Frankfurter Allgemeine Zeitung - 03.03.2020

(Michael S) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 3.MÄRZ 2020·NR.53·SEITE 11


Feuer inder Akademie“titelt „Libérati-
on“.Die Zeremonie zurVergabe der
Filmpreise Césarwareinerundum
peinlicheVorstellung.Der Aufstand
derFrauen –nicht nurgege nPolanski
–hatteinder Filmakademiezum heil-
samen Rücktrittder Verantwortlichen
geführ t. Nocham Morgen derVeran-
staltungfiel Frankreichs Kultur minis-
terFranckRiester aus seinerRolle, als
er sic hgegen eine KrönungRomanPo-
lanskis zumbestenRegisseur aus-
sprach. Dieserwar wieder einmalgar
nicht erst gekommen.Vorder Salle
Pleyelgab es heftige Demonstratio-
nen. Als sein Film „Intrige“ na ch meh-
rerenPreisenauchnochden César für
diebeste Regie be kam, erhobsichAdè-
le Haenelund verließ die Veranstal-
tung:„EineSchande.“Sie hat te ihrOu-
ting als jugendliches Opfervon sexuel-
ler Gewalt mi theftigen Angriffenauf
Polanskiverknüpft, dernun endgültig
als großer Sieger desAbendsfests teht.
Unddies aufKostendes Films „Porträt
einer jungenFrauinFlammen“von
Céline Sciamma, in dem Haeneldie
eindrückliche, na ch ästh etischen, poli-
tischen undauchnochmoralischen
Kriterien preiswürdigeHauptrolle
spielt. Es gabdaneben einenzweiten
Sieger, „Les Misérables“(DieWüten-
den)von LadjLy. Dessen Talent war
nachdem Aufstand 2005 in denbren-
nendenBanlieueserkannt undgeför-
dertworden. Dass er wegenEntfüh-
rung undkörperli cher Ge walt ein Jahr
im Gefängnis saß,warnie einThema
und dieNachsicht derFeministinnen
umso erstaunli cher,als es um eine
Muslimingeht, die ein außereheliches
Verhältni sunte rhält.DassAdèle Hae-
nelamVorabendderZeremonieinder
„New York Times“den auchwegenBe-
amtenbes chimpfung mehrfach verur-
teiltenLadjLyals Vorbild und„Aus-
nahmeimrassischenKino“bezeichne-
te,mutet scho nmerkwürdigan. Nach
ihrverließauchdieSchriftstellerinLeï-
la Slimaniden Saal. „Fortanhauen wir
ab“,schreibt Virginie Despentesin„Li-
bération“undverklärtden Auszugvon
Adèle Haenel zum emblematischen
Aufbruch.Sie lobtdie Moderatorin
Florence Floresti, die plötzlich nicht
mehr aufder Bühne erschien. Despen-
teserwähntdas 25-Millionen-Budget
für Polansk iund hältihr die Misere
vonAußenseiternwie LadjLy entge-
gen. Di eFrauensind nicht mehr Mu-
sen, sondernAvantgarde: In Despen-
tes’ Aufruf zum Klassenkampfgehtes
gege ndie Macht schlechthin, Macrons
Renten reformunddie Ge walt der Poli-
zei:„Feiertund demütigt, wenihr
wollt. Tötet, verg ewaltigt, beutetaus,
schlagt zusammen.Nicht derUnter-
schie dzwischenden Geschlechtern,
sonde rn zwischenHerrschenden und
Unterdrückten istentscheidend.“

