidliche
Sogwirkung. Es ist, als werde man durch ei-
nen Spalt im Raum-Zeit-Kontinuum ins
Bild gezogen. Wie es darin aussehen könn-
te, suggeriert eine rekonstruierte Fassung
von Rileys einziger Installation: „Continu-
um“. Ausgehend von der ursprünglichen
Maquette von 1963 produzierte Rileys Stu-
dio eine Aluminiumstruktur mit grundier-
ter Aluminiumoberfläche, die dann flach
gestrichen wurde. Die Besucher betreten
einzeln dieses Art abstrakte Schnecken-
haus, das innen von Pfeilen und Linien be-
deckt ist, ein verwirrendes optisches Perpe-
tuum Mobile.
Von den Neunzigerjahren an werden Rile-
ys Arbeiten nicht nur farbiger, sondern
auch flächiger. Manche, wie „Lagoon 2“
(1997) sind in ihren Pastelltönen zwar nicht
weniger konzentriert, aber entspannter als

ihre früheren Großformate. Aber weiter-
hin gelten die Ordnungsprinzipien der Kon-
traste zwischen warm und kühl, hell und
dunkel, des allmählichen, hochkontrollier-
ten Variierens geometrischer Formen, der
Musterwiederholung. Wie sehr man Wahr-
nehmung automatisch auf diese Prinzipi-
en einnordet, bemerkt man bei Bildern wie
„Ra“ (1981), einer Abfolge senkrechter Farb-
linien. Ist die subtile tonale Veränderung
hier wirklich Teil des Bildes, oder ergänzt
sie das menschliche Auge?
Kaum eine Kunst vermag es so sehr,
dem Betrachter seine körperliche Interakti-
on mit dem Werk bewusst zu machen, wie
die Bridget Rileys. Ihre Bilder sind keine Ta-
peten, kein Hintergrundrauschen. Sie ver-
langen Aufmerksamkeit. Ihr neurologi-
scher Effekt macht sie im bestmöglichen
Sinne ungemütlich, weil sie ihr Nachbild
eben nicht nur allein auf der Netzhaut, son-
dern im gesamten Realitätsempfinden hin-
terlassen. Dabei muss man nichts tun,
nichts nachvollziehen, nichts „verstehen“.
Man muss nur die Augen öffnen, solange
es geht. Wer das tut, erkennt die Edin-
burgher Retrospektive als das, was sie ist:
die grandiose Würdigung des ernsthaften,
forschenden Geistes einer bedeutenden
Gegenwartskünstlerin.

Bridget Riley.Scottish National Gallery, Edin-
burgh, bis 22. September. Vom 23.10 bis 26.01.
in der Hayward Gallery, London. Katalog
34,99 Pfund. Info: nationalgalleries.org.

„Ehrt eure deutschen Meister! Dann


bannt ihrgute Geister“ – das Fazit in


Richard Wagners „Meistersingern“.


Bleibt die Frage: Ist das Schlusswort des


Hans Sachs nun Chauvinismus oder


bloß eine patriotische Liebeserklärung


an Kunst, Land und Leute? Beides?


Sachsens nationaler Glaube an das,


„was deutsch und echt“, drang seiner-


zeit in die Säle und Wohnstuben der


Deutschen. Musik aus dem „Ausland“


war weniger dringlich, „Zwiegespräche“


brauchte man nicht. „Auf dich, Herr,


traue ich“ – das ist religiöser Glaube,


der ganz anders klingt. Und doch vom


„Vater der deutschen Musik“,Heinrich


Schütz, stammt, dem Musikchef des


sächsischen Kurfürsten und ersten


deutschen Komponisten europäischen


Ranges. Den erwähnten Psalm Nr.7 hat


Schütz in den 1620er-Jahren mit einer


großen mehrchörigen Musik versehen,


zu hören in der spektakulären Erstein-


spielung seines Gesamtwerks, die der


makellos intonierendeDresdner Kam-


merchorunter seinem Dirigenten


Hans-Christoph Rademannim Lauf


eines Jahrzehnts realisiert hat. Gibt es


da keine nationalen Merkmale? Schütz,


den sein großzügiger „Vorgesetzter“,


Landgraf Moritz von Hessen-Kassel, für


drei Jahre nach Venedig geschickt hat-


te, in die Schule von Meister Giovanni


Gabrieli, konnte in seiner frühbarocken


Vokalmusik durchaus mit einer Art


„deutscher“ Anmutung des Stils brillie-


ren: seriöser, dabei virtuoser Kontra-


punkt, satztechnische Gelehrsamkeit in


deutscher Sprache


  • mit deutscher
    „Tiefe“. Mit der



  1. Edition ist die
    imposante Schütz-
    Gesamtausgabe
    nunmehr vollendet
    (Carus).


Das Nationale und das Europäische


lagen in der klassischen Musik immer


nahe beieinander. Bach und Mozart


vereinnahmten Werke und stilistische


Eigenarten aus Italien und Frankreich,


ohne Angst vor „Plagiat“. Inzwischen ist


die Musikszene völlig global aufgestellt.


