Geo Epoche - 08.2019

(lu) #1

etwa auf einem in C-Dur gestimmten
Instrument eine weniger verwandte To n­
art wie As-Dur durch die verschobenen
Intervallverhältnisse hässlich klingt.
Bach aber wendet als Erster jene
"gleichschwebende" Stimmung an, die
der Musiktheoretiker Andreas We rck­
meister 1691 vorgeschlagen hat: Das
Klavier stimmt er so um, dass sich jede
Oktave in zwölf gleich große Halbton­
schritte aufteilt - eine leichte Irritation
des natürlichen Gehörs, das der Ord­
nung der Obertöne fo lgt. Doch nur so
lassen sich, wie im "Wohltemperierten
Klavier", Stücke in jeder beliebigen To n­
art in einem We rk kombinieren.
Dabei ist diese Gleichheit der Halb­
tonschritte nicht nur ein Bruch mit der
Konvention: Sie ist auch ein Angriff auf
die gottgewollte Ordnungder Natur, wie
sie die damalige Theologie versteht.
Zwar dient auch Bach die Musik
vor allem "zur Gottes Ehre". Er ist ein
frommer Mann, der christliche Literatur
sammelt, seine mehrbändige Bibel eifrig
studiert und mit handgeschriebenen
Notizen versieht.
Trotzdem, so wird Adorno anmer­
ken, soll sich in Bachs Kompositionen
nicht einfach "der theologisch über­
wölbte Kosmos offenbaren". Im Gegen­
teil: Mit seiner ganzen Musik wehre er
sich dagegen, zum bloßen Kirchenmann
degradiert zu werden. In dieser fe udalen
Zeit weigert er sich, nur als Service-Kraft
gesehen zu werden -und pocht auf die
Souveränität des Künstlers.


Und tatsächlich hat sich Bach, der fr üh
vaterlos Gewordene, seit jeher mit Au-


172:1 J Johann Sebastian Bach


toritäten angelegt. Schon als Organist
in Arnstadt hat er, wie der Superinten­
dent moniert, durch "viele wunderliche
variationes" und ..fremde Thone", die er
der Orgel entlockte, Unmut erregt. Um
in Lübeck den berühmten Komponisten
und Organisten Dietrich Buxtehude zu
hören, hat er drei Monate lang unent­
schuldigt den Dienst geschwänzt.
Als sich die Gemeinde über seine
ausufernden Orgel-Arabesken beschwer­
te, hat Bach die Präludien so brutal
gestrafft, dass der Pfarrer sich sputen
musste, um anschließend wieder recht­
zeitig auf der Kanzel zu stehen. Und bei
seinem zweiten Abschied von We imar
hat er sich gar, wie die Akten sagen, so
"halsstarrig" aufgeführt, dass er für vier
Wo chen ins Gefängnis kam.
Jetzt muss er sich gegen eine Leipzi­
ger Obrigkeit wehren, die ihm mit im­
mer neuen Zumutungen und Respekt­
losigkeiten zur Last fällt.
Dreist mischt der Rat sich in die
Auswahl der neuen Schüler ein, be­
schließt 1730 sogar, Bach wegen angeb­
lich nachlässiger Amtsführung "die
Besoldung zu verkümmern".
Er setzt dem Kantor einen mehr als
20 Jahre jüngeren Rektor vor die Nase,
der über seinen Kopf hinweg ein in
Bachs Augen "untüchtiges Subjectum"
zum Präfekten macht. Unter Gebrüll
jagt der Kantor den Neuen von der Kir­
chenempore.
Allmählich muss Bach sich von der
Hoffnung verabschieden, in Leipzig
endlich als Künstler gewürdigt zu wer­
den - oder gar als Wissenschaftler. Über
den Status eines Gebrauchsmusikers
kommt er hier nicht hinaus.
Manchmal denkt er wehmütig an
den vergleichsweise kommoden Dienst
in Köthen zurück, fe rn aller urbanen
Raffinesse zwar, doch dafür unter der
gütigen Herrschaft eines "gnädigen und
Musik so wohl liebenden als kennen­
den Fürsten". Einem Freund klagt er in
einem Brief, Leipzig sei "ein sehrteurer
Ort" und der "Dienst bei We item nicht

IN LEIPZIG ist Bach für
den Unterricht der Thomas­
schüler verantwortlich,
die Pflege der Instrumente
und die musikalische Ge­
staltung der Gottesdienste
in den Hauptkirchen. Der
Rat erwartet zudem eigene
Kantaten - am liebsten
wöchentlich (Kupferstich
»Allegorie auf das Gehör«)
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