SEITE 10·DONNERSTAG, 5.MÄRZ2020·NR.55 Literatur FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
E
sgibtschlechteundgut eGrün-
de, das Buch„Wenn das noch
geht, kann es nicht so schlimm
sein“ als Literatur zu lesen
statt als Leidensbericht. Der schlechtes-
te hat sein Genügedaran, dassder Ver-
fasser,Benjamin Maack, tatsächlich
schon Literaturgeschrieben hat;sehr
gute. Seine Bücher „Monster“ (2012),
„Die Welt is tein Parkplatz und endet
vorDisneyland“ (2007) und „Du bistes
nicht, Coca Cola istes“ (2004)sagen in
Prosa wieLyrik, dassein wesentlicher
Teil der menschlichenWirklichkeit aus
Vorstellungenbesteht, die Menschen
sichvon Wirklichkeit machen, ob sie
wollen oder nicht. Protokollt exte sind
das keine. Is tdas neue Buch alleindes-
halb auchkeiner?
Man soll bei Berichten nicht anders
alsbeiBelletristikeineerzählendeStim-
me, die „ich“ sagt und eineNotschil-
dert, in oder an der sie leidet, fürvoll
nehmen, bis sichdas Gegenteil heraus-
stellt, falls das passiert–beim Bericht
gebietetdiese Ernstnahme der mensch-
liche Anstand, bei der Literatur die
Spielregel, ausdrücklichgenannteMit-
teilungsmotivesolangewie möglichfür
wahr zu halten, damit alles,wasda
sonstnochsteht, einem Zusammen-
hang zugerechnetwerden kann, der da-
für bürgt, dassdie Wörter überhauptet-
wasbedeuten. DieStimme, die„Wenn
das nochgeht, kann es nicht so schlimm
sein“ regiert, sagtvonsich, dasswir uns
nichtau fdieGattungszuordnungderbis-
herigen Bücher desVerfasser sverlassen
sollen, und zwar spätestens an der Stel-
le, die fragt:„Wassoll jetztwerden, wo
ichkein Autormehr seinkann undkein
Autormehr bin?“
Liestman hier aber,wenn denn der
Autorfilterabdankt, eine Sammlung
vonFakten? Garantierteinem wenigs-
tens das dieVorgeschichtedes Verfas-
sers, der ja auchJournalist, Kritiker,Re-
dakteurwar? Diese Annahme wirdvom
nächstenundvomübernächs tenSatzzu-
nichtegemacht:„Was soll jetztwerden,
wo ichschonsolangejedenTaghierher-
komme und so tue, alswäre ichein Re-
dakteur,obwohl ic hdas längstnicht
mehr bin?Wo ichjeden Tagherkomme
und alle täusche und zu einer einzigen
Lüge werde?"
Das Buch handelt voneiner kli-
nischen Depression. Es erzähltvonder
Psychiatrie,vonder Frau, die dem Men-
schen, der das Bucherlebt, einesNachts
sagt, sie habe sich, als erwegwar,ge-
fragt, ob er sichjetzt umgebracht habe.
Es erzähltvondem kleinen Sohn, der
sichandenkrankenVaterkuschelt,wäh-
rend dieser sichfragt, warumerdabei
nicht spürenkann, waserspüren zu sol-
len meint und sogar spüren will.
Werdas nicht schwierig zu lesenfin-
det, kann überhauptnicht lesen. Leider
gibt es überStoffe,Themen, Erfahrun-
genwie die da geschilderten zuneh-
mendvielLebenshilfekitsch,einRiesen-
warenhausvoller Angebote der Erledi-
gung des Schwierigstenfür Leute, die
nicht nur nicht lesenkönnen, sondern
auchkeinen Unterschied zwischen
Gaffenund Sehenkennen.