Dass moderneChormusik aus Japan


von Sängern desSWR Vokal Ensem-


bles unter der Leitung eines Briten,


Marcus Creed, aufgenommen wurde,


verwundert nicht. Umso mehr beein-


druckt die Qualität der Musik von Toru


Takemitsu oder Toshio Hosokawa, den


bedeutendsten, um eine Generation


voneinander entfernten Komponisten


Japans. Hosokawa führt in dem Stück


„Die Lotosblume“, nach Heinrich Hei-


nes Gedicht, vielstimmigen Chorgesang


wie ein Naturereignis aus der Stille in


die Klänge und wieder zurück. Takemit-


su hat Mitte der Sechzigerjahre in sei-


nem Songzyklus „Windpferd“ in weiten


Intervallen und rhythmischen Schüben


verschiedene Vokalisen für Frauen-


und Männerchor miteinander kombi-


niert. Sprache wird
von ihm in schöns-
te Lautmalerei
verwandelt, gefühl-
te Winde und Luft-
züge schaffen poeti-
sche Reflexe (SWR
Classic).

Wie genialisch der russische Pianist


Vladimir Ashkenazyam Beginn seiner


Karriere musizieren konnte, zeigt das


Album mit frühen Aufnahmen des 1937


in Gorki (heute: Nischni Nowgorod)


Geborenen. Der Hörer darf staunen


über die beiden furios konturierten


Etüdenzyklen Chopins und dessen


h-Moll-Sonate. Er kann sich bei Rach-


maninows Corelli-Variationen wundern


über Ashkenazys Virtuosität, Non-lega-


to-Spiel und all das lyrische Gedanken-


potenzial. Die pianistische Angriffslust


des Zwanzigjährigen bei Prokofjews


siebenter Sonate ist enorm. Für Beetho-


vens Waldsteinsonate besitzt er geisti-


gen Elan, Formdisziplin, poetische Em-


pathie. Und die
Sonate op. 111 ge-
lingt ihm, beson-
ders in der Arietta,
durch seine Kraft
der Verinnerli-
chung (Pro-
fil/Hänssler).

Einen recht eigenwilligen Entwurf von


Zwiegesprächen haben sich zwei Kom-


ponisten ausgedacht, der Schweizer


Heinz Holligerund der UngarGyörgy


Kurtág. Der kammermusikalische Ab-


lauf von 37 aphoristischen Stücken


gleicht einer Erkundung von Ideen und


Bläserklängen: Oboe, Englischhorn


sowie Bass- und Kontrabassklarinette


bestimmen die zarten, von viel Energie


geschärften Klangbilder. Dazu gehören


auch „Airs“ von Holliger, ein Zyklus aus


sieben Gedichten des schweizerischen


Lyrikers Philippe Jaccottet, die dieser,


hochbetagt, selbst liest – beantwortet


mit Lust und List von Holligers Oboe. Es


folgen Kurtágs gut ein Dutzend Mini-So-


lostücke für wechselnde Holzblasinstru-


mente – tagebuchartige Notate, Wid-


mungen wie die von Holliger und Erne-


sto Molinari auf Oboe und Englischhorn


gespielte „Hommage à Elliott Carter“


oder „ein Sappho-Fragment“, Zeugnis-


se von Kurtágs einsamer Selbstreflexi-


on. Die quicklebendige Sonate für die


Solo-Oboe des jun-
gen Heinz Holliger
besiegelt den heiter
blühenden Fantasie-
überschuss der
Produktion (ECM).
wolfgang
schreiber

