Süddeutsche Zeitung - 20.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
An dem Tag, an dem sich ihr Leben für
immer verändern sollte, stand Evelyn
Beatríz Hernández Cruz früh am Morgen
auf. Es war der 6. April 2016, Hernández
war gerade einmal 18 Jahre alt. Kranken-
schwester wollte sie damals werden,
nebenbei arbeitete sie als Haushaltshilfe.
Sie wohnte gemeinsam mit ihrer Mutter
in einem Häuschen in El Carmen, etwa
eine Stunde östlich von El Salvadors
Hauptstadt. Hernández habe über Bauch-
schmerzen geklagt, erinnerte sich ihre
Mutter später, kurz danach habe sie ihre
Tochter auf dem Boden der Latrine hinter
dem Haus gefunden, bewusstlos und blut-
überströmt. Im Krankenhaus konnten die
Ärzte die junge Frau zwar retten, sie rie-
fen aber auch die Polizei. Hernández wies
Zeichen einer Geburt auf, allein das Kind
fehlte. Die Ärzte vermuteten eine Abtrei-
bung, und diese steht in El Salvador unter
strenger Strafe.
Auch wenn Schwangerschaftsabbrü-
che in fast ganz Lateinamerika verboten
sind, setzt kein Land seine Gesetze so rigo-
ros um wie El Salvador. 1998 hat eine kon-
servative Regierung die Bestimmungen
zum Schutz ungeborenen Lebens noch
einmal verschärft, seitdem sind
Abtreibungen auch dann nicht erlaubt,
wenn die Schwangerschaft Folge einer
Vergewaltigung ist oder Leib und Leben
der Mutter bedroht sind. Acht Jahre Haft
drohen Frauen, die gegen das Gesetz ver-
stoßen. Oft wird zusätzlich noch ein Mord-
paragraf angewendet, damit werden
Gefängnisstrafen von bis zu 50 Jahren
möglich. Die Rechtsprechung verpflich-
tet zudem Ärzte, Pfleger und Kranken-
schwestern, jeden Verdacht zu melden. So
kommt es, dass immer wieder Frauen
noch im Krankenhaus verhaftet werden.

Hunderte Verfahren wegen Abtrei-
bung habe es in den letzten 20 Jahren in
dem zentralamerikanischen Land gege-
ben, schätzen Menschenrechtler. In min-
destens 150 Fällen wurden Frauen zu teil-
weise jahrzehntelangen Haftstrafen ver-
urteilt, dabei ist es oft mehr als unsicher,
ob die Schwangerschaftsabbrüche wirk-
lich gezielt herbeigeführt wurden oder ob
nicht natürliche Ursachen für eine Fehl-
oder Totgeburt verantwortlich waren.
Evelyn Hernández sagt, sie habe nicht
gewusst, dass sie schwanger war. 2015 sei
sie mehrmals vergewaltigt worden, der
Täter war Mitglied einer lokalen Gang.