Benjamin Maackdenkt sichinsei-
nem Buch einmal ein solches Angebot
aus, nicht nur,umd ie Grenze zu ziehen,
die seinenText vonderlei trennt:Da
heißt es, ein ihn ereilender Moment
komme ihmvor„wie die überraschende
ersteSzene einer erbaulichen Psychia-
triekomödie mit Til Schweiger,Florian
DavidFitz und Matthias Schweighöfer,
in der am Ende allegemeinsam aus der
Anstalt abhauen und ans Meerfahren,
um einen Sonnenaufgang zu sehen, bei
dem der schwer Selbstmordgefährdete
erkennt, dassdas Leben eigentlich ja
dochsuper lebenswertist,und der sym-
pathischausgeflippte Bipolarenimmt
dann doch seine Pillen und heiratet die
niedliche Krankenschwesterbeim Fall-
schirmspringen, undder irgendwiesüße
autistischeNerd mit denPanikattacken
fährtdem konservativ-vernagelten Ma-
nagerpapa mit seinem super ungewöhn-
lichen Blickauf alles einen total guten
Deal ein,weshalb Sohnemann das klei-
ne, aber feine Familienunternehmen
dochnochübernehmen darf, undganz
nebenbei zeigen die drei ihremUmfeld,
dassnormal sein nämlichdochnicht
das Maß aller Dingeist“.
Die Inhaltsangabe desgrauenhaften
Films, den es nicht gibt, isteine ef fekti-
ve,ebenso lustigewie unheimliche Be-
schwerde darüber,dassessolche Filme
gibt –und er weiter t: solche und andere
Versuche, einem Publikumvonemotio-
nal erträglicheingepegelten Menschen
die Unsicherheitwegzunehmen, die das
einzigProduktiveist,womitsic hZufrie-
dene anderen begegnen, deren Kopf
nicht so funktioniert, wie dieNorm der
Zufriedenendas will.
DererfundeneFilm kommt in
MaacksBuchmehr als einmalvor; der
Rezensent schreibt also „wiederholtes
Motiv “anden Rand,aber dabei wird
ih mmulmig: Darfman das,technische
Ausdrückeaus dem literaturkundli-
chen Seminar in so einenTextkleben?
Istder spezielle Gebrauch, den Maack
immer wiedervon etwasmacht, das
man schnellgedankenlos „Gedanken-
strich“nennt,obwohl es hiereher Aus-
lassungsstrich wird ,typographischer
Aussetzer,and en gerade kein Gedan-
ke heranreicht? Es gibt im BuchLyrik-
spuren, etwa woZeilenumbrüche bei
einer Flipchart-Meditation dichterisch
gesetzt scheinen undman lie st Zeilen
wie: „Könnte ichSchrift sein“ oder
„Still, ganz still.“ Nur: istdas Lyrik?
Die Empfindung,man stehle den
Worten eine Lebenswahrheit, wenn
man sie als Literatur liest, liegt über-
kreuz mit dervomselben Text ausgelös-
tenanderen, man schmälere,wo man
das alsZeugnis liest, die Mühe desAu-
tors,seineEmpfindungen nicht nurwei-
terzusagen, sondernzugestalten. Der
Unterschiedi stjawi ederzwischenFoto-
grafieren und Knipsen, eine Bewusst-
seinsanstrengung, und die nichtwegzu-
deutende Problematik dieses Textes
liegt darin, dassman, wo man ihn liest,
die Er fahrung des Scheiterns beimVer-
suchmacht, mittels eigener Bewusst-
seinsleistungen diejenigen des Autor
einschätzen zuwollen, washalt misslin-
genmuss–bis mankapiert, dassnicht
die Bewusstseinsleistungen, sondern
eben deren Misslingensweisen Stoff,
Thema undForm des Buches ausma-
chen. In einer Erinnerungspassage
schreibt Maackvon einem Geschenk,
das er als Kind bekommen hat, einer
Puppe, die man der Hauptfigur ausSte-
venSpielbergs Science-Fiction-Kino-
märchen „E.T.“ nachempfunden hat.
Das Kind, das einmalgewesen zu
sein Maacksichdaerinnert, nahm
wahr,dassdiePuppe„auskaltemLeder-
imitat“gemacht war. Der Rezensent
stutzt:ErhateinesolchePuppeauchbe-
sessen,fand abergerade toll, das ssie
kein Stofftier war; wenn das Urbild
kein Fell hatte, sollteauchdas Abbild
zum Festhaltenkeines haben. Maacks
Adjektiv „kalt“machteinefürdiesenei-
nen zufälligen Leser angenehme Erfah-
rung zu etwa sUnheimlichem; eine Dif-
ferenz wir dsichtbar.Der Menschdaist
anders, ichverstehe nicht, wie er emp-
findet, aber dassich das nichtverstehe,
weiß ic hjetzt,alsErgebnisvonKommu-
nikation, Sprache, Literatur.
