Süddeutsche Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1
Das Ausmaß des weltweiten Insektenster-
bensist nach Einschätzung von Wissen-
schaftlern weitaus größer als bislang
angenommen. Bis zu einer halben Million
Insektenarten seien seit Beginn der Indus-
trialisierung bereits durch Lebensraumzer-
störung, den Einsatz immer größerer Men-
gen Pestizide in der Landwirtschaft und an-
dere menschliche Einflüsse ausgestorben,
schreibt ein internationales Wissenschaft-
lerteam nach Auswertung Dutzender For-
schungsarbeiten aus allen Weltregionen
im Fachjournal Biological Conservation.
Der Trend halte ungebrochen an, warnen
die 25 auf ihrem Fachgebiet führenden In-
sektenforscher aus allen Erdteilen in ihrer
„Warnung an die Menschheit“ überschrie-
benen Analyse. „Die Zahl der bedrohten
und bereits ausgestorbenen Arten wird in
einem bestürzenden Ausmaß unter-
schätzt“, heißt es in der Metaanalyse zur La-
ge von Schmetterlingen, Bienen, Ameisen,
Spinnen, Käfern und weiteren Insekten-
gruppen.
Die Forscher haben für ihre Bestands-
aufnahme eine Art Gesamtschau aller ver-
fügbaren Einzeluntersuchungen zu den
verschiedensten Insektengruppen der ver-
gangenen Jahrzehnte vorgenommen. Sie
verweisen auf neuere Studien, die zeigten,
dass der 2017 zuerst von Krefelder Insek-
tenforschern festgestellte Verlust von
75 Prozent der Insektenmasse in Teilen
Deutschlands kein Einzelfall sei, sondern
ähnlich auch in anderen Teilen Europas
und weiteren Weltregionen festgestellt
werde. Eine globale Analyse der Insekten-
vorkommen im vergangenen Jahr habe ei-
nen Rückgang um 45 Prozent bei zwei Drit-
teln der untersuchten Arten belegt. Rück-
gänge in dieser Dimension seien stets die

Vorläufer des Aussterbens von Arten, war-
nen die Forscher. Auch der Weltbiodiversi-
tätsrat kommt zu dem Ergebnis, dass die
Hälfte der rund eine Million in den kom-
menden Jahrzehnten vom Aussterben be-
drohten Tier- und Pflanzenarten Insekten
sind.
Das genaue Ausmaß des Insekten-
schwundes ist auch deshalb nur schwer zu
ermitteln, weil anders als etwa bei Vögeln
oder Säugetieren noch vergleichsweise we-
nig über viele Insektenarten bekannt ist.
Nur jede fünfte der geschätzt weltweit
5,5 Millionen Insektenspezies trägt bisher
überhaupt einen Namen. Deshalb schät-
zen die Forscher auch die in der internatio-
nalen Roten Liste genannte Zahl von 8400
in ihrer Existenz bedrohten Insektenarten
als viel zu niedrig ein. Diese könne sich

zwangsläufig nur auf schon bekannte und
untersuchte Arten beziehen, dabei seien
auch die unbekannten Arten den gleichen
Problemen ausgesetzt wie ihre dem Men-
schen bereits bekannten Verwandten: Le-
bensraumzerstörung, Klimawandel und
Intensivlandwirtschaft an erster Stelle.
„Wir wissen noch lange nicht alles über In-
sekten, aber wir haben genügend Erkennt-
nisse, um zu wissen, dass es höchste Zeit
zum Handeln ist“, sagt Studien-Mitautor
Thomas Fartmann. „Auch in vergleichswei-
se gut erforschten Weltregionen wie in Eu-
ropa könnten weitere Arten aussterben, be-
vor wir überhaupt mitgekriegt haben, dass
es sie gibt“, sagt der Entomologe von der
Universität Osnabrück.
Sollte der gegenwärtige Negativtrend
ungebrochen anhalten, sehen die Autoren
gravierende Auswirkungen für die globa-
len Ökosysteme und die Menschheit. „Gro-
ße Teile des Lebensnetzwerks auf der Erde
und einzigartige ökologische Funktionen“,
stünden auf dem Spiel. Die Wissenschaft-
ler verweisen auf „Güter und Dienstleistun-
gen“ der kleinen Krabbel- oder Flugtiere
wie Bestäubung, die für den Erhalt der Bo-
denfruchtbarkeit wichtige Zersetzung und
die Gewinnung neuer Medikamente mithil-
fe von Insekten. Einige dieser als „Ökosys-
temdienstleistungen“ bekannten Beiträge
von Insekten zum Funktionieren des
Lebens auf der Erde lassen sich sogar quan-
tifizieren, etwa die für die weltweite Le-
bensmittelproduktion wichtige Bestäu-
bungsleistung. Fast 90 Prozent aller Blü-
tenpflanzen der Erde und Dreiviertel aller
wichtigen Nutzpflanzen werden von Insek-
ten bestäubt. Der wirtschaftliche Wert
wird auf 200 bis 600 Milliarden Euro pro
Jahr geschätzt. thomas krumenacker