„Die Leipziger Buchmesse 2020 findet
planmäßigstatt.“ Soverkündete es zumin-
destbis zumgestrigenRedaktionsschluss
nochdie Websiteder Messe. Allerdings
steht der ersteBesuchertag erst am Don-
nerstag derkommendenWochean, und
darüber,wie sic hdie Ausbreitung der Co-
rona-Infektionen in Deutschland binnen
dieser neunTage darstellen wird,kann
man bestenfalls spekulieren. Etwasweni-
gerspekulativ betrachtet man dieFrageof-
fenbar inFrankreich. Die nochmal etwas
später,nämlicherstam20. Märzbegin-
nende, ebenfalls viertägigeBuchmesse
vonParis is tgester nabgesagtworden. Als
diese Nachrichtschon of fiziell war, stand
auf der Homepagevon LivreParis immer
nochzulesen: „Nosévénements se dérou-
lent comme prévu“ (unsereVeranstaltun-
genfinden wievorgesehenstatt).
Die Aussichten für die Durchführung
der Leipziger Messewerden vonden meis-
tenBefragten, die nicht zum Organisa-
tionsteam zählen, bestenfalls nochauf
fünfzig/fünfzig beziffert.Und die Organi-
satorenverweisen zur Beruhigung auch
nur lapidar auf ihrenNetzeintrag, der eini-
ge Vorsichtsmaßnahmen auflistet:ständi-
gerAustauschmit den zuständigen Behör-
den, Bildung einer eigenen„Taskforce“,
Ergänzung der Meldekette für sicherheits-
relevanteEreignisse um Covid-19-Ver-
dachtsfälle,Verstärkung der Gebäuderei-
nigung, Bereitstellungvon Desinfektions-
mitteln. Das wirddas Viruszweifellos
beeindrucken, wenn es denn lesenkann.
Andererseits:Wassollman anderes tun,
solangeinDeutschlandkeine behördliche
Empfehlung zurAbsagevon Großveran-
staltungen ergeht? DieLeipziger Buchmes-
se machtesichbei rein pr äventiverAbsage
ohneformell zwingendenGrund mögli-
cherweise schadenersatzpflichtiggegen-
über denAusrichtern.Wobei ihr aber auch
juristische Klagen blühenkönnten,wenn
die Messetatsächlichplanmäßig durchge-
führtwürde und sichdortdann Menschen
anstecken sollten. Denn niemandkönnte
sichseitens derVeranstalter auf mangeln-
de Kenntnis der Risiken herausreden.Zu-
mal wenn es schon einerkleineren Buch-
messe wie der LivreParis, die nuretwas
mehr als die Hälfte der Leipziger Besucher-
zahl erreicht, zugefährlic hgeworden ist.
Gut, in Sachsen gibt es bislang nochkei-
nen offiziell bekanntenCorona-Patienten.
Dassdas BundeslandweiterhinvonEr-


krankungenverschont bleiben wird, istin-
des unwahrscheinlich.Undwäredem so –
müssteman dann nicht umso dringlicher
die Messe absagen, um dem Risikovor-
zubeugen, das die aus derganzen Bundes-
republik unddem AuslandanreisendenBe-
sucher den Erregermitbringen?
Fraglos wirdbei regulärer Durchfüh-
rung der Buchmesse die Besucherzahl ein-
brechen; auf den einschlägigenForender
deutschen Manga-Fans, die als Gäste der
MCC, des Comic-Zweigs der Messe, allein
mehr als ein Drittel des Leipziger Publi-
kums stellen,kann man schon lesen, wie
viele diesmal ausVorsicht daheim bleiben
wollen. Halbleere Hallen mögen alsgröße-
rerImageschaden erscheinen als einevon
übergeordne terStelle erzwungeneAb-
sage. Aber die istimföderalen deutschen
Staat garnicht so leicht zu haben.
Im Literaturbetrieb häufen sichderzeit
jedenfalls nochdie Durchhalteparolen der
Ausrichter,die imTenor jedoch eher ans
mittelalterliche Gesundbetenerinnernals
an sachlichfundierte Begründungen für
die Beibehaltung der jeweiligen Program-
me. Die parallel zur Buchmesse angesetz-
te Lit.Cologne, das mitrund hunderttau-
send Besucherngrößtedeutsche Literatur-
festival, versicherte sogar schon zweiTage
vorden LeipzigerVeranstaltern, dassman
die eigenenVeranstaltungen durchführen
werde–obwohl derzeitkein anderes Bun-
deslandvomCorona-Virussobetroffen ist
wie Nordrhein-Westfalen. Da ein Großteil
der Eintrittskarten für die Lit.Cologne tra-
ditionell schon im Dezember ausverkauft
ist, dürftehier die Sorge vo rKompensati-
onsforderungen der Besuchergrößer sein
als dievorleerenRängen.Aber werdenkt
an die Gesundheit?
Mit wasfür Einbußen beim Besuchvon
Bühnenereignissen angesichts der Angst
vorAnstec kung gerechnetwerden muss,
zeigt das Beispiel vonEventim. Der
größtedeutsche Eintrittskartenverkaufs-
serviceverzeichnete in den letztenTagen
einen so drastischenRückgang derNach-
frage, dassder Börsenwert des Unterneh-
mens umeinFünftelsank.Der Bundesver-
band derKonzert- undVeranstaltungs-
wirtschaftwarnt bereitsvoreiner Insol-
venzwelle bei seinen dreitausend Mitglie-
dern. DerkulturelleKahlschlag durch die
Krankheitswelle würde sichdann weit
über deren eigentliche Dauer hinaus er-
strecken. ANDREASPLATTHAUS