Nicht die Erschleichungder heuteso
ofteilfertig zusammengerührten„Em-
pathie“ istdie Leistungvon „Wenn das
nochgeht, kann es nicht so schlimm
sein“. DasBuchbenenntetwas, das
Leut enicht teile nkönnen; esruftnicht
um Hilfe undgewährtkeine, sondern
gestattet Aufmerksamkeit, Respekt
undpraktischeVernunftgerade da,wo
diese drei ohne die Sorte Arbeit, die
der Text vergegenständlicht, unmög-
lich wären. DIETMARDATH
Marxund Engels. Diesmal nicht die He-
gel-Umdreher,sonderndie beidenStädte
an derWolga, die erste1920, die zweite
1931 umbenannt.Nochwährend derZar
gegenWilhelm II. Krieg führte,ließ sich
Lenin mit Billigung der deutschenRegie-
rung im plombiertenEisenbahnwagen
nachRussland schmuggeln, im Gepäck
das ideologischeUnterfutter für den neu-
en Sowjetstaat.Die Russ landdeutschen
begrüßten die provisorischeRegierung,
erhielten sie nun dochden Status einer
Arbeitskommune,aus der sich1924 die
Wolgarepublik entwickelte. Sie bestand
bis zum nächstenWeltkrieg, bis 1941. Mit
Engels als Hauptstadt.
GerhardSawatzkysRoman „Wir
selbst“von1938 wirdals großes Epos
über dieseRepublik angekündigt, obwohl
das Vorspiel zur Gründung und dieAuf-
lösungfehlen: Dawarder Autorlängst
verhaftet. Er starb 1944 im Lager,der Ro-
man, bereitsgesetzt, blieb ungedruckt.
Die Handlung endetalso ir gendwann
in den dreißiger Jahren, klar in der lich-
tenZukunf tveror tet: vomGroßen Terror
kein Wort,dafür ein Hohelied derKollek-
tivierung. „In süd-westlicher Richtung
stieg jetzt der lachendeVollmond am
Himmel empor und übergossmit wei-
chem Dämmerlicht die endlosenStoppel-
felder,die riesigen Schwarzackerflächen,
den Apfelgraben derKollektivwirtschaft
‚LeninsWeg‘“.
Der fast eintausendeinhundertSeiten
starke Roman lässt sichsomit inwenigen
Wortenzusammenfassen:Nachde nGreu-
eln des Kriegskommunismus und den
Wirrnissen derNeuenÖkonomischenPo-
litik folgt von1929 an im zweiten Anlauf
die Zwangskollektivierung,gepaartmit
Verstaatlichung der Produktionsmittel
bei forcierter(Schwer)Industrialisierung.
DerWirtschaftswandelwirddenBewusst-
seinswandel schon bringen. Sawatzky
schildertallda splastisch, aberohneintel-
lektuelle Herausforderung;Figuren ohne
jede Psychologie, positiveoder negative
Helden,KommunistenoderKonter revolu-
tionäre. Mit Ellyund Heinrichdann noch
eine Liebesgeschichte–und fertig is tdie
Produktionsschmonzette. Im Pressetext
des Verlags und imNach wort heißt es
indes, dassdem Autordie Todesangst „im
Nack en saß“ und er mit seinemWerk „die
damaligeEpoche in ihrem Geist, ihren
Verirrungen und ihrer Tragik erfasst“
habe. Alsokeine Linientreue, sondern
die „Kindervonder Wolga“ alsPendant
zu denenvomArbat?
In seinem mit mehr als 150 Seiten
recht opulentenNachworthält Carsten
Ganselfest,Sawatzky habe Hunger und
Kannibalismus benannt,wasnicht ohne
Risikowar,denn es hätteals „Verleum-
dung“ ausgelegtwerden können. Allein,
es handelt sichumeinen einzigenAbsatz
am Ende der ersten hundertSeiten ...
Eine weiter emutigeEntscheidung sieht
Gansel in SawatzkysVerfahren, kritische
Äußerungen der Figurennicht durch
einenauktorialenErzählerzukommentie-
ren, freilichohne dassdahinter „das Be-
mühen, dem Leser Einsichtenetwa in
den stalinistischenTerror zu vermitteln“,
stünde.Dochsowiderwärtig,wiedieseFi-
gurengezeichnetsind, erübrigt sichjeder
Kommentar. Die Frage, wie anregend die
LektüresolcherPassagen ist,steht auf
einem anderen Blatt.
