Frankfurter Allgemeine Zeitung - 03.03.2020

(Michael S) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 3.MÄRZ 2020·NR.53·SEITE 13


Würde mandie Dichterklischees des
zwanzigstenJahrhunderts in einen ein-
zigen Sackpacken, ihnverschnüren, ein
paarmal durch die Gegendwerfen und
wieder öffnen, eskäme vielleicht Ernesto
Cardenal dabei heraus. Denn in diesem
Mann istfastalles enthalten,vorallem
natürlich: „Engagement“. Also Innigkeit
und Starrsinn, Liebe undPolitik,Poesie
und Propaganda. Geboren1925 in Grana-
da, Nicaragua, durchlief der Bürgersohn
Cardenal zahlreicheStationen, die ihnste-
tig zwischenVersenkung undAgitation
hin und her zerrten. Erstudierte Litera-
tur,kämpf te gegenNicaraguas Diktator
Somoza, ging zu demTrappisten und Mys-
tiker Thomas MertonnachKentucky,wur-
de zum Priestergeweiht, verschrieb sich
der Befreiungstheologie und wurde nach
der sandinistischenRev olution zumKul-
turministereines Landes, das es wie
Kuba vermochte, dasreiche Nord amerika
durch sein trotziges sozialistisches Pro-
jekt zu ärgern.Cardenals Gedichtband
„Psalmen“ (1969) istdas lyrische Zeugnis
einer Theologie für die Armen.
Dochdann wurden dieFrüchtefaul,
die Idealeverkümmerten, und 1994 sagte
sichCardenalvonden Sandinistenlos.
Seine ureigene Sachewareher die Pfar-
rei, die er auf einem Archipel im Großen
See vonNicaragua begründete und in sei-
nem Buch„Das Evangelium der Bauern
vonSolentiname“verewigte. Ein Gedicht
mit demTitel„Gebetfür Marilyn Mon-
roe“ hatteihn 1965 berühmtgemacht –
jetzt wurde er zumVorzeige-Padre, der
die indigenenVölker verteidigte, klassen-
losen Humanismus predigteund den In-

terviewerdes „Neuen Deutschlands“
nochimJahr 2010 mit Sätzenentwaffne-
te wie: „Die perfekteGesellschaftist iden-
tischmit Kommunismus.“
Sein „Cántico cósmico“ (Gesängedes
Universums) versucht elaut Selbstaus-
kunft, „alles zu einer wissenschaftlichen
Poesie zusammenzufassen“, und dasfata-
le Wort –43Gesänge und fünfhundert
Seiten hindurch –lautet „alles“: Denn

Cardenal durchstreifte die Requisiten-
kammer der Glaubenssysteme undkonn-
te nichts davonliegenlassen. Seine „wis-
senschaftlichePoesie“ birgt aus derWis-
senschaftdeshalb nurgrelle Etiketten,
kaum Gedanken, undrackertsichdamit
ab, „politischeWissenschaftund Poesie
in eineForm zu bringen und mit Mystik
und Revolution zuvereinbaren“. Das Er-
gebnis wareher breit als tief, zeitlosesVe-

hikel für eine bizarre Ego-Mission, die nir-
gendwomit mehrErgriff enheit bestaunt
wurde als in Deutschland .Hier fand der
Dichter imVerlag PeterHammer einen
hingebungsvollenPublikationsort, hier
las ervorvollen Sälen. So wurde Carde-
nalzum Synonym fürdie un konventionel-
len Wege,die si ch dasGuteauf Erden
sucht .1980 empfing er denFriedenspreis
des Deutschen Buchhandels.
„Aber lassen wir den Prediger,den Rhe-
torikerCardenal“, schrieb Harald Har-
tung in dieserZeitung vormehr als zwan-
zig Jahren. „In ihm istjaein wirklicher
Dichterversteckt.“ In derTat. Der wirk-
liche Dichter berief sichauf Rubén Darío
und EzraPound, betätigtesichals Formen-
zertrümmerer,Bricoleur und Visionär.
GleichPablo Neruda und Eduardo Galea-
no schrieb er an einer anderen Geschichte
des Kontinents mit,gewisseVergröberun-
geneingeschlossen. Ineinem Land, das
zu Zeiten derSomoza-Diktaturauf nie-
mandes Landkarteeine Rolle spielte,gab
er den Entrechteten eineStimme. Erver-
mochteLiebesgedicht ezuschreiben ,die
witzig mitder spanischen Barocktradi-
tion spielenund Heines„Ein Jüngling
lieb tein Mädchen“klangvoll in die Ge-
genwartübersetzen. Das unermüdlichva-
riierte Thema: DerMacho istimmer der
Blöde. Ernesto Cardenal trug dielusti-
genVerse auchinhohem Alter nochgern
öffentlic hvor.Jetzt is tder Di chter und
Pries ter, den PapstJohannesPaul II. vom
geistlichen Amtsuspendierte und Papst
Franziskus I. erstkürzli ch rehabilitierte,
im Altervon95Jahren in Managuage-
storben.Man wirdihn ni chtsoleicht ver-
Ernesto Cardenal (1925 bis 2020) Foto BarbaraKlemm gessen. PAULINGENDAAY