Natur undWissenschaft
WasFledertierezur wichtigsten
Quelle für menschliche Vire nmacht

Geisteswissenschaften
Drei Epochenbegriffe: Romantik,
Expressionismus, Moderne

Frauenaufstand


VonJürgAltwegg

Wäre nwir beim Sport,stündeeszwei, viel-
leichtsogar drei zu null.Dre izunull im
Wettstreit zwischenUrheber nund Verla-
genauf de reinenund den Digitalkonzer-
nenaufder anderen Seite.Wobeiindiesem
Fall de rSpiels tand vomSchiedsrichterab-
hängt.Der Schiedsrichter istder Gesetzge-
ber,der dieReg eln, nachdenengespielt
wird, festsetzt .Diesesollen Urheber nund
Verleger neigentlichgarantieren, dass sie
für dieRechte an ihrenWerken eintreten
und vonDigitalkonzernen dafür auch Geld
verlangenkönnen .Dochsol äuftesbislang
nicht .Wir erlebenvielmehr,wieein Rechts-
grundsatz, den das EuropäischeParlament
mitder Richtlinie zumUrheberrechtformu-
liert hat, auf nationalerEbene zerbröselt.
Besinnen sichdie Politiker undihreRund-
funkexperten nicht,löstersichauf.
Zuerst erwischteesdieVerleger imStreit
um dasPresseleistungsschutzrecht .Das ge-
währtedie BundesregierungdenPressever-
lagen im Herbst2013durch eineÄnderung
des Urheberrechtsgesetzes.Doch dan nver-
trat sie diesvordem Europäische nGe-
richtshof so schlecht, dassesdortaus for-
malenGründenimvergangenenHerbstein-
kassiertwurde :Die Bundesregierung hätte
das Gesetz bei der EU-Kommission anzei-
genmüssen, da es sichumeine „techni-
sche “VorschriftallgemeinerArt handele,
lautete di eArgumentation.
Runde zwei im Kampf umUrheberrech-
te eröffnete dasBundesjustizministerium
kürzlichmit einemEntwurf zumUrheber-
rechtsges etz, in dem es wiederumumdas
Leistungsschutzrechtgeht. Der Vorschlag
besagt,dass Verlageauf einsolches Recht
im Intern et nichtpochenkönnen,wenn es
um die Anzeige einzelnerWörter undkur-
zer Auszüge geht.Diesekönnten bestehen
aus einerÜberschrift, einemkleinen Bild
und einerkurzen Ton- oderBildfolge.Das
istgenau das,wasDigitalplattformen ma-
chen,die marktbeherrschendeSuchmaschi-
ne vonGoogle und dasAngebotGoogle
News exerzie renesvor.Fällt das deutsche
Urheber rechtsges etzamEndesoaus, wie
es das Bundesjustizministeriumvorschlägt,
istdasneue Leistungsschutzrecht derVerla-
ge so vie lwertwie das alte:nichts.
Das dritt eKapitelindieserSache schla-
genzurzeit die Bundesländer auf.Sie bera-
tenüber ein epochalesWerk –den „Me-
dienstaatsvertrag“, de rden von1991 stam-


