Es hätte ein kultureller Brückenschlag wer-
densollen am kommenden Wochenende
in der Berliner Philharmonie. Unter Lei-
tung des Dirigenten Ilan Volkov wollten die
Israel Contemporary Players zeitgenössi-
sche Musik aus Israel vorstellen. Doch in
Zeiten des Coronavirus ist es auch mit dem
musikalischen Grenzverkehr nicht mehr
so einfach. Volkov jedenfalls hatte das
Pech, gerade aus Deutschland nach Israel
zurückgereist zu sein, wo die Schutzmaß-
nahmen für die Bevölkerung besonders
hoch sind. Man stellte ihn zwei Wochen un-
ter Quarantäne, was sich das Orchester
nachvollziehbarerweise ersparen wollte,
weshalb es nun erst gar nicht nach Deutsch-
land reisen wird. Das geplante Festival
„Tel Aviv – Berlin“ muss nun auf nur einen
Abend verkürzt werden. Mit einer ähnli-
chen Enttäuschung müssen Besucher des
Bonner Beethovenfests leben, die sich für
das kommende Wochenende auf das Mai-
länder Sinfonie-Orchester „Giuseppe Ver-
di“ gefreut haben. Aufgrund der aktuellen
italienischen Reisebestimmungen musste
das Orchester den Auftritt absagen.
Solche Meldungen fallen momentan
noch auf in Deutschland, wo im Klassikbe-
trieb bislang ziemliche Routine herrscht.
Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV)
hat die von ihnen vertretenen Opern- und
Konzertorchester angewiesen, für ver-
stärkte Hygienemaßnahmen hinter den
Bühnen zu sorgen. Ansonsten, sagt Gerald
Mertens, der Geschäftsführer der DOV, lau-
fe der Spielbetrieb „ganz normal“. Das
sieht andernorts längst anders aus, in Asi-
en sowieso, aber auch in den USA beginnen
bereits Konzertsäle zu schließen. Das be-
sonders betroffene Italien hat vorsorglich
sämtliche Opernhäuser des Landes bis vor-
erst 4. April geschlossen. Im berühmtesten
von ihnen, der Mailänder Scala, befinden
sich alle Mitarbeiter im Homeoffice bezie-
hungsweise Zwangsurlaub, nachdem zwei
von ihnen positiv auf den Coronavirus ge-
testet wurden. Da viele italienische Opern-
häuser vom Staat nicht üppig finanziert
werden und auf Abendeinnahmen ange-
wiesen sind, könnte das Virus für sie zur
Existenzkrise werden.
Auch in der Schweiz ist der Spielbetrieb
massiv eingeschränkt, weil der Staat nur
noch Veranstaltungen mit weniger als tau-
send Besuchern zulässt. Die Kantone legen
die Regelung unterschiedlich streng aus,
weshalb beispielsweise die Zürcher Oper
momentan weiterspielt. Das Theater Basel
dagegen hat in den vergangenen Tagen
das Geld für zehntausend bereits verkauf-
te Karten an Besucher zurückerstattet,
weil das Haus seit Anfang März geschlos-
sen ist. Weil niemand weiß, wann es weiter-
gehen wird, seien die Vorverkaufszahlen
auch für kommende Vorstellungen „bis
auf die Hälfte gesunken“, sagt Henriette
Götz, die Kaufmännische Direktorin des
Hauses. Normalerweise nehme man durch
Kartenverkäufe pro Monat etwa eine Milli-
on Schweizer Franken ein. „Den Rest“, so
Götz, „können Sie sich ausrechnen“.
Gerald Mertens vom DOV schätzt, dass
ein staatlich oder städtisch finanziertes
Theater in Deutschland 15 bis 20 ausgefal-
lene Spieltage in der Bilanz notfalls „weg-
drücken“ könnte. Eine Schließung von drei
bis vier Wochen wäre für ein durchschnitt-
liches Haus also verkraftbar, danach frei-
lich entstünden Löcher in den Etats, die
auch die Planung für kommende Spielzei-
ten noch massiv einschränken würden.