W


ir brauchen mehr Organ-
spender in Deutschland –
hier sind wir uns alle ei-
nig. Wasaber istethisch
und politischder richtigeWeg, um die
Zahl der Organspendentatsächlichzu
erhöhen? Ander Beantwortung dieser
FrageendetschondieEinigkeit.Der
Strafrechtler UlrichSchroth und der Phi-
losophWilhelmVossenkuhl beschäftig-
tensichindieser Zeitung mit der Ent-
scheidung des Deutschen Bundestages
vom16. Januar und attestieren Mängel
in der Argumentation der Befürworter
der erweiterten Zustimmungslösung
(F.A.Z.vom24. Februar).Unter demTi-
tel„Abgelehnt,dochschad drum“versu-
chen die beidenAutoren dievomParla-
ment mehrheitlichabgelehnteWider-
spruchslösung als eine solchezurecht-
fertigen, die,wäre sie vomParlament an-
genommenworden, dem„Allgemein-
wohl“ bessergedient hätte als diestatt-
dessen beschlossene und nungeltende
Zustimmungslösung.
DieBetrachtungenvonSchroth und
Vossenkuhl sind wederüberzeugend
nochstichhaltig.Das deutscheParla-
ment hat dieWiderspruchslösungaus
sehr gutenund nachvollziehbaren Grün-
denabgelehnt. Die IdeederUnantastbar-
keit der Menschenwürdebasie rt darauf,
dassder Mensch jeder rein zweckhaften
Logikund Zugriffsgewaltdurch Dritte
und somit auchdurch den Staatgrund-
sätzlichentzogen istund bleiben sollte.
Mit Kant gesprochen: Der Menschist
zunächsteinmal „Zweck an sichselbst“
und darf„niemals bloß als Mittel“ ange-
sehenwerden. Dieser gute Grundsatz
solltekeinesfalls außerAchtgelassen
werden, auchnicht für nachvollziehbare
Ziele, wie zum Beispiel dieRettungvon
Menschenleben durch eine etwaigeVer-
größerung derZahl vonOrganentnah-
men. Gerade an diesem entscheidenden
Punkt zeigt sichder utilitaristische
Grundzug in der Argumentation der Be-
fürworter einerWiderspruchslösung –
so auchbei Schrothund Vossenkuhl –
sehr deutlich: IhreRede voneinem „Teil-
haberecht am Organaufkommen“, ei-
nem „höherenOrganaufkommen“ oder
voneiner Vermittlungspflichtigkeit der
Organe is tbezeichnend.
Die in diesem Zusammenhangvon
Schr othund VossenkuhlgeübteKritik
an der Aussage, da ss der Menschnicht
dem Staat, sonderninerster Linie sich
selbs tgehört, musszurückgewiesen wer-
den. Natürlic hgehört der Menschals
ein zutiefst sozial geprägtes Wesen
grundsätzlich und ursprünglicherstein-
mal sichselbst, jedenfalls wenn –wie in
diesemFall –die Alternativelautet,
dasserstattdessen demStaat gehören
könne. Wieso sollteaus solcher Klarstel-
lung ein „Eigentumsmissverständnis“
(Schr othund Vossenkuhl) sprechen?
Ethischist es hochproblematisch,das
Recht auf körperlicheUnversehrtheit
unter einen solchweitreichenden und
generellenVorbehaltzus tellen, wie das
bei Einführung der Widerspruchslö-
sung geschehenwäre.Denn hierstand
ja nichtweniger zur Debatte, als dass
die vollständigeVerfügungshoheit über
die eigenekörperlicheUnversehrtheit
zunächsteinmal grundsätzlichbe-
schränktworden wäre und erst wieder
durch einen zusätzlichenWiderspruchs-
akt des Einzelnen hättezurückerlangt
werden können. Das aber hätteeine fol-
genschwereVeränderung desgrundle-
genden Verhältnisses zwischen Staat
und einzelnemBürgerbedeutet.