mendenRundfunkstaatsvertragablöst.In
ihm geht es nicht mehrnurumSender und
ander eMedienanbieter, die ihreInhalte
selbs tkreieren .Esgeht auchumdiejeni-
gen, die dasgroße Raddrehen, indemsie
dieInhalteandererverbreiten–Google, Mi-
croso ft,Facebook,Amazon unddie Tele-
kom-Un ternehmen.Der Medienstaatsver-
trag nenntsie „In termediäre“. Siewerden
verpflicht et,den NutzerngegenüberTrans-
parenz überdas Zust andekommen ihrer In-
formationsauswahlherzustellen. Undes
wird ihnen auferlegt, dass sie Inhaltenicht
besser-oder schlechterstellen dürfen. Für
dieseRegel gibtesAusnahmen. Als ein
„sachlicherGrund“ für erlaubteDiskrimi-
nierung gilt–ausgerechnet–,wenn je-
mandfürsein Urheberrechteintrittunddie-
sesvergüt et sehe nwill(F.A.Z. vom28. Fe-
bruar):„WerdenzumBeispielindenSuch-
ergebnissen bestimmteAngebote ni chtan-
gezeigt,weil de rIntermediärdieseauf-
grund urheber-beziehungsweise lei stungs-
schutzrechtlicherRegelungennicht verg ü-
tungsfreianzeigendarfoder kann,ist dies
ein Rechtfertigungsgrund.“
So steht es in der Begründungdes Me-
dienstaatsvertrags, mit dem sichdie Rund-
funkreferenten der Länder dieserTage be-
fassen. Lassen sie denPassus passieren,
schauen alleUrheber in dieRöhre, es sei
denn –eswirdder Einspruchgegen diese
Generalklausel beachtet, den die für das
Kapitel „Intermediäre“ zuständigeSenats-
regierungvonHamburggestern der in der
Rundfunkpolitik federführenden Staats-
kanzleivonRheinland-Pfalz übermittelt
hat.Eine „Einmischung der Länder in die
Auseinandersetzung um die Vergütung
vonUrheberrechtenzwischen Intermediä-
renund Inhaltebietern“, heißt es da, sei
„zu keinemZeitpunktgewollt“ gewesen.
Das könne man schon mangels rechtlicher
Kompetenz garnicht regeln. Dies möge
man „in der Begründung klarstell en“ und
eine „in diesem Sinne“veränderte Formu-
lierung „etablieren“. Das Gleichegelte
„für die Klärung unbestimmterRechtsbe-
griffe zur Auslegung des Diskriminie-
rungsverbots“, heißt es in dem an die
Mainzer Medienstaatssekretärin Heike
Raab (SPD)gerichteten Schreiben.Wiees
scheint,könntenwenigstens die Bundes-
länder in der letzten Sekunde dieKurve
nochkriegen. MICHAELHANFELD

A


mAnfang kein Wort,kein
Bild,keine Musik,nur ein Ge-
räusch in der Schwärze:rat-
ternd, flatternd,vonallen Sei-
ten. „Ic hhöredie Flügel desTodesen-
gels im Palaste rauschen“, wirdder Pro-
phetJochanaan später singen, als er Sa-
lomegegenübersteht.Sie sieht ihn an
und will ihnküssen, dochder Palast-
wächter Narrabothfleht:„Prinzessin,
Prinzessin, die wie ein Gartenvon Myr-
rhen ist, die dieTaube allerTauben ist,
sieh diesen Mann nicht an.“Aber das al-
les kommt später,viel später,nicht jetzt,
wo man nochnichts sieht,woniemand
singt,wo es nurflatter t.
Die Taube alsTodesengel, der empa-
thieloseReptilienblick desVogels, die
zitterndeLuft als Klangder Angst, seit
Alfred HitchcockinKunstverwandelt –
mit all diesen Metaphern,Vorwegnah-
men, Erinnerungen und Assoziationen
spielt derRegisseur BarrieKosky in der
OperFrankfurtminutenlang, bevordie
Oper „Salome“vonRichardStraus sei-
gentlichlosgeht.Man sieht nocheine
Gestalt im Galakleid mitriesigerFeder-
kappe auf demKopf. Siegeht ab; es
bleibtstill. Das Ganze istein Theater-
tric k, ein Achtungszeichen, dasAuf-
merksamkeit herstellt, einRätsel, das
bis zum Schluss–und das istschwach,
um nicht zu sagen: billig–nicht aufge-
löstwird. Aber es zeigtWirkung und
schlägt einenTonan, denKosky dann
mit beeindruckender Strengedurchhält.
Strausshat zu dem grausam-ironi-
schen, pervers-persiflierenden Drama
vonOscar Wilde eine Musikgeschrie-
ben, die ebenso illustrativ wie psycholo-
gischdurchdringend ist. Undsehr oft,
etwawo ein scheußlichesKontrabass-
Flageolett malt, wie der Henkersein
Beil schärft vorder Enthauptung des Jo-
chanaan, hat das Malende eine psycholo-
gischeWirkung, dierecht unangenehm
ins Psychosomatische umkippenkann.
Kosky hat sichentschieden, alles auf die
Psychologie zukonzentrieren und alles
Illustrative, wo es nurgeht,zuvermei-
den. Das Ergebnis istpackend, erfri-
schend und anregend.
Ausdem Palastvon Herodes, demKö-
nig vonJudäa zurZeit Jesu,hatKatrin

