Handelsblatt - 31.07.2019

(Steven Felgate) #1

W


er Joseph Stiglitz’ Lebenslauf
ansehen will, der braucht Zeit.
66 Seiten ist er lang, auch des-
halb, weil Stiglitz 56 Ehrendok-
tortitel hat, von der Universität
in Venedig genauso wie der in Buenos Aires und in
Aserbaidschan. Der Nobelpreisträger ist einer der
umtriebigsten Ökonomen. Mehr als zwei Dutzend
Sachbücher hat er geschrieben, ein neues hat er
gerade veröffentlicht, ein weiteres ist schon in der
Mache.

Herr Stiglitz, Sie gelten als der große Skeptiker,
was die Entwicklung der US-Wirtschaft angeht.
Dabei befindet sich die US-Wirtschaft im längsten
Aufschwung aller Zeiten. Die Aktienmärkte kna-
cken einen Rekord nach dem anderen. Klingt
doch eigentlich gar nicht so schlecht.
Lassen Sie sich mal nicht täuschen. Diese Zahlen
sind wie eine glänzende Fassade. Aber dahinter
sieht es längst nicht so gut aus, wie eine Reihe von
Daten belegt.

Zum Beispiel?
Die Einkommen von Durchschnittsverdienern ha-
ben zwar in diesem Aufschwung zuletzt etwas an-
gezogen, aber noch immer gilt: Ein männlicher Ar-
beitnehmer verdient im Mittel weniger als vor 42
Jahren. Die Reallöhne am unteren Ende der Ein-
kommensverteilung sind auf dem gleichen Niveau
wie vor 60 Jahren. Viele reiben sich da die Augen.
Nur weil es ein paar wenigen Leuten sehr, sehr gut
geht, gilt das noch längst nicht für alle Amerikaner.

Dabei sollten doch die von US-Präsident Trump
verabschiedeten Steuersenkungen dabei helfen,
die Geringverdiener zu entlasten.
Viele Ökonomen – auch ich – haben das bereits vor-
hergesagt: Die Steuersenkungen haben zu hohen
Defiziten geführt, aber die Wirtschaft ist längst
nicht so stark gewachsen, wie die Regierung ver-
sprochen hat. Damit sind auch die Löhne weniger
stark gestiegen.

Im zweiten Quartal lag das Wirtschaftswachstum
bei 2,1 Prozent und damit wieder auf dem Niveau
unter Barack Obama, Donald Trumps Vorgänger
im Weißen Haus. War es das jetzt mit dem zusätzli-
chen Rückenwind der Steuerreform?
Das Bruttoinlandsprodukt kann von Quartal zu
Quartal schon etwas schwanken. Es ist also noch
zu früh, Belastbares zu sagen. Aber es passt ins
Bild, dass der Effekt nicht besonders lange anhal-
ten würde.

Wie bedrohlich ist der anhaltende Handelsstreit
mit China für die amerikanische Wirtschaft? Laut
Trump könnte dieser erst nach der Präsident-
schaftswahl Ende 2020 gelöst werden.
Die Spannungen mit China werden vermutlich
auch dann noch anhalten, wenn Trump nicht
mehr im Amt ist. Ich sehe nicht, wie man die öko-
nomischen Konflikte langfristig beilegen kann. Die
USA sind dabei, zu erkennen, dass sie geopolitisch
nicht mehr so dominieren wie früher. Das ist
schwer zu akzeptieren und wird zu immer neuen
Problemen führen, so lange, bis die USA verstehen,
dass eine neue Ära in der Geopolitik und in der
Geoökonomie angebrochen ist.

Wird es denn überhaupt ein Handelsabkommen
zwischen den USA und China geben?
Beide Seiten haben ein Interesse an einem Abkom-
men. Aber wenn es eines gibt, wird es die schwie-
rigen Fragen nicht behandeln. So wird China zum
Beispiel nicht von seiner Industriepolitik abrücken,
wie Präsident Trump es fordert.

Sie meinen das „Made in China 2025“-Programm,
wonach die chinesische Wirtschaft dank staatli-

„Die schöne

Fassade täuscht“

Der Ökonomie-Nobelpreisträger hält die Leistung der US-Wirtschaft


für überschätzt, ist besorgt über den Zustand Europas und fest


davon überzeugt, dass der Handelsstreit mit China auch dann noch


andauern wird, wenn US-Präsident Trump nicht mehr im Amt ist.


Joseph Stiglitz


STEPHANIE MEI-LING/The New York /Redux/laif

Wirtschaft

& Politik

1


MITTWOCH, 31. JULI 2019, NR. 145


6

Free download pdf