Körperliche Selbstverfügung
In einem äußerst sensiblenBereic hder
menschlichen Selbstbestimmung, näm-
lichdem eigenenSterbeprozess,wäre
bei derWiderspruchslösung ein staatli-
ches Er stzugriffsrecht aufKörper und
Organe der Bürgeranerkannt worden.
Das Recht aufkörperlicheUnversehrt-
heit in dieserForm unterVorbehalt zu
stellen istaber nicht zu rechtfertigen.
Solltedas Rechtauf informationelle
Selbstbestimmunggemäß Datenschutz-
grundverordnung (DSGV) höher bewer-
tetwerden als dasRechtauf körperliche
Selbstverfügung? Niemand darfohne
meine ausdrückliche Einwilligung unge-
fragt meine persönlichen Datenverwen-
den, meine Organe aber schon?
Gerade auch auschristlicherPerspek-
tiveverdient die freie Entscheidung zur
Organspendehöchs te Anerkennung.
Denn siekann als ein Akt derNächsten-
liebe undSolidarität über den eigenen
Todhinausverstandenwerden. Doch
staatlicherseitsandieserStelle Druck
ausübenzu wollenist irrig. Or ganent-
nahmeund dieVerlängerung desSterbe-
prozesses sind nur danngerechtfertigt,
wenn sie dem ausdrücklichen Willen
des Sterbenden entsprechen.Um diese

Zustimmung darfund solltedeshalb –
ganz im Sinneder er weiter tenZustim-
mungslösung–geworbenwerden, sie
darfaber keinesfallseinfac hstillschwei-
gend vorausgesetztwerden.
Schweigen,Unte rlassen und Nichter-
klärungkönnen in diesem sensiblenBe-
reichnicht einfachals Zustimmungge-
wertet werden. Solches wäre vielmehr
ein schonvonGrund aufverfehlter Zu-
gang zu einer Thematik, die dochdavon
abhängt,dassFreiheitundSelbstbestim-
mungbei der persönlichen Entschei-
dungsfindungvollumfänglichrespek-
tiert und geschütztwerden müssen. Die
Widerspruchslösung fußt insofern auf
der fragwürdigen Logik einer Beweis-
lastumkehr.Diese hat diefolgenschwe-
re Konsequenz, dassaus der freien Spen-
dengabe nun eine Art„Bringschuld“ für
alle entstündeund de rmenschlicheKör-
per damit im Grundegenommenzuei-
nem „Objektstaatlicher Sozialpflichtig-
keit“ gemachtwerden würde, so wie es
Peter Dabrockäußerst tref fend formu-
lierthat.Indem Schroth undVossen-
kuhl diesen entscheidenden Punktüber-
gehen, machen sie abernur eineargu-
mentativeGrundschwäche sichtbar,die
auchbei anderenVerfechternder abge-
lehntenWiderspruchslösung ihreAus-
prägunggefunden hat.Schroth undVos-
senkuhl repräsentierendiese Grund-
schwäche insofernidealtypisch.
Auch die beidengroßen Kirchen in
Deutschland haben imVorfeld der Bun-
destagsentscheidung zurReformder Or-
ganspende ihreerheblichen „rechtli-
chen, ethischen und seelsorgerliche nBe-
denken“ deutlichgemacht. So heißt es
in ihrer „Gemeinsamen Stellungnah-
me“: „Wir warnen eindringlichvor ei-
nem solchen Vorgehen, denn der Staat
würde damit tief in denKernbereichder
menschlichen Existenz undWürdeein-
greifen. Auchwenn derstaatliche Zu-
griffauf den menschlichenKörper un-
tereinemWiderrufsvorbehaltstünde,
bliebe es einstaatlicherZugriff.“
Zu Rechtwirdindiesem Zusammen-
hangkritisiert, dassdie sogenannte
„doppelte“ Widerspruchsregelung die
wichtigeRolle der engstenAngehörigen
vernachlässigt, und zwar zumal im emo-
tionalenAusnahmezustand desSterbe-
prozesses.Denn ein wirkliches Wider-
spruchsrecht der Angehörigen lässt sich
hierkeineswegs erkennen.Nach der Lo-
gik der doppeltenWiderspruchslösung
sollen diese zwar auchbefragtwerden,
liegt jedoch auchihnenkein schriftli-
cher Widerspruchdes Sterbendenvor,
istdie Or ganentnahme zulässig. Eine
Mitwirkung der Angehörigen, wie bei
der jetzt nachwie vorgültigenGesetzes-
lage, istdamit nichtvorgesehen.