interview: hanno charisius

B

islang war Covid-19 eine eher abs-
trakte Bedrohung für die Menschen
in Deutschland. Mit der steigenden
Zahl der Fälle, Schulschließungen und lee-
ren Nudelregalen im Supermarkt wächst
jedoch die Verunsicherung. Über die gesell-
schaftlichen Auswirkungen einer Epide-
mie sei bislang nicht genug gesprochen
worden, mahnt Petra Dickmann, Leiterin
der Arbeitsgruppe Risikokommunikation
in „Public Health“ und „Health Security“
am Universitätsklinikum Jena.


SZ: Für wie gefährlich halten Sie das
neue Coronavirus?
Petra Dickmann: Die Frage lässt sich ei-
nerseits biomedizinisch beantworten, das
wurde aber zuletzt zur Genüge getan. Ich
finde, es ist Zeit, über die sozialen Folgen
zu sprechen, die mit dem Virus kommen.


Meinen Sie Hamsterkäufe?
Die Bevölkerung ist sensibel, klug und of-
fensichtlich bereit, ihren Beitrag zur Vorbe-
reitung und zur Bewältigung des Aus-
bruchs zu leisten. Da werden auch Masken
und Desinfektionsmittel gekauft und die
Schränke mit haltbaren Lebensmitteln ge-
füllt. Die Gesundheitsprofis nennen es
„Hamsterkäufe“ und verlachen es als Pa-
nikmache.


Ist es das nicht?
Das Verhalten der Bevölkerung weist auf ei-
ne große Lücke der Risikokommunikation
hin. Es reicht einfach nicht, wenn staatli-
che Stellen plakativ von der guten Vorberei-
tung sprechen. Es muss auch, und zwar re-
gelmäßig, darüber gesprochen werden,


wie und warum bestimmte Entscheidun-
gen anstehen und wie sie getroffen wer-
den. Dass wir im Fall einer Epidemie auf ei-
ne kompetente Bevölkerung bauen müs-
sen, wird in der Vorbereitung überhaupt
nicht mitgedacht.

Was müsste denn jetzt passieren?
Die Absage von Großveranstaltungen ist
zum Beispiel ein wichtiger Schritt in der
Unterbrechung von Infektionsketten. Die
Kriterien für die Absage und die Entschei-
dung sollten aber nicht alleine, von „denen
da oben“, getroffen werden, sondern als
Prozess innerhalb einer Zivilgesellschaft
geführt werden. Wir fangen gerade erst an,
die gesellschaftlichen Dimensionen zu er-
fassen, die so ein Infektionsausbruch auch
hat. Es geht nicht nur um tatsächlich Er-
krankte, sondern um Besorgte, um Unter-
brechungen im Arbeitsleben, um internati-
onale Finanzmärkte, um Einschränkun-
gen von Reise und Verkehr.