Es bleibt ein Punkt, den Gansel nicht
anspricht:die geänderte Minderheiten-
politik in der Sowjetunion.Wurd en in
den ersten Jahren nachder Revo lution
Minderheitengefördert, kamesinden
dreißiger Jahren zurRuss ifizierung.Füh-
rende Persönlichkeiten nationaler Grup-
pen wurden–auchimZugedes Großen
Terrors–verfolgt, verhaftetund getöte t.
Laut Gansel setzt sichSawatzky aber „für
eine autonome und gleichberechtigte
russlanddeutsche Nationalität“ ein und
entwirft in seinemRoman „die Utopie
eines gemeinschaftlichen Zusammen-
lebens derVölker der Sowjetunion“,wo-
bei „dieRuss landdeutschen als Ideal des
neuen Menschen“ vorgestellt werden.
Hier dürfteeher der Grund für seineVer-
haftung und dieAbsetzung desRomans
liegen.
Sawatzky wirdimNachwortals führen-
dePersönlichkeitder damaligenrussland-
deutschen Literaturszenevorgestellt, sei-
ne anderen Werkebleiben jedoch un-
erwähnt.Erhat Lyrikgeschrieben, eine
Sammlung„deutscherrevolutionärerPoe-
sie“ von1928 trug denTitel„Rote Knos-
pen“nacheinemseinerGedichte ;1934er-
schien die Erzählung „Unterweißen Mör-
dern“, hinzu kamen weiter eKurzt exte
und journalistische Arbeiten.
Die Kommunistenin„Wirselbst“ ha-
ben ihre Signale längstgehörtund wis-
sen, dassauf Gott,Kaiser oderTribun
kein Verlassist. „Wir haben einRecht,
stolz darauf zu sein“, sagt einervonih-
nen, „denn alles,waswir haben, haben
wir selbsterrungen, mitvereinten Kräf-
tenund unter derweisen Führung der
KommunistischenPartei der Bolschewi-
ki“, und deshalb „müssen wir selbst, ein
jeder vonuns, das sozialistische Eigen-
tum und all unsereErrungenschaften
schützen wie denAugapfel, damit uns der
Wegzum höchstenZiel der gesamten
werktätigen Menschheit,zumKommunis-
mus frei bleibe.“Sogar Gansel gibt zu,
das Werk könne „durchaus im Sinne der
neuen Machtgedeutet werden, aber es ist
mehr.Esbetont die Bedeutung derruss-
landdeutschen Gemeinschaft, denn im
Text bleibt die Handlung auf diese Grup-
pe konzentriert“,weshalb sichdort, wo
dieAussagenderFiguren„mitunterinG e-
fahr stehen, ins Plakativeumzuschlagen“,
eine Leseweise durchsetze, „die allzu
Klassenkämpferisches infragestellt“,
nochdazu„hinterdemRückendesErzäh-
lers“. Welche Sicht bitte, außer der,dass
bei derKollektivierungvonZwang keine
Rede seinkann, sonderndiese von„uns
selbst“gewollt war? Freiheit als Einsicht
in die Notwendigkeit ...
Im Nach wort werden einigeLiteratur-
kritiker zitiert, die „Wir selbst“ und
Michail Scholochows „Neuland unterm
Pflug“ auf eine–und zwar hohe–Stufe
stellen ,ohnedasserwähntwürde,wieum-
stritten dieserRoman während derPeres-
troik awar.Esgab sogarForderungen, ihn
wegenGeschichtsklitterung aus demrus-
sischen Lehrplan zustreichen. EineRe-
naissance erlebten damals andere: An-
drej Platonow, Michail Bulgakow,Isaak
Babel oder ArtjomWesjoly. IhreWerke
sind facettenreich, erschütternd undvoll
Phantasie. Brisant.Und in keinem Werk
heißt es, einzig dieKollektivierungver-
hindere, dass„wir mit den Menschen so
unbedacht und schonungslos umgehen“.
Oder man brauchtedringend „einen sow-
jetischen Ordnungssinn und eine bewuss-
te Arbeitsdisziplin“.