Wenn einmal auch in einem deutschen The-
ater ein Ensemblemitglied positiv auf den
Coronavirus getestet wird, ist es gut mög-
lich, dass dann der Orchestergraben leer
bleibt oder dass nur noch Kammeropern
gespielt werden können, weil der komplet-
te Chor in Quarantäne muss.
Dennoch bekommen hierzulande bis-
lang vor allem freiberufliche Musiker und
Ensembles die Folgen des Virus zu spüren,
sofern sie etwa Auftritte in Italien, Israel
oder asiatischen Ländern geplant haben.
Dass die Fluggesellschaften die Zahl ihrer
internationalen Flüge massiv reduziert ha-
ben, ist dabei noch das kleinste Problem.
„Uns bricht gerade die Geschäftsgrundla-
ge weg“, sagt Sabine Franvon der internati-
onal tätigen Künstleragentur Harri-
son/ Parrott. Schließlich gilt eine regie-
rungsseitlich verhängte Schließung oder
Einreisesperre als höhere Gewalt, kein Ver-
anstalter zahlt da einen Vertrag aus. Agen-
turen aber leben von den Provisionen, die
sie von den Einnahmen der Künstler be-
kommen. Für Frank ist Corona deshalb
schon heute „eine große Krise“, die ihre
Agentur „richtig, richtig heftig“ treffe.
Reihenweise würden Konzerte ihrer
Künstler abgesagt, zudem seien etwa in
China Musikfestivals bereits für das kom-
mende Jahr suspendiert, weil staatliche
Subventionen dort nun anderweitig ge-
braucht würden. Betroffen sind auch Or-
chestertourneen, die in die für den ameri-
kanischen und europäischen Klassik-
markt lukrativen asiatischen Länder füh-
ren. Dem Freiburger Barockorchester etwa
wurden vier geplante Konzerte in Hong-
kong und Seoul abgesagt, von der geplan-
ten Tournee blieb nur noch ein Auftritt im
australischen Melbourne übrig. Im konkre-
ten Fall trug eine Versicherung die Kosten
für die ausgefallenen Konzerte. Für die Zu-
kunft wäre das nicht mehr möglich, weil
die meisten Versicherer coronabedingte
Schäden inzwischen von der Erstattung
ausschließen.
Sollten auch in Deutschland Konzerte
abgesagt werden, erwägt das Ensemble,
Konzerte aus seinem Freiburger Probenge-
bäude live ins Internet zu streamen, wie es
beispielsweise das Teatro La Fenice in Ve-
nedig mit zwei Konzerten getan hat. Auf
Dauer aber würde dabei nicht nur das Fi-
nanzierungskonzept für die 29 festbeschäf-
tigen Musiker ins Wanken geraten, schnel-
ler noch bekämen die häufig gebrauchten
Aushilfen die ökonomischen Auswirkun-
gen zu spüren. „Sie auszubezahlen schafft
ein freies Ensemble nicht“, sagt Martin
Bail, der Pressesprecher des Orchesters,
„das ist für Freiberufler ein Horror“.
Längst ist denn auch Unruhe bei Kon-
zertveranstaltern zu spüren, die nicht öf-
fentlich finanziert und deshalb besonders
auf Einnahmen aus Kartenverkäufen ange-
wiesen sind. Der Bundesverband der Kon-
zert- und Veranstaltungswirtschaft hat be-
reits vom Bundeswirtschaftsministerium
gefordert, sich Gedanken über ein Hilfepro-
gramm zu machen. Der Verband fürchtet,
dass im Falle flächendeckender Absagen
vielen freien Konzert- und Tourneeveran-
staltern der wirtschaftliche Kollaps drohe.
Andreas Schessl, der mit MünchenMu-
sik den größten Konzertveranstalter in
München leitet, will auf Nachfrage vorerst
dennoch den Ball flach halten. Bereits ge-
kaufte Karten würden bei ihm bislang eher
selten zurückgegeben, sagt er, Einbußen
spüre er aber bei den Vorverkäufen. Um et-
wa 20 Prozent, schätzt er, seien die Karten-
käufe für anstehende Veranstaltungen zu-
rückgegangen. „Keine Panik, sondern Vor-
sicht“ lautet die Maxime, die Schessl sei-
nem Unternehmen momentan verordnet.
