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die neue
Ausgabe von
SPIEGEL
GESCHICHTE
Lange galt:
Mit Sklaverei
hatte Deutsch-
land nichts zu
tun. SPIEGEL-
Autorinnen
und Historiker
erklären, wie es
wirklich war.
Jetzt
im Handel
tet ihre Hauptwucht nun mal hier,
wo viele Unternehmen sind, die eine
feste Verbindung nach Russland
hatten. Viele Firmenchefs sprechen
fließend Russisch.
Der Osten zahlt den Preis für die
Sanktionen, und das macht die
Menschen wütend?
In Westdeutschland sind die Sanktio-
nen nicht in dieser Härte zu spüren.
Als Helmut Kohl von den blühenden
Landschaften sprach, hatte er im
Sinn, dass die ehemalige DDR die
Eintrittskarte in den ganzen osteuro-
päischen Raum wird. Russland ist
dabei ein starker Wirtschaftsraum.
Wie viel der thüringischen Wirt-
schaftsleistung macht das aus?
Rund zehn Prozent.
Und Sie glauben, das erklärt die
Russlandfreundlichkeit?
Nicht allein, aber es sind nicht nur
die Firmeninhaber, die jetzt weni-
ger Geschäft beklagen. Sorgen ma-
chen sich auch deren Mitarbeiter,
und die haben Familien. Es ist etwas
anderes, als wenn sie gar keinen
Kontakt mit Russland haben wie in
der westdeutschen Provinz.
Dabei ist kaum ein Ossi je nach
Moskau gefahren.
Na ja, ein paar Ossis haben dort
schon studiert, Frau Merkel zum
Beispiel. Das ist wieder so eine west-
deutsche Sicht.
Immerhin ein Fragesteller von uns
ist in der DDR aufgewachsen.
Die Stimmung hat sich natürlich ge-
wandelt. Als ich vor über 30 Jahren
aus dem Westen in den Osten kam,
haben gerade alle ihre Mitgliedsaus-
weise der Gesellschaft für Deutsch-
Sowjetische Freundschaft weg-
geworfen. Die meisten konnten
es kaum erwarten, bis der letzte
sowjetische Soldat im Zug nach
Hause saß. Unter den gleichen Men-
schen bricht nun eine ungeahnte
prorussische Freundschaft aus.
Woher kommt das?
Es ist das Ergebnis eines langen Ent-
fremdungsprozesses. Man könnte
auch sagen, es ist der Antiamerika-
nismus, der zu Russlandfreund-
lichkeit geführt hat. Sehen Sie die
Grubenlampe hier im Regal? Die
stammt aus dem Kalibergwerk in
Bischofferode. Der harte Streik der
Bergleute Anfang der 90er-Jahre, die
bittere Erfahrung, aufgekauft und
dichtgemacht zu werden – beides ist
für viele Menschen im Osten bis
heute Sinnbild dafür, wie viel Poten-
zial in der Nachwendezeit zerstört
worden ist. Und sehen Sie das Salz
daneben? Das stammt aus einem
neuen Bohrkern. Eine australische
Firma bereitet einen möglichen Ab-
bau vor. Da ist noch genug Salz drin.
Das haben die Bergleute damals ge-
sagt, es wollte nur keiner hören. So
was sitzt tief verankert im Gedächt-
nis der Menschen. Die da drüben, die
Wessis, der Kapitalismus.
Das, was Sie beschreiben, ist jetzt
fast 30 Jahre her. Taugt das wirklich
noch als Erklärung?
Es ist immer noch so: Deutsche tref--
fen sich auf Malle, und dann sagt
einer, er sei aus Gera, und plötzlich
reden die nicht mehr miteinander.
Das ist doch ein Klischee!
Es passiert. Ein junger Mann aus
Thüringen, der in Gießen studiert,
erzählte mir neulich: Solange er
nicht gesagt hat, woher er ist, kam
er gut mit den Leuten dort klar. Jetzt
erzählen sie dauernd, wie undank-
bar diese Ossis sind.
In wenigen Tagen findet der Fest-
akt zur deutschen Einheit in Erfurt
statt, und Sie erzählen uns solche
Geschichten. Steht es also schlecht
um das vereinte Deutschland?
Beim wirtschaftlichen Zusammen-
wachsen stehen wir sehr gut da. Und
wenn Sie durch unsere Städte gehen,
sehen Sie gelebte deutsche Solida-
rität. In Erfurt zerfiel 1990 die Alt-
stadt, sie sollte abgerissen werden.
Da hat Hessen spontan die Sanie-
rung von 1000 Dächern bezahlt. Die
haben sogar die Handwerker mitge-
bracht. Heute undenkbar, der Rech-
nungshof würde durchdrehen. 4
„Meine Partei
muss sich nicht
für alle Menschen
einsetzen, die
Wut äußern“
29.9.2022 67