DieseMara-Banden kontrollieren weite
Teile El Salvadors und sind der Grund,
weshalb Hunderttausende Menschen in
die USA geflohen sind. Die Mordrate im
Land ist eine der höchsten weltweit, Opfer
der Gewalt sind vor allem Frauen. Hernán-
dez sagt, aus Angst habe sie den Täter
nicht angezeigt. Weil sie immer wieder
Blutungen gehabt habe und keine äuße-
ren Anzeichen, habe sie erst im Kranken-
haus von der Schwangerschaft erfahren.
In der Latrinengrube fanden Polizisten
das Kind. Ob es bereits bei der Geburt tot
war, konnten Gerichtsmediziner nicht
eindeutig feststellen. Dennoch wurde
Hernández 2017 verurteilt. Hätte sie sich
während ihrer Schwangerschaft ärztlich
untersuchen lassen, so die Staatsanwalt-
schaft, wäre das Kind noch am Leben.
Hernández trat eine 30-jährige Haftstrafe
an. Knapp drei Jahre hatte sie davon abge-
sessen, dann erreichten ihre Anwälte eine
Annullierung des Urteils. Bis zum Ende
einer neuen Verhandlung durfte Hernán-
dez das Gefängnis verlassen, sie ging
wieder zur Schule, arbeitete. Auf das neue
Urteil wartete das Land gespannt, denn es
war das erste unter dem jungen, populisti-
schen Präsidenten Nayib Bukele. Auch er
ist ein Abtreibungsgegner, der sich aber
für Ausnahmen ausspricht. Er sei gegen ei-
ne Verurteilung von „armen Frauen mit
spontanen Fehlgeburten“, sagt Bukele.
Im Falle von Evelyn Hernández haben
sich die Richter nun für Freispruch ent-
schieden, wie die BBC am Montagabend
meldete. Die Staatsanwaltschaft hatte ei-
ne Haftstrafe von 40 Jahren gefordert.
Vielleicht ist das Urteil der erste Schritt zu
etwas, was die UN längst gefordert haben:
dass El Salvador seine drakonischen Ge-
setze überarbeitet. christoph gurk

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Zamdorfer Straße 40, 81677 München

von claus hulverscheidt

M


an kann es sich natürlich leicht
machen und alles auf Donald
Trump schieben, denn es ist ja
wahr: Dass die eben noch intakt scheinen-
de deutsche Wirtschaft plötzlich vor
einer Rezession steht, ist vor allem jener
aggressiven Handelspolitik geschuldet,
mit der der Irrwisch im Weißen Haus die
halbe Welt überzogen hat. Kein Land lei-
det mehr unter der Unsicherheit, die der
US-Präsident mit seinen Zöllen und Dro-
hungen schürt, als der Exportweltmeis-
ter Deutschland. Welche Firma investiert
schon heute in eine neue Fabrik, wenn un-
absehbar ist, ob Trump nicht morgen alle
Kostenkalkulationen auf den Kopf stellt.
Doch so verständlich der Fingerzeig
gen Washington sein mag, so sehr ver-
stellt er den Blick darauf, dass der Ab-
schwung in Deutschland zu einem Gut-
teil auch hausgemacht ist. Da ist zum ei-
nen jene übertrieben große Abhängigkeit
der deutschen Wirtschaft von Exporten,
die es in dieser extremen Form eigentlich
gar nicht geben dürfte, denn allein Ange-
la Merkel hat ein Dutzend Gipfelkommu-
niqués unterschrieben, in denen vor den
Gefahren allzu großer Ausfuhr- oder Ein-
fuhrüberschüsse gewarnt wird. Seit Jah-
ren fordern die USA, der Internationale
Währungsfonds (IWF) und viele Ökono-
men, dass die Bundesrepublik die Welt
nicht länger nur als großen Absatzmarkt
begreift, sondern durch mehr Importe
und Investitionen endlich ihren Teil zu ei-
nem gedeihlichen globalen Wirtschafts-
wachstum beiträgt. Bisher ohne Erfolg.
Dabei läge es in Deutschlands ureige-
nem Interesse, mehr zu investieren, denn
überall im Land gibt es Nachholbedarf:
bei der Sanierung von Straßen und Schu-
len, bei der Versorgung mit schnellem In-
ternet, bei der Energie- und der Verkehrs-
wende, bei der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf. Allerorten mangelt es an Geld,

weil die Regierung lieber am ausgegliche-
nen Haushalt und an der Schuldenbrem-
se festhält. Dabei ist die Schuldenbremse
selbst gar nicht das Problem, im Gegen-
teil: Es ist gut, dass es eine Regel gibt, die
daran erinnert, dass der Staat grundsätz-
lich mit dem Geld auskommen sollte, das
er einnimmt. Es war aber ein Fehler, die-
ser Regel gleich Verfassungsrang einzu-
räumen und sie so starr zu gestalten, dass
sie selbst solche Investitionen verhin-
dert, die für die Zukunft des Landes unab-
dingbar sind. Aus der Schuldenbremse
ist eine Investitionsbremse geworden.