Im Falle einer Konzertabsage aber blie-
be auch er auf 40 Prozent der Kosten sit-
zen, obwohl er dann keine Saalmiete und
den Künstlern keine Honorare zahlen
müsste. Entsprechend hofft er noch, dass
die Krise in Deutschland glimpflicher ab-
läuft als andernorts. „Wir müssen von Tag
zu Tag sehen, wie wir weiterkommen.“
michael stallknecht
MEDIAPLAYER
von andrian kreye
E
s ist fast unmöglich, die Musik des Pi-
anisten McCoy Tyner zu entschlüs-
seln, der am Freitag gestorben ist.
Der Saxofonist und Jazzpionier John Col-
trane, mit dem Tyner fünf Jahre lang spiel-
te, sagte mal über ihn: „Tyner ist der, der
mir Flügel verleiht, damit ich abheben
kann. Aber er spielt Sachen auf dem Kla-
vier, von denen ich keine Ahnung habe.“
Kraftausbrüche, bei denen er Klaviere wie
Schlagwerk bearbeitete, Sus-Akkorde mit
Quartvorhalten, afrikanische Rhythmen
und fernöstliche Harmonielehren kulmi-
nierten bei Tyner in einem ihm eigenen
Ausdruck, der heute nur deswegen so ver-
traut klingt, weil er für Jazzpianisten
schon seit den Sechzigerjahren der Gipfel
ist. Unendlich schwer zu erreichen und
gleichzeitig das Maß aller Dinge.
Tyner hatte eine mächtige, oft aggressi-
ve linke und eine fast schon akrobatische
rechte Hand. Was für Größe er aus einem
Moment heraus entwickeln konnte, hörte
man schon gleich zu Beginn seiner Lauf-
bahn. Im Herbst 1960 beispielsweise, als
John Coltrane den damals 21-jährigen
McCoy Tyner gerade in sein Quartett gehol-
te hatte und mit ihm in den Atlantic Stu-
dios „My Favorite Things“ auseinander-
nahm, den kitschig-euphorischen Walzer
aus dem Alpenlandmusical „Sound of Mu-
sic“, das im Jahr zuvor am Broadway Urauf-
führung gefeiert hatte. Die Radikalität, mit
der Coltrane und Tyner den Schlager von
allem Schmelz und Schmalz befreiten, die
Akkordfolgen auf ein Minimum reduzier-
ten, auflösten, war eine Sensation. Auch
weil sie damit ganz offiziell die Wende des
Modern Jazz zur modalen Musik manifes-
tierten, in der die Musiker nicht mehr auf
Akkordfolgen, sondern entlang von Skalen
improvisierten, was enorme Freiräume
schaffte. Schwer heute im Zeitalter der
übertourigen Reizschwellenverschiebun-
gen die Wirkung zu beschreiben, die das da-
mals hatte. Jimi Hendrix hatte in Wood-
stock noch einmal so einen Kulturmeteori-
ten inszeniert, als er die amerikanische Na-
tionalhymne mit Rückkoppelungen und
Übersteuerungen zerfetzte und gleich mal
die gesamte Entwicklung des Hard-
Heavy- und sonstigen Rock vorausnahm.
Fast eine Viertelstunde dauert „My Fa-
vorite Things“ von Coltrane mit Tyner. Der
versucht erst gar nicht, sich mit den Saxo-
fonkaskaden Coltranes zu messen. Mit
schweren Block-Akkorden, mit Arpeggien
und Ostinati verleiht er dem Walzer eine
melancholische, fast düstere Atmosphäre.
Hatte Tyner vielleicht noch im Ohr, wie
sein Vorgänger Wynton Kelly nur ein Jahr
zuvor bei „Giant Steps“ nach Coltranes So-
lo mit seiner rechten Hand kläglich am Di-
ckicht der Harmonien gescheitert war?
