Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1
von silvia liebrich

I


n sein großes Buch mit dem roten
Einband trägt Johannes Steffen nur
wirklich wichtige Ereignisse ein.
Der 13. Januar 2020 ist so ein Tag,
an den sich der Küchenchef der
Infineon-Kantinen in München auch vier
Wochen danach noch erinnert. „CO2-Kenn-
zeichnung für Speiseplan eingeführt“, hat
er an diesem Tag in schöner Handschrift
eingetragen. Beschäftigte des Technolo-
giekonzerns wissen seit diesem Tag, wie
sich der angebotene Schweinebraten oder
der Gemüseauflauf auf das Klima aus-
wirkt. Weil das Fragen aufwirft, haben er
und seine Kollegen an diesem Tag Info-
stände in der Kantine aufgebaut, um zu er-
klären, wie einfach das geht: Angezeigt
werden die CO2-Angaben in einer App, mit
der die Mitarbeiter den täglichen Speise-
plan abrufen – ein Novum in deutschen
Unternehmenskantinen.
Klimafreundlich Essen, dafür interes-
sieren sich immer mehr Menschen. Zwar
dürfte inzwischen fast jedem klar sein,
dass Fleisch besonders klimaschädlich
ist, während Gemüse gut abschneidet.
Wie aber sieht es aus, wenn man sich in
der Kantine zwischen Spaghetti Bologne-
se und Rucola-Pizza entscheiden soll? Für
das Klima kann das einen großen Unter-
schied machen. Jeder Deutsche kommt al-
lein durch das Essen auf bis zu 1,8 Tonnen
CO2 jährlich, so viel wie ein Kleinwagen
auf 15 000 Kilometern verursacht.

Steffen erstes Fazit nach einem Monat
fällt positiv aus: „Viele Gäste interessieren
sich für das Thema“, sagt er. Auch seine Ar-
beit verändert sich. „Wir versuchen, noch
mehr vegetarische und vegane Gerichte
anzubieten. Das hat den größten Effekt“.
Auf Fleischgerichte soll trotzdem nie-
mand verzichten müssen. „Die schöne Rin-
derleber von heute Mittag hat sicher nicht
den besten Klimaabdruck, aber wir wollen
unsere Kunden nicht erziehen. Jeder soll
selbst entscheiden“, sagt der drahtige
Mann mit den kurzen grauen Haaren und
40 Jahren Berufserfahrung.
Nach der Kochlehre arbeitete sich Stef-
fen in die Sternegastronomie hoch, be-
kochte Staatsgäste der früheren Bundesre-
gierung in Bonn. Bis er vor 34 Jahren nach
München zu Siemens wechselte. Heute ar-
beitet er für Dussmann, den Betreiber der
Infineon-Kantinen. Er ist zuständig dafür,
dass am Standort in München-Neubiberg
täglich 3800 frisch zubereitete Mahlzei-
ten auf den Tisch kommen.
Das Berliner Familienunternehmen
Dussmann mit einem Jahresumsatz von
2,34 Milliarden Euro gehört zu den ersten
großen Catering-Firmen, die eine CO2-
Kennzeichnung einführen. Der Dienstleis-
ter ist in 17 Ländern tätig und gibt täglich
knapp 450000 Mahlzeiten aus. „Immer
mehr Menschen wollen sich bewusster
und nachhaltiger ernähren“, sagt Deutsch-
land-Geschäftsführer Philipp Conrads.
Das System des Schweizer Datenanbieters
Eaternity sei ein guter Ansatz, um klima-
freundliche Speisen auszuweisen. Das
Ganze umzusetzen, sei jedoch komplex.