Das ist auch deshalb absurd, weil der
Bund ja bei der Kreditaufnahme derzeit
nicht etwa Zinsen zahlt, sondern sogar
welche bekommt. Es wäre geradezu ver-
rückt, wenn man diese kuriose Situation
nicht nutzte, um viel Geld etwa in die Digi-
talisierung oder die Förderung privater
Investitionen zu stecken. Zudem müssen
Bund und Länder endlich jene Kommu-
nen sanieren, die der Kampf gegen Struk-
tur- und demografischen Wandel über-
fordert. Das wäre zugleich ein Programm
gegen Landflucht und Populismus.
Vor allem aber wäre ein solches Investi-
tionsprogramm auch ein Signal nach au-
ßen, dass die Bundesrepublik ihre globa-
le konjunkturelle Verantwortung endlich
wahrnimmt und sich nicht länger als
Trittbrettfahrer der Weltwirtschaft ge-
riert. Exakt dieser Ruf nämlich haftet den
Deutschen vielerorts an, was dazu führt,
dass auch in Paris oder Madrid, beim IWF
und bei der OECD, so mancher heimlich
nickt, wenn Trump seine Tiraden gegen
den Exportweltmeister startet. Ganz so
einfach aber sollte man es dem Irrwisch
im Weißen Haus nicht machen.

von stefan kornelius

A


ls in Ungarn vor 30 Jahren der
Grenzzaun zu Österreich zerschnit-
ten wurde, war der junge Viktor Or-
bán so etwas wie ein Öffnungsgewinner.
Ausgestattet mit einem Stipendium sei-
nes späteren Erzfeindes George Soros
studierte er in Oxford, profilierte sich als
demokratischer Jugendaktivist und Par-
teigründer, zog ins Parlament ein und
ging fortan seinen Weg in der Fidesz-Par-
tei und als nationalpatriotischer Politiker
mit feinem Gespür für Macht und Stim-
mungen. Dass er heute hinter ein paar
selbstgebauten Zäunen sitzt, ist eine ironi-
sche Note der Geschichte. Orbáns Biogra-
fie zeigt, dass Freiheits- und Machthun-
ger nicht immer zu verbinden sind.
Der ungarische Premier wählte das Ve-
hikel des Nationalpatriotismus, um sei-
nen politischen Ambitionen ein Dach zu
geben. Im Licht der ungarischen Geschich-
te waren Identität und Vaterland leichte
Beute für seine neue Partei. Als er sie ein-
gefangen und nahezu monopolisiert hat-
te, hatte er leichtes Spiel.
Orbán zählte in den Nachwendejahren
zu den Lieblingsreformern der west-
europäischen Konservativen. Helmut
Kohl, Jean-Claude Juncker oder Wolfgang
Schüssel sahen in ihm einen natürlichen
Verbündeten, einen Garanten für die Fort-
setzung christdemokratischer Politik in
Mitteleuropa. Orbáns Wendungen in den
Jahrzehnten seitdem, seine Zaunbauten
und die Radikalisierung wurden ihm des-
wegen lange nachgesehen. Viel zu lange.
30 Jahre bieten eine schöne Gelegen-
heit für den historischen Draufblick. Or-
báns Treffen mit Angela Merkel an die-
sem Montag macht die Bestandsaufnah-
me noch einmal leichter, weil auch die
deutsche Bundeskanzlerin mittelbar ein
politisches Kind der ungarischen Zaunöff-
nung ist. Sie musste ihren Weg allerdings
in weitgehend festgelegten Bahnen antre-