„My Favorite Things“ wurde im Winter
1960 /61 in den USA ein richtiger Hit. Col-
trane und Tyner spielten ihn in den fünf
Jahren ihrer Zusammenarbeit öfter als je-
des andere Stück. Für beide war es ein Auf-
bruch, der Cotrane in den Free Jazz führt
und Tyner in eine lebenslange Öffnung des
Jazz für immer neue Einflüsse, die ihn
auch nach seinem Ausstieg aus dem Coltra-
ne Quartet 1965 über Jahrzehnte zu einem
der prägendsten Musiker in der Geschich-
te des Jazz machte. „Tyners Herangehens-
weise rollte wie eine Schockwelle durch die
Gemeinde“, schrieb der Pianist Ethan Iver-
son in einem Essay zu Tyners 80. Geburts-
tag. „Keiner – weder Tatum, noch Powell,
noch Monk, noch Bill Evans – ließt die Bom-
be für Jazzpianisten so platzen wie McCoy
Tyner. Seither gibt es prä-McCoy und post-
McCoy. Punkt.“
Was musikalisch so schwer zu erklären
ist, weil es meist nur Musikern nachvoll-
ziehbar ist, wie sich ein Akkord öffnet, bei
dem die Terz der Quart weichen muss,
lässt sich bei Tyner erstaunlich biografisch
nachvollziehen. Die aggressive linke Hand
beispielsweise stammt aus seiner Schul-
zeit. Tyner wuchs in West-Philly auf, je-
nem Teil von Philadelphia, der mit seinen
schmucken Reihenhäusern seit den
1880er-Jahren zu einem der zentralsten
afroamerikanischen Bürgervierteln an der
Ostküste geworden war. Seine Mutter Bea-
trice betrieb einen Schönheitssalon, und
weil das der größte Raum im Haus der fünf-
köpfigen Familie war, stellen sie dort auch
das Klavier auf. Die Mutter war es, die hin-
terher war, dass der Älteste Klavier lernt.
Sie erlaubte ihm sogar, während der Ge-
schäftszeiten mit Freunden Jam Sessions
zu veranstalten.
In Philadelphia gab es damals eine be-
eindruckend große Jazzszene. Einer der
ersten, die auf den jungen McCoy Tyner
aufmerksam wurden, war der Trompeter
Lee Morgan, damals selbst noch unbe-
kannt und nur ein halbes Jahr älter. Der
Schlagzeuger Tootie Heath, einer der legen-
dären Heather Brothers aus der Stadt, erin-
nerte sich mal, wie ihn Morgan zu dem
Schönheitssalon schleppte, sie durchs
Fenster zuhörten und beeindruckt waren.
Ebenfalls in der Nachbarschaft wohn-
ten Bud Powell und sein Bruder Richie.
Bud gehörte zum Be-Bop-Hochadel, war
mit Thelonious Monk befreundet und
Charlie Parker verfeindet. Richie war der
Pianist der Clifford Brown-Max Roach-
Quintetts. Daheim in Philadelphia hatten
sie kein Klavier, deswegen kamen sie öfter
zu den Tyners, um zu üben. Der junge
McCoy verstand nicht so recht, wie sie das
spielten, aber es gefiel ihm. Es war dann Ri-
chie, der ihm so einiges zeigte und von
dem er die schwere linke Hand abschaute.
Die afrikanischen Rhythmen? An der
Pennsylvania Academy of the Fine Arts stu-
dierte damals der ghanaische Schlagzeu-
ger und Künstler Saka Acquaye. Um sein
Studium zu finanzieren unterrichtete er an
einer Tanzschule afrikanische Rhythmen.
Als Begleiter holte er sich damals den jun-
gen McCoy Tyner.
Und dann war da noch der legendäre Pia-
nist und Komponist Hasaan Ibn Ali, ein ge-
nialischer Querkopf, der nur einmal in sei-
nem Leben eine Platte mit Max Roach auf-
nahm und sich ansonsten mit seiner, wie
man so sagt, etwas intensiven Persönlich-
keit selbst im Weg stand. Der experimen-
tierte schon in den Fünfzigerjahren mit Ak-
korden und Dissonanzen, die erst Jahre
später ins Vokabular des Jazz fanden. Von
ihm lernte Tyner die Wirkung der Quart-
vorhalte und die virtuosen Tricks mit der
Rechten. Denn Ali hatte ein ausgeprägtes
Sendungsbewusstsein, mit dem er zuvor
schon den Saxofonisten John Coltrane be-
einflusst hatte, der ebenfalls in Philadel-
phia aufgewachsen war.