Ein Jahr Vorlauf hatte das Projekt in Mün-
chen. Weitere 19 Betriebskantinen sollen
laut Conrads folgen.
Hinter dem Datenspezialisten Eater-
nity aus der Schweiz stehen die Gründer
Judith Ellens, Umweltnaturwissenschaft-
lerin, und Manuel Klarmann, Mathemati-
ker, 35 und 37 Jahre alt. Sie haben in den
vergangenen zwölf Jahren den sogenann-
ten Eaternity-Score entwickelt, mit dem
sich Treibhausgasemissionen von Lebens-
mitteln ermitteln lassen. „Jedes Produkt
lässt sich so fair mit mehr als hunderttau-
send anderen vergleichen“, erklärt Klar-
mann. Knapp eine Million Euro haben sie
in die Entwicklung einer Datenbank inves-
tiert, in die fortlaufend die neuesten For-
schungsergebnisse eingespeist werden.
Ergebnis ist eine Software, mit der sich Re-
zepturen, aber auch Lebensmittel aus
dem Supermarkt bewerten lassen. „Wenn

wir den Wert einer Kartoffel bestimmen,
fängt das bereits im Erzbergwerk an, wo
das Metall für den Traktor geschürft wird,
der später über den Kartoffelacker fährt“,
sagt Klarmann. Hinzu kommen der Ein-
satz von Düngemitteln, Transporte, Verpa-
ckung, Lagerung und vieles mehr.
An komplexen CO2-Berechnungen sind
bereits einige Versuche für eine Kennzeich-
nung gescheitert, etwa in Schweden, wo
sie vor zwölf Jahren im Lebensmittelhan-
del eingeführt werden sollte. Ein Vorha-
ben, das bald wieder aufgegeben wurde.
Als Problem erwies sich dabei auch, dass
Verbraucher mit reinen CO2-Angaben we-
nig anfangen können. Zu kompliziert, un-
fair, kaum vergleichbar, wenig aussage-
kräftig oder gar irreführend, befanden
Kritiker. Auch Verbraucherorganisationen
wie Foodwatch beurteilen ein CO2-Labe-
ling bis heute kritisch. Einen großen Teil

der Probleme hat das Eaternity-System
nach Klarmanns Überzeugung gelöst. So
ermöglicht das Modell Gastronomen und
Herstellern eine detaillierte Datenanalyse,
während Informationen für Verbraucher
in einem simplen Sterne-Modell darge-
stellt sind(Bild rechts). „Vielen Menschen
ist nicht klar, welche Folgen ihre Ernäh-
rung fürs Klima hat“, sagt er. „Wenn ich
drei Tage lang edles Rindfleisch esse, ver-
ursache ich so viel Emissionen, wie wenn
ich ein ganzes Jahr lang Gemüse und
Früchte esse.“
Klarmann musste viel Überzeugungsar-
beit leisten, um Kunden für sein Modell zu
gewinnen. Dazu zählen heute einige öffent-
liche Verwaltungen, die vegane Handels-
kette Veganz und neben Dussmann auch
der Kantinenbetreiber Sodexo. Die Einfüh-
rung in einigen Betrieben stehe kurz be-
vor, heißt es dort. Erste Tests laufen be-

reits, mit positivem Ergebnis. 15 bis 20 Pro-
zent weniger Emissionen seien realistisch,
wenn Gäste Zugang zu CO2-ärmeren Ge-
richten und die notwendigen Informatio-
nen bekämen, sagt ein Sodexo-Firmen-
sprecher. Gemessen an den Klimaschutz-
zielen der EU ist das zwar nicht ausrei-
chend, denn diese fordern 40 Prozent we-
niger Emissionen bis 2030 im Vergleich zu


