Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 25


MARCUS GLOGER / DER SPIEGEL

Der Augenzeuge

»Keine Fairtrade-Bonbons«


Patrick van Weerelt, 50, vom Karnevalsverein
UN Funken wollte den Bonner Rosenmontagszug
nachhaltiger machen. Und musste feststellen, wie
schwer sich deutsches Brauchtum verändern lässt.

»Bevor wir unseren eigenen Karnevalsverein gründeten,
wusste ich nicht, was Karneval wirklich bedeutet. Die Leute
haben Spaß und werfen Süßigkeiten durch die Gegend, dachte
ich. Das ist jetzt drei Jahre her. Ich stamme aus den Nieder -
landen und bin für die Arbeit nach Bonn gezogen. Hier leite
ich das Wissenszentrum für Nachhaltige Entwicklung der
Vereinten Nationen.
2017 überlegten meine Kollegen und ich, wie wir uns besser
mit der Bevölkerung vernetzen könnten, und gründeten
unseren Verein. Wir durften direkt im Bonner Rosenmontags-
umzug mit einem Wagen mitfahren, das war ein großartiges
Erlebnis. Wir hatten völlig unterschätzt, wie groß dieses Fest
ist – und wie wichtig für die Menschen. Wir wurden warmher-
zig aufgenommen, das war toll.
Doch danach fragten wir uns: Gibt es eine Möglichkeit, den
Karneval nachhaltiger zu gestalten? Müssen all diese Kamel -
len wirklich in Plastik verpackt sein? Was können wir besser
machen? Wir versuchten, bezahlbare Fairtrade-Süßigkeiten
zu finden. Doch leider gibt es nur ein begrenztes Angebot, das
sehr teuer ist. Am Ende entschieden wir, dass wir nicht der
Umzugswagen mit den wenigsten Bonbons sein wollten. Das
hätte unserer Integration in Bonn auch nicht geholfen. Schließ-
lich kauften wir ein Zertifikat eines indischen Biomasse -
kraftwerks zur CO
²
-Kompensation. Unsere Experten aus dem
Klimasekretariat hatten berechnet, dass der Umzug rund
tausend Tonnen CO
²
-Ausstoß verursacht. Durch die Kompen-
sation war der Bonner Rosenmontagszug zum ersten Mal
komplett klimaneutral. Alle waren begeistert, auch der Ober-
bürgermeister lobte unser Engagement.
Im Grunde bildet der Mikrokosmos Karneval unsere Bemü-
hungen für nachhaltige Entwicklung gut ab. Wir müssen
versuchen, unsere Möglichkeiten auszuschöpfen. Gleichzeitig
dürfen die Veränderungen nicht zu groß sein, sondern müssen
Schritt für Schritt erfolgen. Deswegen werfen die UN Funken
leider auch in diesem Jahr wieder keine Fairtrade-Bonbons.
Aber wir arbeiten an einer besseren Lösung.«
Aufgezeichnet von Lisa Duhm

Faschismus


AfD wehrlos


gegen FDP


 Die AfD-Fraktion im nord-
rhein-westfälischen Landtag
hat wohl geringe Aussichten,
Vizeministerpräsident Joachim
Stamp (FDP) erfolgreich recht-
lich zu belangen. Stamp hatte
der AfD-Fraktion vorgewor-
fen, sich mit dem thüringischen
AfD-Landeschef Björn Höcke
gemeingemacht zu haben. »Es
gibt keinen Unterschied mehr
zwischen thüringischen und
nordrhein-westfälischen Fa -
schisten«, sagte der FDP-Poli -
tiker, »wer AfD wählt, wählt
Faschisten.« Die AfD teilte
mit, dass man »die juristische
Relevanz der Äußerung« prü-
fen lasse, um »über mögliche
rechtliche Schritte« zu beraten.
Laut dem Kölner Medienrecht-
ler Christian Solmecke hätte


die AfD »keine Chance« mit
einer Klage. Entscheidend
sei, ob Stamps Aussage »einen
belegbaren Tatsachenkern«
habe: »Solche Belege dürften
angesichts der in den vergan -
genen Jahren zahllosen verba-
len Verfehlungen der AfD
wohl bei zubringen sein«, so
Solmecke, »in der AfD be -
finden sich zahlreiche Politiker
mit faschistischem Gedanken-
gut.« In Höckes Fall entschied
bereits ein Gericht, dass er
als Faschist bewertet werden
dürfe. Die Antragsteller hatten
dies mit Zitaten aus einem
Höcke-Buch untermauert.
Stamps Ministerium teilt mit,
an der »rechtlichen Zulässig-
keit« seiner Äußerung bestün-
den »keine Zweifel«. Nicht
jeder, der in Nordrhein-West -
falen oder anderswo zur
AfD gehöre, sei ein Faschist:
»Dies hat Herr Minister
Stamp auch nicht gesagt.«LE

Migration


Kirchenasyl am


Ende?


 Anträge auf Kirchenasyl
finden kaum noch Gnade:
Nur 14 von 464 Personen, zu
denen die Kirchen im ver -
gangenen Jahr Dossiers ein-
reichten, nahm das Bundes-
amt für Migration und Flücht-
linge (Bamf) ins nationale
Asylverfahren auf. Das geht
aus einer Antwort der Bun-
desregierung auf eine Kleine
Anfrage der Linken im Bun-
destag hervor. »Humanitären
Fall-Konstellationen wird
nur noch selten Rechnung ge -
tragen«, kritisiert die Linken -
abgeordnete Ulla Jelpke. Fast
alle Kirchenasylfälle sind
Dublin-Verfahren, bei denen
ein anderer EU-Mitgliedstaat
für die Asylprüfung zuständig
ist. Dieter Müller vom Verein
Asyl in der Kirche erklärt, es
gehe darum, in Einzelfällen
unfaire Verfahren zu verhin-
dern. In Griechenland harrten
Menschen im Schlamm aus, in
Italien lebten Flüchtlinge auf
der Straße. Im August 2018
habe das Bamf die Vereinba-
rungen deutlich verschärft, so


Müller, »mit dem Ziel, Kir-
chenasyl zu erschweren und
so die Zahlen zu drücken«.
Auch Prälat Martin Dutz-
mann vom Rat der Evangeli-
schen Kirche in Deutschland
beklagt: »Das Kirchenasyl
wird offenbar für überflüssig
gehalten.« Bamf-Chef Hans-
Eckhard Sommer dagegen
betont, das Bundesamt prüfe
jeden gemeldeten Fall erneut.
»Wir können viele Begründun -
gen nicht akzeptieren, weil
damit das Dublin-System ins-
gesamt in fra ge gestellt wür-
de«, so Sommer. Das betreffe
beispiels weise pauschale Vor-
würfe zur Unterbringung
in Italien. Außer dem verfüge
das Bundesamt ȟber viel
mehr Informationsquellen«
als nur die Aussagen von
Betroffenen. Das weist Prälat
Dutzmann zurück: »Wenn
die Menschen zu uns kom-
men, in einer Ge meinde
leben und Vertrauen fassen,
dann sprechen sie ir gend wann
auch über Dinge, über die
sie vorher gegenüber dem
Vertreter des Staates nicht re -
den konnten. Wir bitten das
Bamf, das zu respektieren
und auf unseren Hinweis hin
Fälle erneut zu prüfen.«LY R
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