ten. Selbst wenn sie es gewollt hätte: Sie
konnte gar nicht die Schwankungen und
Radikalisierungen einer jungen, uner-
probten Demokratie gebrauchen und
missbrauchen, so wie Orbán das tat.
Wenn die beiden nun ein Jubelereignis
begehen, dann bietet das nicht nur Gele-
genheit zur frommen Rückschau, es lie-
fert auch eine Lektion über die Gefähr-
dung, der eine offene Gesellschaft stets
ausgesetzt ist. Die Zaunöffnung war kein
singuläres, zufälliges Ereignis, sondern
Kulminationsmoment einer ins Freie stre-
benden Gesellschaft. Die Zeit war reif, die
Menschen wollten es so. Sie wollten ein Le-
bensmodell, das ihrer Beobachtung nach
in der Gemeinschaft der Staaten Europas
am besten verwirklicht werden konnte.

Die Begegnung Orbáns mit Merkel
30 Jahre danach erinnert auch dank der
Biografien der beiden daran, dass Zäune
nie dauerhaft niedergerissen sind und das
große Menschheitsthema Zugehörigkeit
nie endgültig gelöst ist. Orbáns antieuro-
päische Politik, seine klare Abgrenzung
auch zu den Institutionen der EU, ver-
dreht die historische Erinnerung auf
groteske Weise. Der Mann, der seine politi-
sche Existenz und Karriere dem Freiheits-
wunsch und dem Westdrang verdankt,
lebt nun von der Abgrenzung.
Merkel drückte diesen Widerspruch
deutlich zurückhaltender in der Mahnung
aus, dass nationales Wohl immer auch
vom europäischen Gemeinwohl abhänge.
Sie hätte auch sagen können, dass jeder in
Europa heute noch die Wahl hat, welchem
politischen Pulsschlag er folgen mag. Zäu-
ne, so scheint es, wachsen in Europa fast
von alleine. Nur wer sie einreißt, wird von
der Geschichte gefeiert.

N


a also, sie bewegt sich doch, die oft
wie gelähmt wirkende große Koali-
tion. Union und SPD wollen Mieter

entlasten und den Wohnungsbau erleich-


tern. Die Mietpreisbremse soll bis 2025


verlängert werden. Wo überhöhte Mieten


abkassiert wurden, sollen Bewohner sich


Geld zurückholen können. Gut so. Der


Mietspiegel soll gestärkt und die Umwand-


lung von Miet- in Eigentumswohnungen


erschwert werden. Für Mieter sind das gu-


te Nachrichten. Aber auch für Wohnungs-


käufer ist etwas dabei: Maklerkosten sol-


len zur Hälfte die Verkäufer übernehmen.


Immerhin.


Selbstverständlich warnt die Immobili-

enwirtschaft jetzt vor staatlicher Regulie-


rungswut, so als drohe sozialistische Plan-
wirtschaft. Das ist Unsinn. Es ist höchste
Zeit, dass die Regierung bedrängte Mieter
schützt: vor der Gier großer Wohnungs-
bauunternehmen und vor Eigenbedarfs-
klagen. Viel zu oft dienen sie nicht eige-
nem Bedarf, sondern der Eigenbereiche-
rung. Hier muss eingegriffen werden.
Mehr als eine Ankündigung aber sind
die Koalitionspläne nicht. Erst Ende 2019
sollen sie konkret werden. Für viele Mie-
ter kommt das zu spät. Mehr Dampf ist
auch beim Bau von Sozialwohnungen nö-
tig, und zwar ohne immer neue Flächen zu
versiegeln. Hier sind Ideen gefragt. Gelie-
fert aber hat die Regierung bisher nur gu-
te Vorsätze. constanze von bullion

W


as das Bundeskriminalamt jetzt
fordert, hätte für Internetnutzer
spürbare Folgen. Alle anstößi-

gen Postings und Beleidigungen, die Face-


book bisher nach dem Netzwerkdurchset-


zungsgesetz löscht, sollen künftig automa-
tisch an das BKA gemeldet werden. Straf-


anzeigenquote: 100 Prozent. Der Platt-


formbetreiber müsste praktisch eine


Standleitung zur Polizei einrichten.