  1. Doch ist es ein erster Schritt.


Klar ist auch, Unternehmen müssen
und wollen ihre Treibhausemissionen
deutlich senken. Infineon erklärte diese
Woche, man wolle bis 2030 CO2-neutral
sein. Klarmann hat unterdessen bereits
das nächste Ziel. Er arbeitet daran, das Kli-
malabel in den Lebensmittelhandel zu
bringen. Gerade erst hat Eaternity über
Crowd Funding 50 000 Euro eingesam-
melt. Datenbank und Software sollen da-
mit weiter verbessert werden.
Auch Küchenchef Steffen hilft mit, das
System zu verbessern. Am Bildschirm
prüft er ein Rezept für Schweinerücken-
steak mit Soße, bei dem die CO2-Werte
nicht angezeigt werden. Auf der Suche
nach dem Fehler klickt er sich durch die
Zutatenliste. Schnell steht fest, es liegt am
Cognac, für den keine Angaben hinterlegt
sind. Steffen wählt eine andere Marke aus
und hat sein Problem erst einmal gelöst.
„Zu 90 Prozent läuft alles, aber wir sind
eben noch in der Testphase“, sagt er. Den
fehlenden Cognac meldet er an den Soft-
ware-Dienstleister, damit der die Lücke
schließt. Auch er hat angefangen umzu-
denken. „Flexibel kochen ist nicht
schwer“, meint er. „Erbseneintopf mit
Gemüsebrühe gekocht, ist ein veganes
Gericht. Werden dazu noch Würstchen an-
geboten, sind auch Normalesser zufrie-
den.“ Welchen Unterschied das fürs Klima
macht, könne jeder auf der App ablesen.

So sieht ein geringer CO2-Abdruck auf
der App von Infineon-Mitarbeitern aus:
Drei Sterne zeigen, dass das Gericht
erheblich besser abschneidet als der
Durchschnitt und in etwa den Empfeh-
lungen des Weltklimarates entspricht.
Zwei Sterne steht für etwas besser
als der Durchschnitt, ein Stern für eine
schlechte Klimabilanz.FOTO: OH

von wolfgang janisch

N


ur gut ein Jahr hat es gedauert, bis
die neue Verfahrensart mit dem
sperrigen Namen „Musterfeststel-
lungsklage“ gleich beim ersten Praxis-
test auf Grund gelaufen ist. Mehr als
440 000 Dieselfahrer, die sich der Klage
gegen Volkswagen angeschlossen haben,
sehen gerade ihre Hoffnung auf eine an-
gemessene Entschädigung schwinden.
VW hatte vergangene Woche die Verhand-
lungen mit dem Verbraucherzentrale
Bundesverband abgebrochen und den
Dieselfahrern stattdessen individuelle,
eher bescheidene Vergleichsangebote ge-
macht: Es ist kein gutes Angebot für die
Kläger, die wiederum nicht wissen, ob
noch mehr rauszuholen ist. Oder eben
gar nichts. Nun treffen sich die Kontra-
henten doch wieder vor dem Güterichter.
Aber die Zeichen stehen – aus Sicht der
Verbraucher – nicht gerade auf Erfolg
Wirklich überraschend kommt das
nicht. Es hat nicht an Warnungen gefehlt,
die neue Verbraucherklage werde eben
nicht die Durchschlagskraft entfalten,
mit der ihre Urheber sie rhetorisch aufzu-
laden versuchten. Wie die VW-Anwälte
vorgegangen sind, belegt eindrucksvoll,
wie berechtigt die Warnungen waren. Mit
ihren Angeboten an die Dieselfahrer wol-
len sie die Front des Klägerkollektivs auf-
brechen und damit der Klage die Reste ih-
rer ohnehin geringen Wucht nehmen. Be-
günstigt wird das Manöver durch die
Konstruktionsfehler, an denen die Mus-
terfeststellungsklage leidet. Das beginnt
schon mit der Anmeldung ins Klageregis-
ter: Weil es dabei keinerlei Prüfung gibt,
kennt auch der Bundesverband nicht die
exakte Zahl derer, die einen potenziellen
Anspruch haben. Er weiß also selbst
nicht, welche Macht er hat. So etwas funk-
tioniert weder im Kartenspiel noch in der
Wirklichkeit.