Lea Tageinen kahlen Schwarzraumge-
macht, eine Kleinkunstbühne, wie sie
für Zauberer,Pantomimen oder Diseu-
sen üblichist. Kontras te entstehen nur
durch den Schlaglichtscheinwerfer,mit
dem Joachim KleinVirtuosenkunststü-
cketreibt.Eine Licht- undRaumkunst,
wie sie seit hundertJahren für „Die zer-
sägteJungfrau“ üblichist,wirdauf das
Drama um dengeköpftenMann übertra-
gen. Mit den Mitteln einergenretypi-
schen Theatersprache desVarietés holt
Kosky die Ironie Wildes zurück, die
Straussdurch die zupackende Sinnlich-
keit und Grausamkeit seiner Musik in
den Hintergrund gedrängt hatte.
Aber dieVerortung derTragödie in il-
lusionistischer Kleinkunst, im Cabaret,
schär ft nun unerwartet den Fokusauf
die Figuren. Salome,die nicht erträgt,
wie Herodes, der Mann ihrer Mutter,sie
mit seinen „Maulwurfsaugen“ anstarrt,
ergreiftgegenüber Jochanaan die eroti-
sche Initiative, berührtihn mit der zit-
ternden Gier einer Irren, die,getrieben
vonEkelund Lust,das sexuelleMachtge-
fälle ihres Alltags umkehren will. Hero-
des istihr Spiegelbild: einPaniker des
Patriar chats, der seine Machtkippen
sieht,während Herodias, dieFrau an sei-
ner Seite, denSturzgeschehen lässt.Sie
behält als Einzigeeinen kühlen Kopf.
Denn auchJochanaan,fast nackt, zer-
schunden, erniedrigt, istlängstnicht
mehr bei sich. Christopher Maltman –
glutäugig singend–mit seinem herzens-
warmen, abervöllig wahnsinnigen Bass
istgroßartig in derRolle, stimmlichund
darstellerischschwerzuüberbieten.
Aber AJ Glueckert als Herodes istihm
vollkommenebenbürtig. Sein Tenor
bleibt in allemFieb er sicher und schön
geführt, auchwenn der Blickflackert
und derKörper taumelt,weil er sichin
der Welt nicht mehr auskennt.
Claudia Mahnkeals Herodias hat als
Einzigevon der gesamten Besetzung
ihreRolle schon früher einmalgesun-
gen. Ruhe, Sicherheit, eisigeBerech-
nung signalisiertihre Haltung. Manch-
mal fährtihr Mezzosopran die Krallen
aus, manchmal dominiertsie durch
Coolness,wenn sie im lockerenParl an-
do singt:„Ichglaube nicht anWunder,
ichhabe ihrer zu vielegesehn!“