Sawatzkys„Wirselbst“ birgt nichts
„hinter dem Rück en des Erzählers“.
Wenn der Herausgeber CarstenGansel
einschränkt, man erfassedie Bedeutung
des Romans nicht, „wenn man die Histo-
rieder Russ landdeutschen nichtkennt“,
istihm zu widersprechen. Ob mit diesem
Wissen oder ohne: DerKaiser istund
bleibt nackt. CHRISTIANE PÖHLMANN
V
iele Figuren tragen ihr Ge-
schic kimNamen, diskret oder
eklatant,vage oder genau. Der
Autormusssubtil vorgehen –
oder erkaschier tden Namen im Dickicht
der Erzählung. Genau das macht Jean-
PhilippeToussaint in „Der USB-Stick“,
seinem ersten „richtigen“ Roman seit
„Fernsehen“ (1997). DerName desVa-
ters fällt früh, aber beiläufig, und der
Held wirdspät präsentiert: AufSeite
erfahren wir,dasserJean Detrez heißt,
wasimFranzösischen wie „détresse“
klingt.„HansNot“also:Toussaint,dersei-
ne Sache hervorragend macht, sorgt da-
für,dassdie NamensnennungzumSchick-
salsvollzug wird.Tatsächlich–sprachlos
blamiertDetrezsichvor HundertenHö-
rern,ein Albtraum.
Längstsind wir da im dritten, surrea-
len Teil. Ihmgehen zwei diskret-furiose
voran, ein Krimi um Lobbyarbeit, Bit-
coins,Fördermittelbetrug. Detrez, dop-
pelt geschiedener Vaterdreier Kinder,
arbeitet als Zukunftsforscher für die „Ge-
meinsameForschungsstelle fürWissen-
schaftliche Beratung“ in Brüssel. Dem
EuropäischenParlamentstellt erdenNut-
zen der Blockchain-Technologievor; dar-
auf spricht ihn der halbseidene JohnSta-
vropoulos an. Seine Beratungsfirmaver-
tritt eine bulgarische Gesellschaftfür
Daten verarbeitung, die EU-Gelder für
die Blockchain-Entwicklung einwerben
möchte; dieRechne rsoll diechinesische
FirmaBTPool Corporation liefern. Das
Ganze hat ein Geschmäckle, Deprez je-
dochist neugierig.
Bei einemTreffenpassier tdas Ent-
scheidende: „Er lagvormir,schwarz auf
dem dunkeln Anthrazit des Teppich-
bodens“–der USB-Stick, den Stavropou-
los verloren hat. Die Dateien darauf bele-
genmultiple Betrugspläne: Die Bulgaren
würden die EU-Rechner zum Bitcoin-Mi-
ning missbrauchen; die Chinesen haben
den Geräten eine Hintertür eingebaut,
um die Bulgaren übersOhr zu hauen;
Stavropoulos’Firma hält überall die
Hand auf. Detrez will sichdie Sache an-
sehen.
Teilzwei erzähltdenAufenthaltimchi-
nesischen Dalian: Im Dezember 2016 legt
Detrez auf demWegzueiner Konferenz
in Tokio einen inoffiziellen Zwischenhalt
dortein. Die Ereignisse seien nichtver-
rate n, aberToussaintsStorybrummt wie
ein nagelneuer Mining-Rechner.Alle Be-
fürchtungen bestätigen sichund gewin-
nen symbolischeWucht. Di eChinesen
sind wie Gu Zongqing, der Chef der
BTPool Corporation: jung, kompetitiv,
skrupellos. Toussaint, der China seit
zwanzig Jahren bereist, hat im nicht über-
setzten Vorgänger „Made in China“
(2017) Land und Leutegeehrt, besonders
seinen dortigen Verleger Chen Tong.