Der Grundfehler der Klageart liegt dar-
in, dass es ihr nicht gelingt, die enormen
Kräfte zu bündeln, die in Hunderttausen-
den Ansprüchen stecken. Das aber wäre
in einem modernen Wirtschaftssystem
notwendig, nicht nur, damit der einzelne
Verbraucher im Rechtsstreit gegen ein
globales Unternehmen überhaupt die
Chance hat, an sein Geld zu kommen. Ef-
fektiver Rechtsschutz ist zugleich ein
Steuerungsinstrument, das die Firmen
zur Vorsicht mahnt. Wer weiß, dass es am
Ende richtig teuer werden kann, der wird
sich sehr genau überlegen, ob er wirklich
seine Abgaswerte mit Abschaltvorrich-
tungen manipulieren will.
Die Musterfeststellungsklage ist ein
Verfahren mit eingebauter Bremse: Sie
ist nur auf grundsätzliche Feststellung ei-
nes Anspruchs gerichtet, liefert den Klä-
gern aber keinen Leistungstitel. Das be-
deutet, dass sich die Klägermacht, die in
der gemeinsamen Klage angelegt ist, aus-
gerechnet in der entscheidenden Phase
wieder zerstreut – dann, wenn es um die
Durchsetzung von Ansprüchen geht.
Ums Geld kämpft jeder für sich allein,
zwar mit einem Feststellungsurteil im Rü-
cken, aber mit ausgebufften Anwalts-
kanzleien auf der Gegenseite. Das Macht-
gefälle, das der kollektive Rechtsschutz
beheben sollte, ist vielleicht flacher ge-
worden. Aber oben anzukommen, bleibt
für den Einzelkläger trotzdem ein schwe-
rer Weg. Und ein langer dazu: Je weiter
ein möglicher Anspruch in der Zukunft
liegt, desto schwächer ist die Position des
Klägers auch in Vergleichsverhandlun-
gen. Für Dieselkläger gilt das ganz beson-
ders, weil von ihren Ansprüchen mögli-
cherweise der Gegenwert einer weiteren
Nutzung der Autos abgezogen werden
muss. Die Zeit läuft gegen sie.
Das Bundesjustizministerium sollte
das VW-Verfahren daher zum Anlass neh-
men, sich möglichst rasch an eine echte
Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes
zu machen. Dafür bedarf es keiner „Klage-
industrie“ nach US-Vorbild – was übri-
gens ohnehin nur ein Kampfbegriff einer
„Klageabwehrindustrie“ der Unterneh-
men ist. Für eine Reform könnten die Plä-
ne der EU-Kommission zur Einführung
kollektiver Klageformen einen Anstoß ge-
ben. Vorschläge liegen längst auf dem
Tisch, zum Beispiel eine Gruppenklage,
die auf durchsetzbare Ansprüche gerich-
tet ist. Auch für Vergleiche gäbe es besse-
re Lösungen, etwa in Form eines verbind-
lichen, gerichtlich genehmigten Kollek-
tivvergleichs, der dann wirklich einen
Strich unter die Sache machen würde.
Das würde den Verbrauchern helfen. Und
ganz nebenbei auch der unter den Diesel-
klagenden ächzenden Justiz.


Darf’s ein bisschen weniger sein?


Immer mehr Menschen wollen ihre Klimabilanz verbessern – auch beim Essen. Doch eine Kennzeichnung
ist kompliziert. Ein erster Versuch läuft nun in den Betriebskantinen von Infineon in München

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DEFGH Nr. 44, Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020 HF2 23


WIRTSCHAFT


Wolfgang Janisch findet,
der kollektive Rechtsschutz
muss gestärkt werden.

„Vielen Menschen ist nicht
klar, welche Folgen ihre
Ernährung fürs Klima hat.“

Die Commerzbank wird
150 Jahre alt. Eine Geschichte von
Glanz und Elend  Seite 27

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Schnitzel oder Salat? Oder beides? Und was ist mit Nachtisch? Die Antwort hat nicht nur Auswirkungen auf die Figur. FOTO: MAURITIUS IMAGES

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