Hoch zu Ross und in voller Rüstung blickt
FranciscoPizarro über den Hauptplatz von
Trujillo in der südwestspanischen Region
Extremadura. In dem Städtchen am Fuß
einer wuchtigen mittelalterlichen Burg ist
man auf den Mann stolz, der vor fast
500 Jahren an der Spitze eines spanischen
Expeditionskorps im heutigen Peru das In-
kareich zerschlagen hat. Die Pizarros stam-
men aus Trujillo, in ihrem Geburtshaus
nur wenige Schritte unter der Burg ist ein
Museum eingerichtet, es ist bescheiden im
Vergleich zu den Palästen, deren Bau sie
mit dem in Lateinamerika geraubten Gold
und Silber finanziert haben. Dutzende Rei-
sebusse fahren täglich vor, die „Wiege der
Conquista“ ist ein beliebtes Ziel für Touris-
ten vor allem der älteren Generation.
Die Conquista, die Eroberung Latein-
amerikas durch die Spanier, ist ein halbes
Jahrtausend später zum Streitthema
geworden, in der Außen- wie der Innenpoli-
tik. Ausgelöst hatte die Kontroverse im
Frühjahr der mexikanische Staatspräsi-
dent Andrés Manuel López Obrador. Der
Vertreter der Neuen Linken in Lateinameri-
ka forderte von Papst Franziskus und dem
spanischen König Felipe VI. eine Bitte um
Vergebung für die Verbrechen, die die
Eroberer im Namen von Kirche und Krone
an den indigenen Völkern seines Landes
begangen hatten.
Unter Spaniens Politikern stieß dieses
Ansinnen auf Befremden bis Empörung,
zumal da der Zerstörer des Aztekenreichs,
Hernán Cortés, früher auch in Mexiko
verehrt worden war. Die Minderheits-
regierung des Sozialisten Pedro Sánchez
gab eine gewundene Erklärung ab: „Was
damals geschah, kann nicht mit heutigen
Maßstäben gemessen werden.“

Für Sánchez kam der Vorstoß Obradors
zur Unzeit. Denn Spanien befindet sich seit
Anfang des Jahres im Wahlkampf – und
Debatten, die das untergegangene Imperi-
um betreffen, nützen erfahrungsgemäß
der Rechten, weil es, wie die linksliberale
ZeitungEl Paísbefand, in der Gesellschaft
eine unterbewusste Sehnsucht nach der
vergangenen Größe der Nation gebe.
In der Tat griffen die Parteien des
rechten Spektrums die Vorlage Obradors
dankbar auf und überboten sich mit
Vorschlägen, wie die „Ehre der Nation“ zu
verteidigen sei. Sie verlangten von der
Regierung, gegen die „schwarze Legende“
vorzugehen, die einen Schatten auf das
Ansehen Spaniens in der Welt werfe.

Der Begriff entstand in der Debatte über
den Verlust der letzten bedeutenden spani-
schen Kolonien, der Philippinen und Ku-
bas, in einem dreieinhalb Monate währen-
den Krieg gegen die USA im Jahr 1898.
Die Niederlage hatte die spanische Elite
zutiefst erschüttert, denn sie markierte
den Schlusspunkt in der Geschichte des
Imperiums, „in dem die Sonne nie unter-
geht“, wie man es zu dessen Glanzzeit
unter den spanischen Habsburgern im


  1. Jahrhundert besungen hatte. Diese De-
    batte fasste der Historiker und Soziologe
    Julián Juderías in einem Buch zusammen,
    das 1914 unter dem Titel „Die schwarze
    Legende und die historische Wahrheit“
    erschien. Juderías war ein polyglotter, „um-
    fassend gebildeter Intellektueller, er publi-
    zierte auch zur französischen, deutschen
    und russischen Literatur. Er warf den Ver-


fassern von ausländischen Büchern vor,
das falsche Bild eines „inquisitorischen,
ignoranten, fanatischen“ Landes zu zeich-
nen, „das stets zu gewalttätiger Repression
bereit sei, ein Feind des Fortschritts und
der Innovationen“. Diese „Legende“, so
Juderías, sei im 16. Jahrhundert von den
Ländern der Reformation ausgegangen.
Wie virulent das Thema heute noch ist,
beweist ein überraschender Bestseller: Die
Historikerin Elvira Roca Barea entwickelte
die Gedanken Juderías’ weiter, ihr 2016
erschienenes Buch „Imperiophobie und
Schwarze Legende – Rom, Russland, USA
und das spanische Imperium“ verkaufte
sich mehr als 120000 Mal. Darin be-
schreibt sie, dass die großen Imperien das-
selbe Schicksal verbinde: Ihre Nachbarn
versuchten, die eigene militärische und
wirtschaftliche Unterlegenheit durch eine
Propaganda zu kompensieren, die den
Völkern der Imperien alle schlechten Ver-
haltensweisen dieser Welt andichte.
Im Falle Spanien sei dies falsch und un-
gerecht: Die Inquisition habe es schon in
anderen Ländern gegeben; andere Mächte
hätten ihre Kolonien nur brutal ausgebeu-
tet, während die Spanier zwar in Latein-
amerika auch Kriege geführt, aber letzt-
lich eine neue Zivilisation aufgebaut hät-
ten, die auch der eingeborenen Bevölke-
rung Rechte eingeräumt habe.
Auch für Roca Barea steht fest: Die
„schwarze Legende“ wurde heuchlerisch
von den protestantischen Ländern verbrei-
tet. Sie rechnet besonders mit Martin
Luther ab, der Hexenverbrennungen ge-
rechtfertigt habe, während die Inquisition
in Spanien den Beschuldigten rechtliches
Gehör gegeben und auch viele freigespro-
chen habe. Als Reaktion auf das Lutherjahr