„Der USB-Stick“ hingegen skizziertein
bedrohliches Land der Mitte: „Es isteine
Tatsache, dasswir unsständig ausbrem-
sen und unsFesseln anlegen, ausRespekt
gegenübergeltendenNormen desUm-
weltschutzes,wegenunserer Moral, unse-
rerEthik,unseres humanistischen Ideals,
das wir derWelt demonstrieren.“
Die Nach teile dieser Haltung begreift
der KopfmenschDetrez, der für seinen
Kontinent einsteht.Sein Leben, dasVor-
sich-hin-Funktionieren, die scheiternde
Ehe mit Diane, spiegelt Europas Schwä-
che: „Ic hwar ein Experte für dieZukunft
geworden, aber einer für dieZukunftder
Lebensmittelversorgung, für dieZukunft
der Nato –für dieZukunftder Welt, aber
niemalsfürmeineeigeneZukunft.“Die
istdüster: „Ichhattedas Gefühl,keine
eigeneZukunftmehr zu besitzen.“ Daher
die Reise, eine „Parenthese meines Le-
bens“, eine „Leerstelle“.
Sie wird bedrohlich, als man ihm auf
die Schlichekommt, und öffneteine Fall-
tür derAbsurdität, als man ihn auf der
Hoteltoilette bestiehlt:„Vormir unter der
Türtaucht eeine Hand auf, einevöllig
unwirkliche, aus jedemZusammenhang
gerissene Hand, die in Höhe meinerFüße
inmeinGesichtsfeldgeriet,eineselbstän-
dig agierende, abgetrennte Hand, die sich
einen AugenblickimLeeren hin und her
bewegte, dasTerrain sondierte,schnell,
präzise, millimetergenau, dann meine
Schuhe berührte,flüchtig über das Ober-
leder strich,bevor sie ihrenWegfortsetz-
te und auf meinen Computerstieß, den
sie abzutastenbegann. Ichblieb wie er-
starrt sitzen, festgenagelt auf meinem
Platz,völlig unfähig zu einer Bewegung
und sah zu, wie die Hand den Deckelmei-
nes MacBook Air zuklappte und das Ge-
rätraschunter dieTrennwand zog und an
sichbrachte.“Mit demRechner kommen
Detrez’Reden abhanden, sein Geistgerät
ins Taumeln. DerAuftritt in Tokio (Teil
drei) wirdkatastrophal, ein Schiffbruch
des Abendlandes,Version banal.Voral-
lem aber erfährtDetrez, das ssein Vater
schwer krank ist, undreistüberstürzt ab.
Mit einem Schlag wirdder Roman umge-
krempelt:InpersönlichgeprägtenPassa-
gennähertDetrezsichdem väterlichen
Totenbett. Die Krimihandlung istverges-
sen, wirkt wie eine HommageanTous-
saints eigenenVaterYvon–einen Krimi-
Autor. Die IdentifikationvonHeld und
Autorlegt beider Distanz zum eigenen
Empfinden ebenso nahe wie eine Szene,
die Detrez’ Büroinein ehemaliges Bade-
zimmerverlegt, einVerweis aufTous-
saints Erstling „Das Badezimmer“
(1985). Wasanfangs als
Krimi besterMinuit- Tradition samtig
schnu rrte, er weistsichals fas tautobio-
graphischeReflexion auf dasVerhältnis
zu den Elternund zu sichselbst:gran-
dios. NIKLAS BENDER
Benjamin Maack:„Wenn
dasnochgeht, kann es
nicht so schlimm sein“.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2020.
333 S., br., 18,– €.
Gerhar dSawatzky:
„Wir selbst“.Roman.
Hrsg. vonCarsten Gansel.
GalianiVerlag, Berlin 2020.
1088 S.,geb., 36,– €.
Jean-PhilippeToussaint:
„Der USB-Stick“.Roman.
Ausdem Französischen
vonJoachimUnseld.
FrankfurterVerla gsans talt,
FrankfurtamMain 202 0.
192 S.,geb., 22,– €.
Wiedie Republik geformtwurde
SozialistischerRealismushausgemacht:Gerhar dSawatzkyszwiespältigerRoman „Wir selbst“
Benjamin Maack,aufgenommen imvergangenen Jahr FotoHeikeSteinweg/Laif
Wertvoller als
Lebenshilfe
BenjaminMaack
erzähl tin„Wenn das
noch geht,kann es
nicht so schlimm sein“
voneinerDepression.
Praktische Erfindung:
Bei etwaig verbrecherischerAbsicht liefertdieser USB-Stick
denFingerabdruckgleichmit.FotoArmin Herrmann
Diediebische Hand
Jean-PhilippeToussaintserster
richtiger Romanseit1997:„DerUSB–Stick“