Coltrane arbeitete während der Fünfzi-
gerjahre vor allem für Miles Davis. Er be-
suchte aber zwischen Touren und Aufnah-
men öfter mal seine Mutter, die nicht weit
von den Tyners wohnte. Coltrane fand in
dem zwölf Jahre jüngeren Tyner eine Art
musikalischen Seelenverwandten. Bei je-
dem Besuch schaute er vorbei. Oft saßen
sie stundenlang vor dem Haus der Tyners
auf den Stufen und redeten über Musik.
Bald begannen die beiden gemeinsam zu
üben. McCoy Tyner hatte seinen ersten pro-
fessionellen Job dann Ende der Fünfziger-
jahre im Jazztet mit dem Saxofonisten Ben-
ny Golson und dem Trompeter Art Farmer.
Doch nur ein Jahr später engagierte John
Coltrane den jungen Tyner für sein Quar-
tett, das mit dem Schlagzeuger Elvin Jones
und dem Bassisten Jimmy Garrison Ge-
schichte machen sollte. Die Gruppe tourte
fast ununterbrochen, nahm nebenher epo-
chale Alben wie „Live at the Village Vangu-
ard“ und „A Love Supreme“ auf. Trotzdem
fand Tyner noch die Zeit, für das Blue Note-
Label erste Platten unter eigenem Namen
oder mit Leuten wie Freddie Hubbard, Joe
Henderson und Lee Morgan aufzuneh-
men.
1965 kam es zum Bruch mit Coltrane.
Die beiden hatten mit der modalen Musik
den Jazz revolutioniert. Den Weg in den
Free Jazz wollte Tyner nicht mehr gehen.
Und auch wenn seine Jahre mit Coltrane
und Blue Note seinen Ruf und seine Lauf-
bahn begründeten, begann mit seinem
Ausstieg eine der produktivsten Lebensge-
schichten im Jazz. Auf Alben wie „Expansi-
ons“, „Sahara“ und „Atlantis“ fand er im-
mer neue Impulse, um die enormen Frei-
räume des modalen Jazz mit Ideen und
Energie zu füllen. Über achtzig Alben
nahm er unter eigenem Namen auf. Fünf
Grammys wurden ihm dafür verliehen, Gi-
ganten wie Herbie Hancock und Chick Co-
rea nannten ihn als entscheidenden Ein-
fluss auf ihre eigene Arbeit. 2002 ernannte
ihn das National Endowment of Arts zum
„Jazz Master“.
Sein letztes Album nahm McCoy Tyner
2007 auf, den Mitschnitt eines Solokonzer-
tes in San Francisco, das von der Kritik be-
geistert als Beweis für die ungebrochene
Wirkung seines kraftstrotzenden Stils be-
schrieb. Über den er sich hin und wieder
selbst lustig machte. 2015 ehrte ihn seine
Heimatstadt Philadelphia mit einem der
unzähligen Preise, die er bekam. Ob ihn
sein handgreiflicher Stil nicht schon in
Schwierigkeiten gebracht habe, fragte ihn
der Direktor für Jazz beim Radiosender
der Temple University. „Deswegen bin ich
jetzt Steinway-Musiker“, sagte Tyner da-
mals und lachte. „Die bauen mir die Sa-
chen so, dass ich sie nicht kaputtmache.“
Am vergangenen Freitag verkündete sei-
ne Familie seinen Tod über Twitter und
Facebook. Er wurde 81 Jahre alt.
„Keine Panik, sondern Vorsicht“
Das Coronavirus lässt mittlerweile auch das Geschäft mit der klassischen Musik einbrechen
Auf Hygiene wird geachtet, rigoros, im Rial-
to Nachtclub in Detroit: Kein Kautabak
beim Geschirrspülen, steht an der Küchen-
wand. Victor und Nancy sind hier gelandet,
weil sie die 36 Dollar für ihre Rechnung
nicht hatten. Und weil sie den Rialto-Tanz-
wettbewerb nicht gewinnen konnten, der
ihnen eben diese Summe eingebracht hät-
te. Victor ist dennoch fröhlich, weil er sich
in Nancy verguckt hat, als sie von einem
Lieferwagen angefahren wurde. Nancy ist
sauer, weil Renaldo, der sie zum Date ins Ri-
alto bestellte, sich ein anderes Girl
schnappte, vor ihren Augen: Einheel, ein
windiger Schuft und Charmeur. Er liebt es
einheelzu sein. Komm, nehmen wir einen
Scotch mit Sofa, ist einer seiner Sprüche.