der Deutschen organisierte sie eine Aus-
stellung, in der sie die Bewertung der Refor-
mation als „Schritt zur Moderne“ zu wider-
legen versuchte: Das Wirken Luthers habe
den Feudalismus und somit die Macht der
„lokalen Oligarchen“ gestärkt.
Kürzlich erschien unter dem Titel „Im-
periophilie und der nationalkatholische
Populismus“ eine Entgegnung auf Roca
Barea. Der in Madrid lehrende Philosophie-
professor José Luis Villacañas warf ihr vor,
wichtige Fakten ausgelassen und somit
unredlich gearbeitet zu haben. Den mythi-
schen Kampf zwischen katholischen und
protestantischen Ländern in Europa habe
es nie gegeben, bei den Kriegen hätten
vielmehr über die Konfessionsgrenzen hin-
weg Großmachtinteressen den Ausschlag
gegeben. Doch seien dies abgeschlossene

Kapitel der Geschichte, die heute keine Be-
deutung mehr hätten. Von einer „schwar-
zen Legende“ könne keine Rede sein.
Konservative Publizisten befanden dar-
aufhin, dass die Leugnung der „schwarzen
Legende“ mittlerweile ein Teil eben dieser
„schwarzen Legende“ geworden sei. So
sieht es auch der konservative Oppositions-
führer Pablo Casado, er rühmte die Heer-
führer der Conquista wie Pizarro und Cor-
tés: Sie hätten „Religion und Kultur gleich-
zeitig an so viele Orte“ gebracht, wie es kei-
nem vor und nach ihnen in der Geschichte
gelungen sei. Die Conquista sei eine brillan-
te Epoche, vergleichbar den kulturellen Er-
rungenschaften des Römischen Reichs.
In Trujillo fand im April eine Historiker-
konferenz zu der Kontroverse statt: „Her-
nán Cortés, die schwarze Legende und ihr
Einfluss“. Die Quintessenz: Die Dinge sind
verwickelt. Auch Historiker, die sich nicht
dem rechten Lager zurechnen, wehren
sich nämlich gegen ein Schwarz-Weiß-
Bild. Sie bemerkten, dass die Reiche der
Azteken und Inkas auch deshalb gefallen
seien, weil es den Spaniern gelungen war,
andere einheimische Völker als Verbünde-
te zu gewinnen. Auch sei die vorkoloniale
Epoche Lateinamerikas von blutigen Kon-
flikten geprägt gewesen, Adel und Priester
hätten überall ein grausames Regime ge-
führt, bis hin zu Menschenopfern.
Das Pizarro-Museum berührt diese
Debatten nur kurz. Im Mittelpunkt der
Ausstellung stehen die Vorteile, die sowohl
Spanien als auch Lateinamerika angeblich
von der Conquista hatten. Ein Gemälde
mit Obst und Feldfrüchten illustriert
diesen Gedanken: Tomaten, Kartoffeln
und Kakao für Europa; Gerste, Weizen und
Wein für Amerika. thomas urban

Entwürfe auf Millimeterpapier


machen klar, mit welch obsessiver
Akkuratesse Riley arbeitet

Ein Bestseller legte ein gutes


Wort für die Imperien ein


KLASSIKKOLUMNE


Flimmern


im


Kopf


Die Malerin Bridget Riley schafft


Werke von irisierender


Kraft. Ein Museum in Edinburgh


widmet ihr eine Retrospektive


Beliebtes Reiseziel: Hauptplatz der Stadt
Trujillo mit der Statue des Heerführers
Francisco Pizarro. FOTO: MAURITIUS

Schwarze Legende, weißes Herz


Streit in Spanien: War die „Conquista“, die spanische Kolonialherrschaft in Lateinamerika, ein Verbrechen oder eine Leistung?


10 HF2 (^) FEUILLETON Dienstag,20. August 2019, Nr. 191 DEFGH
Schwarz-Weiß-Gemälde
wie „Over“ von 1966 gehö-
ren zu den bekanntesten
Arbeiten im Werk der
88-jährigen Künstlerin.
Später wurde dieses farbi-
ger, sichtbar etwa in „Ra“
aus dem Jahr 1981.
FOTOS: © BRIDGET RILEY, 2018

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