Wie groß werden denn die Auswirkun-
gen auf das soziale Leben am Ende sein?
Das lässt sich nicht abschätzen, aber wir
müssen jetzt diskutieren, was wir als Ge-
sellschaft in Kauf nehmen wollen. Jeder
und jede muss überlegen, ob jetzt die Zeit
ist, um in andere Städte oder Länder zu rei-
sen. Und auf gesellschaftlicher Ebene müs-
sen wir entscheiden, was uns so wichtig ist,
dass wir in den nächsten zwei bis drei Wo-
chen oder Monaten daran festhalten – und
was nicht. Das sind schwierige Entschei-
dungen, die am besten gemeinsam abge-
wogen und getroffen werden.

Braucht es in Deutschland Schulschlie-
ßungen, häusliche Quarantäne oder
„lockdowns“, also die Abriegelung gan-
zer Städte oder Gebiete?
Das sind abschreckende Wörter für die Be-
mühung, Infektionsketten zu unterbre-
chen. In Deutschland wird man aufgrund
einer gewachsenen anderen Gesellschafts-
form und einem anderen Selbstverständ-
nis vermutlich mehr Kreativität zeigen
und hoffentlich gemeinsam entscheiden:
Wollen wir das Fußballspiel absagen, aber
dafür die Schulen auflassen, um Infekti-
onsgefahren zu reduzieren und dabei
gleichzeitig die Arbeitsfähigkeit der Eltern

erhalten? Hier besonders diejenigen, die in
der Krankenversorgung arbeiten.

Was macht Sie so optimistisch?
Die Industrie hat ja zum Teil schon Konzep-
te, um mit der Situation umzugehen:
Home-Office zum Beispiel und Videokonfe-
renzen. Allerdings müssen nun auch eher
konventionelle Arbeitgeber über Dienstrei-
se-Stopps, Urlaubssperren oder Zwangsur-
laub nachdenken und Wege mit ihren Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern finden.

Welche Konzepte gibt es zum Umgang
mit der Seuche im privaten Umfeld?
Dafür haben wir keine Handlungsanwei-
sungen in der Schublade liegen, deshalb

ist es ja so dringend nötig, den Diskurs end-
lich auszuweiten, weg von den biomedizini-
schen Fragen und Pressekonferenzen, die
nur Statistik referieren.

Wer kann dieses Umdenken anstoßen?
Auch darauf habe ich keine konkrete Ant-
wort. Es gibt das Robert Koch-Institut, die
Bundeszentrale für Gesundheitliche Auf-
klärung, es gibt das Bundesinstitut für Risi-
kobewertung. Die sind spitze, wenn es um
die Kommunikation von gesundheitlichen
Folgen geht, aber es fehlt ein Institut oder
eine Organisation, die Risikokommunikati-
on auch als Möglichkeit begreift, die Gesell-
schaft auf solche drastischen Störungen
wie eine Epidemie vorzubereiten. Es gibt

noch keine Konzepte und Werkzeuge da-
für. Die Medien spielen sicher eine große
Rolle. Aber die Politik muss helfen und auf-
hören mit dem Mantra, Deutschland sei
gut vorbereitet. Das erzeugt nur noch
mehr Unsicherheit.

Es klingt aber auch beruhigend.
Das neue Coronavirus ist neu. Die erste Re-
aktion ist, das Neue mit dem zu verglei-
chen, was wir schon kennen. Zum Beispiel
Sars oder Influenza. Die Vergleiche hinken
aber und machen die Autoritäten und Be-
hörden unglaubwürdig.

Hätten die Behörden besser schweigen
sollen?

Nein, natürlich nicht, aber man muss auch
über die Unsicherheit und fehlendes Wis-
sen sprechen. Das ist bei Ausbrüchen mit
neuen Krankheitserregern so. Wir lernen
jeden Tag dazu. Dabei stellen sowohl die
Neuheit als auch die Ausbruchsdynamik
hohe Anforderungen an die Bewertung,
das Management und die Kommunikati-
on. Die nationale Kommunikation der Ge-
sundheitsbehörden hat sich zu lange auf
Aussagen wie „Hände waschen – Ruhe be-
wahren – Wir sind gut vorbereitet“ konzen-
triert. Gleichzeitig werden weitreichende
ökonomische Entscheidungen getroffen,
wie den Flugverkehr einzuschränken. Die
Diskrepanz zwischen Gesagtem und Geta-
nem führt zu großer Unsicherheit.