Eine solche Verschärfung des NetzDG

würde viel mehr Verantwortung bedeuten


für die schlecht bezahlten, schlecht ausge-


bildeten Clickworker bei Facebook, Twit-


ter und anderswo. Sie würden nicht nur


am Fließband blocken, sondern künftig


am Fließband Anzeige erstatten. Auch das


Problem des sogenannten Overblocking –
dass also in der Hektik manchmal auch le-
gale Meinungsäußerungen gelöscht wer-
den – bekäme neues Gewicht.
Zudem würde damit effektiv ein altes
Prinzip des deutschen Rechts aufgege-
ben, um Internet-Hetzern das Leben
schwerer zu machen. Beleidigung ist ein
Antragsdelikt. Das heißt, der Staat über-
lässt es grundsätzlich den Betroffenen
selbst, ob sie im Einzelfall eine Einmi-
schung der Ermittler wünschen. Das ist ih-
re Autonomie. Dies würde sich ändern,
wenn künftig ganz automatisch das BKA
kommt. Die Polizei würde künftig sehr
viel häufiger einschreiten, und zwar ohne
vorher zu fragen. ronen steinke

E


mmanuel Macron merkt man sel-
ten an, dass er der jüngste Präsident
ist, den Frankreichs Fünfte Repu-

blik je hatte. Obwohl er erst 41 Jahre alt ist,


gestaltet er das Amt mit traditionsverlieb-


tem Pathos. Und doch hat mit ihm für


Frankreich eine neue Ära begonnen. Seine


Jugend zeigt sich nicht in Fragen des Stils,


sie zeigt sich in Fragen des politischen


Selbstbewusstseins.


Ob im Umgang mit der kolonialen Ver-

gangenheit Frankreichs, beim Aufeinan-


dertreffen mit US-Präsident Donald


Trump oder wie an diesem Montag beim


Besuch von Russlands Präsident Wladi-


mir Putin: Macron gibt sich ideologisch


ungebunden. Er wurde von einem Europa


geprägt, das Weltkriege, Kolonialismus
und den Kalten Krieg hinter sich gelassen
hatte. In seiner Weltsicht gibt es wenige
unüberbrückbare Differenzen, sondern
letztlich immer die Möglichkeit, Proble-
me auszudiskutieren. Manchmal wirkt
das unbedarft, manchmal mutig, manch-
mal übertrieben machtbewusst.
Entscheidend muss für die Bewertung
am Ende sein, wer davon profitiert, dass
Macron sich die Rolle des Weltenvermitt-
lers spielend zutraut. Im Fall Russlands be-
deutet das: Macron kann seine ausführli-
chen Treffen mit Putin nur dann als Erfol-
ge verbuchen, wenn dadurch wenigstens
mittelfristig die Demokratie in Russland
gestärkt wird. nadia pantel

I


ndiens Premier Narendra Modi
fühlt sich stark. Im Frühsommer
hat er eine zweite Amtszeit für seine
hindu-nationalistische Partei er-
obert, die Opposition liegt im Staub

und wird sich so schnell nicht wieder erho-


len. Niemand ist weit und breit zu sehen,


der Modis Macht gefährden könnte. Offen-


bar beflügelt ihn der Triumph so sehr,


dass er nun das waghalsigste aller Vorha-


ben angepackt hat: Am 5. August löste er


ein umstrittenes Wahlversprechen ein


und entzog der Krisenregion Kaschmir


per Dekret über Nacht die Autonomie.


Modi schleift damit Rechte, die seit

mehr als 60 Jahren in der Verfassung ver-


ankert sind, das hat noch kein indischer


Premier gewagt. Er schreitet forsch voran,


auch weil er eine Zweidrittelmehrheit in


beiden Parlamentskammern hinter sich


weiß. Der Premier verspricht, Kaschmir


völlig neu zu ordnen, er zeichnet rosige Bil-


der von einer Zukunft ohne Terror. Und es


stimmt schon: Sollte es ihm gelingen, den


kaschmirischen Knoten zu lösen, würde


er wohl als größter indischer Premier


nach Staatsgründer Jawaharlal Nehru in


die Geschichte eingehen. Doch es ist sehr


unwahrscheinlich, dass Modi Kaschmir


befriedet. Er dürfte sich an der Aufgabe


kräftig verheben.