„Crimewave“ ist ein Film aus dem Jahr
1985, Regie Sam Raimi, Drehbuch Joel und
Ethan Coen. Ein ungestümes kreatives
Trio, sie hatten eben mit ihren ersten gro-
ßen Filmen für Aufsehen und Erfolg ge-
sorgt, Raimi mit „Evil Dead/Tanz der Teu-
fel“, bei dem Joel Schnittassistent war, die
Coens mit „Blood Simple“.
Die Stadt von General Motors hatte da-
mals keinen sehr guten Ruf, was die öffent-
liche Sicherheit anging, dafür interessiert
sich der Film aber gar nicht, nur für eine fa-
tale mörderische Intrige im bürgerlichen
Milieu, ein paar Stunden voller Arglist und
Frust. Ein Killerpaar macht die Nacht unsi-
cher, hartnäckige, aber unbedarfte Kam-
merjäger:We kill all sizes.
Der Film bedeutete eine neue Größen-
ordnung für die drei jungen Filmfreaks,
Hollywood war aufmerksam geworden auf
sie. Edward R. Pressman war der Produ-
zent, ein wichtiger Mann des jungen Holly-
wood, er hat „American Psycho“ von Mary
Harron produziert, „Blue Steel“ von Ka-
thryn Bigelow, „Wall Street“ von Oliver Sto-
ne. In „Crimewave“ hat er sogar eine Rolle
vor der Kamera, als Mr.Trend.
Der Film war ein fürchterlicher Flop
und wurde von der Kritikern gerupft. Sam
Raimi wurde das Recht auf den Final Cut
verweigert, und er durfte für den Loser-
Helden Victor nicht Bruce Campbell neh-
men, der mit ihm zusammen „Evil Dead“
geschaffen hatte. Campbell wurde dafür,
und mit großer Lust, Renaldothe heel.
Mr. Trend hat eine Security-Firma, Vic-
tor installiert Überwachungskameras für
ihn, und Mr. Trend rät ihm einen Plan fürs
Leben zu finden und das Mädchen dafür.
Er selbst verwechselt auf dem Flur die Tü-
ren und landet statt in seiner Wohnung
erst mal in der Besenkammer. Er will sei-
nen Partner umbringen lassen, auch das
endet anders als erwartet. Und Victor ver-
schlägt es auf den elektrischen Stuhl, im
Hudsucker Staatsgefängnis.
„Crimewave“ ist ein Film, der vor nichts
zurückschreckt, er ist grotesk und krude,
in dreistes Neonlicht getaucht, schep-
pernd und schleppend, infantil und revolu-
tionär. In den zehn Jahren zuvor hatten
Martin Scorsese und Paul Schrader ihr
New Hollywood geschaffen, in aller Ehr-
furcht vor dem alten, klassischen, mit „Ta-
xi Driver“ und „American Gigolo“. „Crime-
wave“ ist dagegen rasende Anarchie. Noch
einmal Kino zum Selberbasteln, als würde
man einem kleinen Jungen zuschauen, wie
er ein Spielzeug auseinandernimmt und es
dann wieder zusammenbaut, aber – er hat
keinen Bauplan und womöglich gibt es gar
keinen – völlig verquer. Aber diese destruk-
tive Energie hat für Jahrzehnte das neue
amerikanische Erfolgskino dynamisiert,
bis hin zu den Marvel-Konstrukten. Die Co-
ens bastelten an ihren ersten großen Stu-
diostücken, „Raising Arizona“, „Barton
Fink“ und „The Hudsucker Proxy“, an dem
beim Drehbuch und als Regieassistent
Sam Raimi mitmachte, Raimi schuf den
Kassenerfolg „Evil Dead 2“ und die drei Spi-
der-Man-Filme. Dichte Studien amerikani-
scher Kleinbürgerlichkeit, bei den Coens
dringt schon trotz aller Subversivität der
unangenehme großbürgerliche Blick auf
Underdogs und Verlierer durch, von oben.