Ambur Braid als Salome wirdgewiss
wachsen in derRolle. Diegefährlic hglü-
hendeVerinnerlichung wie Asmik Gri-
gorian, die dekadenteFinesse des sin-
genden Sprechens wie MarlisPetersen,
die beiden führenden Salome-Sängerin-
nen unsererTage,hat sie nochnicht er-
reicht.Auchihr Schauspiel hat noch
nicht den Grad der Präzision wie bei
Mahnkeund Glueckert.Aber ihr Sopran
besitzt ebenso viel Kraftwie Leichtig-
keit.Mag ihrParlando nochnicht poin-
tiertgenug sein, sokann sie dochmit ih-
rengroßen Gesangslinien den Saalflu-
ten. Ganzvorzüglic hbesetzt sind übri-
gens auchder Narraboth mit Gerard
Schneider und derPage mit Katharina
Magiera.
Joana Mallwitzwählt als Dirigentin
des FrankfurterOpern- und Museumsor-
chesters klugeTempi, schafft dicht eAn-
schlüsse, hält allesflüssig, ohne zu ei-
len. Sie atmetsensibel mit den Sängern
und gliedertnachsprachlichsinnvollen
Phrasen.Wasaber nochfehlt, istdie Zu-
spitzung der Lautstärke-Gestaltungge-
mäß der harmonischen Verläufe, dieAb-
stufungvonDissonanzgraden, die klare
SetzungvonHöhepunkten. Das Orches-
terklingt angespannt, ohne dassdrama-
tisch-psychologische Spannung entstün-
de, die mehrKontrast, Gefälle und Ent-
wicklung bedürfte.
Kosky,inder weitgehendenVermei-
dung des Illustrierens,verzicht et ganz
auf denTanz der sieben Schleier.Statt-
dessen sitzt Salome auf dem Boden und
zieht minutenlang Haarezwischen ih-
renBeinen hervor, wasals Einfall zu-
nächs tein verstörendes Symbol ist, auf
die Dauerjedochermüdet. Aufden abge-
schlagenen Kopf hingegen verzicht et
die Regie nicht.Erist überlebensgroß
und bluttriefend. Mit ihmsteiger tsich
Salome in Geburts- und Cunnilin-
gusphantasien hinein und ersetzt durch
ihn am Ende ihren eigenenKopf. Durch
die Kargheit derRegie bis dahinist der
Schlussschockierender denn je. Was
„Salome“ in hundertfünfzehn Jahren
durch Gewöhnung anWirkung einge-
büßt haben mag, istjetzt mitvoller
Wuchtwieder da. JAN BRACHMANN

Lesen in den Zeiten


vonCorona


Durchführen oder ausfallen lassen? Leipzig hält noch


an der Buchmessefest,Paris sagt seine bereits ab


Es steht jetzt schon


drei zu null –fast


Die Bundesländerkönnten imStreit um Urheberrechte


im Internetinletzter Sekunde nochdie Kurvekriegen


Manchmal möchte Kunstdiebstahl
selbs tKunst sein —der in Solingenge-
bo rene PerformancekünstlerUlay, was
schlicht die balkanisch klingendeVer-
dichtungseinesbürgerlichenNamens
UweLaysiepenwar, stahl 1976Spitz-
wegs „Armen Poeten“ ausder Be rliner
Nationalgalerie, hing ihn in dieWoh-
nung einer türkischen Gastarbeiterfa-
milie in Kreuzber gund informierte
den Museumsdirektor ,das aufgelade-
ne Bildkönne nuninneuer Umgebung
betrachtet werden. Als ihm 2016die
FrankfurterSchirneinegroße Retro-
spektiveseinerWerke ausrichtete,wur-
de er in der Öffentlichkeit nicht mehr
nur als langjährigerKünstler-Partner
der ungleich berühmterenMarina Ab-
ramović wahrgenommen.Zugleich
zeigten sichdamalsaberauchschon
Erschöpfung undNarben der vielen
Selbstverstümmelungen undexisten-
ziellenPerformances wie „RestEner-
gy“, bei der er eineBogensehne nach
hintenzog und bei Ermattung den
Pfeil auf die den BogenhaltendeAbra-
movićgeschossen hätte. Geschlechter-
undrealeGrenzenüberschritt erohne-
hin ständig.Nunist dieserrastlos eNo-
madederKunstinder Nachtzum Mon-
tag im Altervon76Jahren in Ljublja-
na, wo er zul etzt lebte,gestorben. S.T.

„DerWegzuallem Großengeht durchdieStille“, sagt Nietzsche. Hiergeht ihn Ambur Braid als Salome. Foto MonikaRittershaus

Lebenals Aktion


Künstler Ulaygestorben


Morgen


Mordim


Cabaret


Monumentale


Klein kunstinhoch


präziserPsychologie:


BarrieKosky


insze niertander Oper


Frankfu rt „Salome“


vonRichar dStrau ss.

Free download pdf