Das liegt daran, dass er zwei Kraftzen-

tren in diesem Konflikt völlig ignoriert.


Erstens hat Modi autonome Rechte abge-


schafft, ohne sein Vorhaben mit den


Kaschmirern abzustimmen, geschweige


denn diese davon zu überzeugen. Und


zweitens scheint er zu glauben, dass eine


Befriedung auch ohne Gespräche mit dem


Nachbarn und Erzrivalen Pakistan mög-


lich ist. Das aber wirkt abwegig, weil die is-


lamistischen Extremisten ihre Rückzugs-


gebiete in Pakistan haben, anders wären


sie kaum überlebensfähig. Ohne Vereinba-


rungen mit Pakistan lässt sich diese Ge-


fahr kaum eindämmen.


Umgekehrt heißt dies: Frieden in

Kaschmir ist nur mit dem Nachbarn, nicht


ohne ihn zu haben. Modi entzieht sich die-


ser Logik, und das wird sich bald rächen.


Denn ohne Ausgleich wird Kaschmir eine


Arena der Konfrontation bleiben. Indien


und Pakistan haben drei Kriege um das


Gebiet geführt, beide Seiten kontrollieren


jeweils nur einen Teil, und die militanten


Gruppen, die Indien angreifen wollen,


wechseln über die Waffenstillstandslinie


hin und her.


Narendra Modis Kurs in Kaschmir

gleicht dem Versuch einer Zwangsbeglü-


ckung, ausgerechnet in einem Gebiet, in
dem die radikalisierte Jugend skandiert:
„India go home!“ Indien solle verschwin-
den. Warum diese jungen Leute, die sich
schon jetzt wegen der rigorosen Militär-
macht von Indien entfremdet fühlen, aus-
gerechnet durch noch mehr Druck dazu
bekehrt werden könnten, Indien zu lie-
ben, das bleibt Modis Geheimnis.
Wenn stimmt, was anonyme Quellen
im Polizeiapparat bestätigen, sind Tausen-
de Kaschmirer inhaftiert, unter ihnen alle
politischen Führer. Das zeigt, dass Delhi
Unruhen befürchtet. Das Gefühl vieler
Kaschmirer, von einer arroganten Besat-
zungsmacht beherrscht zu werden, dürfte
so kaum schwinden. Die Regierung in
Delhi lässt keine ausländischen Reporter
ins Krisengebiet, hat seit zwei Wochen Te-
lefone und Internet in Kaschmir abge-
dreht, das legt die Vermutung nahe: Die
Lage ist weitaus düsterer, als es Delhi öf-
fentlich eingestehen möchte.
Nun ist es nicht so, als könnte Pakistan
in Kaschmir eine reine Weste vorzeigen,
im Gegenteil. Die Machthaber in Islama-
bad, die sich theatralisch als Hüter der
Menschenrechte und Pate muslimischer
Freiheitskämpfer inszenieren, haben den
Terror in Kaschmir maßgeblich aufgepäp-
pelt; das Ziel war stets, Indien zu schwä-
chen. Immer waren den beiden Atom-
mächten die eigenen Interessen wichtiger
als die Befindlichkeiten der Kaschmirer.
Doch deren Drang nach Eigenständigkeit
ist groß.
Die Last der Geschichte macht Versöh-
nung schwer. In den Neunzigerjahren flo-
hen die Hindus aus Kaschmir, vertrieben
von islamistischen Extremisten, deren
Verbrechen bis heute ungesühnt ist. Um-
gekehrt beklagen muslimische Zivilisten
in Kaschmir, dass indische Sicherheits-
kräfte bei Übergriffen stets straflos ausge-
hen. Wer nicht für Indien ist, gilt sofort als
mutmaßlicher Terrorist.
Das Erbe der Gewalt macht Kaschmir
zu einem emotional aufgeladenen The-
ma. Mit seiner Politik der eisernen Hand
dürfte Modi seine Popularität in der indi-
schen Hindu-Mehrheit noch steigern.
Sein Kurs passt zu einer Partei, die religiös
polarisiert. Dass sich die Kaschmirer der
Brechstangenpolitik aus Delhi beugen
werden, ist nicht zu erwarten. Es droht ei-
ne weitere Eskalation, womöglich mit neu-
en Terroranschlägen als Antwort auf Indi-
ens Vorstoß.
Droht ein Krieg in Südasien? Derzeit
hat keine Seite daran ein Interesse, den-
noch wächst das Risiko. Die Chance für ei-
nen Brückenschlag zwischen Islamabad
und Delhi ist gering. Es sieht so aus, als
würde Kaschmir immer stärker zerrieben
zwischen zwei aufgeplusterten, in Feind-
schaft vereinten Atommächten.