Wären Weltraumsonden Menschen, könn-
teman sagen:Voyager 2ist alt genug, um
eine Weile lang alleine klarzukommen.
Andererseits ist die Sonde, höflich gesagt,
auch ganz schön in die Jahre gekommen.
Seit 1977 ist sie im Weltraum unterwegs.
Nach ihrer SchwestersondeVoyager1und
der 1972 gestarteten SondePioneer-10ist
sie das am drittweitesten von der Erde ent-
fernte menschengemachte Gerät. Sie hat
das Sonnensystem bereits verlassen und
rast derzeit mit knapp 60 000 km/h in die
unendlichen Weiten des Alls. Hören kann
sie auch nicht mehr so gut, was vor allem
an der Entfernung liegt. Und erst kürzlich
zeigte das Betriebssystem Schwächen. Im
Januar musste der Bordcomputer neu ge-
startet werden, weil er versehentlich den
Akku überlastet und alle Messinstrumente
abgeschaltet hatte.

Ganz risikofrei ist es also nicht, die alte
Sonde nun elf Monate lang sich selbst zu
überlassen. Aber anders geht es nicht, sa-
gen Nasa-Forscher. Die Experten des Jet
Propulsion Laboratory der US-Weltraum-
behörde haben beschlossen, das wichtigs-
te Instrument für den Kontakt zuVoya-
ger 2, eine 70 Meter große Antennenschüs-
sel in Australien, fast ein Jahr lang abzu-
schalten. Die Antenne ist bereits seit
48 Jahren durchgehend auf Sendung und
soll in den kommenden Monaten runder-
neuert werden. Signale vonVoyager2kön-
nen dann zwar noch empfangen werden,
aber die Sonde lässt sich nicht mehr anfun-
ken, um beispielsweise den Bordcomputer
neu zu starten.
Die Funkantenne bei Canberra ist Teil
des weltumspannenden „Deep Space Net-
work“, eines Kommunikationswerkzeugs

für Weltraumforscher, um mit weit ent-
fernten Raumfahrzeugen in Kontakt zu
bleiben. Für die meisten der zurzeit mehr
als 30 aktiven Forschungssonden im All ist
der Ausfall der australischen Schüssel kein
Problem. Sie können mit anderen Anten-
nen in den USA und in Europa kommunizie-
ren.Voyager2ist allerdings auf die Funk-
schüssel in Australien angewiesen.
Ob die Sonde sich nach der Sendepause
zurückmeldet, ist unsicher. In den kom-
menden elf Monaten mussVoyager2viele
Routineaufgaben alleine erledigen, zum
Beispiel das Ausrichten der Funkantenne
und die Wärmeregulierung. Nach der Repa-
ratur werde die australische Antenne leis-
tungsfähiger sein als zuvor, sagen die Welt-
raumexperten – und künftig auch für den
Kontakt zu bemannten Missionen zu
Mond und Mars dienen. pai

Immer nur Zahlen,


das verunsichert


Soziale Folgen von Covid-19 werden ausgeblendet,


beklagt eine Expertin für Risikokommunikation


Höchste Zeit zum Handeln


Wissenschaftler warnen vor gravierenden Folgen des Insektensterbens


Alleine im All


Kontakt zur Raumsonde „Voyager 2“ wird elf Monate lang unterbrochen


Petra Dickmannvon der
Uniklinik in Jena forscht
zur Risikokommunikation
in Bereich Public Health.
Sie ist außerdem Ge-
schäftsführerin einer
internationalen Kommuni-
kationsberatung. FOTO: OH
Halbleeres Konservenregal in einem Supermarkt: Sind Hamsterkäufe ein Zeichen für mangelhafte Aufklärung über das neue Coronavirus? FOTO:PAUL ZINKEN, DPA

(^14) WISSEN Montag, 9. März 2020, Nr. 57 DEFGH
Ohne die Bestäubung durch Insekten
könnten viele Lebensmittel nicht produ-
ziert werden. FOTO: DPA


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