In „Crimewave“ steckt die Sehnsucht
nach einem ursprünglichen Kino, nach
Slapstick und Zeichentrick, wo die Gesetze
der Schwerkraft und der Logik aufgeho-
ben sind. Du bist einheel, sagt Victor zu Re-
naldo. Und du?, fragt dieser zurück. Viel-
leicht ein Bursche, derheelshasst. Nun, er-
widert Renaldo, vielleicht bin ich ein Bur-
sche, der Burschen hasst, dieheelshassen.
fritz göttler
„Crimewave“, bei uns unsinnigerweise als
„Killer-Akademie“ im Kino, ist auf DVD
und Plural erschienen bei Koch Media.
Der mit Vorwürfen sexueller Belästigung
konfrontierte Tenor Plácido Domingo hat
sich auch aus einer Produktion am Royal
Opera House in London zurückgezogen.
Das Opernhaus betonte, dass vor Ort keine
Klagen über den 79-Jährigen eingegangen
seien. Die Oper habe Verständnis für die
Gründe seines Rückzugs. Das Ausscheiden
Domingos aus der Opernproduktion reiht
sich ein in eine ganze Reihe abgesagter Auf-
tritte des Sängers unter anderem in Tokio,
Madrid und San Francisco. ap
Nichts für den Schönheitssalon
Erbearbeitete seine Klaviere wie Schlagwerke und fütterte sie mit Kraftausbrüchen, Quartvorhalten und afrikanischen
Rhythmen. So wurde McCoy Tyner zum wichtigsten aller Jazzpianisten. Jetzt ist er im Alter von 81 Jahren gestorben
Es ist gut möglich, dass bald
auch in einem deutschen Theater
der Orchestergraben leer bleibt
Es ist möglich, dass Veranstaltern
bei flächendeckenden Absagen
der wirtschaftliche Kollaps droht
Tyner hatte eine
fast schon akrobatische
rechte Hand
Scotch mit
Sofa
Bis es kracht: „Crimewave“ von
Sam Raimi und den Coen-Brüdern
Plácido Domingo sagt
Auftritte in London ab
Weh dem, der lügt, hieß das
Lustspiel des Tragödiendich-
ters Franz Grillparzer, das an
der Wiener Burg vor über
180Jahren ausgebuht wurde.
Wähl den, der lügt, empfahlen die Münch-
ner Lach- und Schießer 1961. Ihr Dieter Hil-
debrandt verwirrte dann wiederum mit sei-
ner Richtigstellung: Wähl den. Der lügt. Da
gab es also eine Wahl und eine Alternative
weit weg von der Lüge.
In diesen Tagen jedoch stecken die Lüg-
ner offensichtlich überall. Warum sonst
kommen all die Fernseh-Politmenschen
nicht ohne den verschärften Hinweis auf
ihre eigene Ehrlichkeit aus? An Markus Sö-
ders in geballter Regelmäßigkeit beteuerte
„feste Überzeugung“ schließen sich naht-
los all die anderen Applauscatcher mit ih-
rem „muss ich ganz ehrlich sagen“ an. Sie
hantieren mit diesem Phrasen-Fortsatz als
Dauerbestandteil jedes Satzes und gehen
gleich grundsätzlich davon aus, dass ihnen
ihr Gegenüber den Ruch des Lügners an-
heftet. Der genasführte Zuhörer beginnt
zu grübeln. Warum weckt einer, der „ganz
ehrlich“ spricht und dies somit als zu beto-
nende Ausnahme deklariert, kein Miss-
trauen? angelika boese
Die aggressive linke Hand
beispielsweise stammt
aus seiner Schulzeit
(^10) FEUILLETON Montag, 9. März 2020, Nr. 57 DEFGH
Meister der schweren Block-Akkorde, Arpeggien und Ostinati: Jazzpianist McCoy Tyner. FOTO: DAVID REDFERN/GETTY IMAGES
Reed Birney in „Crimewave/Die Killer-
Akademie“ (1985). FOTO: VERLEIH
PHRASENMÄHER
Ganz ehrlich