Ein Laufrad, das nicht rund-
läuft, eiert. Ein Mensch, der
sich nicht klar ausdrückt, ei-
ert herum. Gemeinsam ha-
ben Rad und Mensch in die-
sem Zusammenhang, dass sie nicht ein-
deutig auf ihr Ziel zusteuern. Das Herum-
eiern gehört, so meinen manche Kom-
mentatoren, zu den Wesensmerkmalen
des Regierungsstils von Angela Merkel.
Durch sie fand der Begriff des Eiertanzes
sogar Einzug ins Englische: „German
Eiertanz“ lautete eine Kritik an der Euro-
papolitik der Bundeskanzlerin. Mit dem
Eiertanz überschneidet sich das Herumei-
ern nicht nur etymologisch: Als „Eier-
tanz“ beschreibt der Duden „sehr vorsich-
tiges, gewundenes Verhalten, Taktieren
in einer heiklen Situation“. Goethe setzte
dieser Form der Bühnenkunst in „Wil-
helm Meisters Lehrjahre“ ein Denkmal.
Dort tanzt die kindliche Mignon behände
zwischen Eiern, die auf einem Teppich lie-
gen: „Sie berührte keines, ob sie gleich
mit allen Arten von Schritten, engen und
weiten, ja sogar mit Sprüngen und zuletzt
halb knieend sich durch die Reihen durch-
wand.“ Im Durchwinden ähneln sich Eier-
tanz und Herumeiern – deshalb funktio-
nieren beide Begriffe als Vorwurf an poli-
tische Gegner. Im Fall Maaßen kritisiert
die SPD das „Herumeiern von Frau
Kramp-Karrenbauer“. Man könnte auch
sagen, dass es für die CDU-Chefin gerade
einfach nicht rundläuft. kjan

4 HMG (^) MEINUNG Dienstag,20. August 2019, Nr. 191 DEFGH
FOTO: MARVIN RECINOS/AFP
WELTWIRTSCHAFT
Trittbrettfahrer
30 JAHRE GRENZÖFFNUNG
Alte Zäune, neue Zäune
GROSSE KOALITION
Mehr Dampf
INTERNET-HETZE
Standleitung zum BKA
EMMANUEL MACRON
Der Weltenvermittler
sz-zeichnung: sinisapismestrovic
KASCHMIR
Das Erbe der Gewalt
von arne perras
AKTUELLES LEXIKON
Herumeiern
PROFIL
Evelyn
Hernández
Salvadorianerin,
kriminalisiertes
Verbrechensopfer
Deutschland muss investieren –
nur so wird es seiner globalen
Verantwortung gerecht
Merkel oder Orbán?
Europa hat die Wahl, welchem
Beispiel es folgen will
Die Region scheint zerrieben zu
werden zwischen zwei
unversöhnlichen Atommächten

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