Fragwürdige Suggestionen
Wasschließlichdie Möglichkeit derVer-
größerung derZahl der Organentnah-
men durch die Einführung derWider-
spruchslösung angeht, sollteinder De-
batte nicht mitfalschenTatsachenbe-
hauptungen und Kausalitätssuggestio-
nen operiertwerden ,wie sie sichals nar-
rativ eMuster bei nichtwenigen Befür-
worternder Widerspruchsregelung ein-
gebürgert haben. Im internationalen
wie gerade auchimeuropäischen Ver-
gleichzeigtsich, dassStaaten mitWider-
spruchslösung ebennicht –wie dies
auchSchroth undVossenkuhl nahele-
gen–automatischmehr Organspender
haben als Länder mit Zustimmungslö-
sung. Die eigentlichen Zugewinne, etwa
bei Spenderzahlen in Spanien und Bel-
gien, wurden durchStruktur-und Orga-
nisationsverbesserungen erreicht. In
manchen Ländernwirdzudem nach
dem Herztod- und nicht dem Hirntod-
Kriteriumexplantiert.Daher solltenge-
radeindiesem sensiblen Bereichdie un-
terschiedlichen Rahmenbedingungen
berücksichtigtwerden.
Bereits imFebruar 2019 hatteder
Deutsche Bundestag mit dem Zweiten
Gesetzzur Änderung desTransplantati-
onsgesetzes eineVerbesserung der Zu-
sammenarbeit und derStrukturen bei
der Organspendeermöglicht. Hierdurch
sollen Krankenhäuserbeispielsweise
mehrGeld undZeit für Organtransplan-
tationen erhalten. In dem Gesetz, das
dieParlamentarier am 16. Januar in frak-
tionsoffener namentlicherAbstimmung
zur Stärkung der Entscheidungsbereit-
schaf tbei der Organspende beschlossen
haben, wirdzudem endlichein bundes-
weites Online-Registerbeim Bundesin-
stitut für Arzneimittel und Medizinpro-
dukte geschaffen.
Dadurch kann jede Entscheidung zur
Organspende einfachdokumentiertund
jederzeit geändertwerden. Diesver-
schaf ft den notwendigenÜberblick
überdie vorhandenen Einverständniser-
kl ärungen zurOrgansp ende. Hausärzte
sollen alsvertrauensvolleAnsprechpart-
ner ihrePatientenkünftig bei Bedarf
überdie Or ganspendeberaten. Diese
Beratung sollensie auc habrechnen dür-
fen. Das stärkt die informierte Mei-
nungsbildung für eine so zentrale Le-
bensentscheidung. Das Gesetz zur Stär-
kung der Entscheidungsbereitschaftbei
der Organspende, dasfraktionsübergrei-
fend Zuspruc hgefunden hat, regelt die
Dingegut undverantwortlich.

ThomasRachelistParlamentarischerStaats-
sekr etär im Bundesministerium für Bildung
undForschung.Ervotierte beider Organ-
spende-Abst immung desDeuts chen Bundes-
tags für die erweiter te Zustimmungslösung.

Im Anfang istdie Spinne. Mit leuchtenden
Augenschwebt sievomSchnürboden und
bewegt danntastend ihregeflochtenen
Rundungenund eisernen Gliedmaßen
über einekargeGerölllandschaft. Ein Ufo
in der Endmoräne menschlicher Identität.
DieseexistentielleAufschüttung istdie
neuesteVerkörperung demokratischer
Denkprozesse in Echtzeit im diskursiven
Theatervon René Pollesch.Sie trägt den
Namen „Passing–It’ssoeasy,was schwer
zu machen ist“.Passing, nichtPasing –
„wir müssen aufpassen, dasswir mit unse-
renriesigen Theorien nicht in einemVor-
ortvon Münchensteckenbleiben“. Das ist
der erfolgreiche –und selbstredendauch
erfolgreichwiederholte–Einschmeiche-
lungskalauerdes Berliners, der nachmehr
als sechs Jahrenerstmals wieder an den
Münchner Kammerspielen inszeniert.
Oder sollteman sagen: Einspeichelungska-
lauer?
Die riesigen Theorien nämlich,von de-
nen da dieRede ist, fußen alle auf dem
achtbeinigen BühnenbildvonNina von
Mechow, dessen urmütterliche Symbolik
den sprichwörtlichroten Faden durch den
Abend spinnt.Die Autonomiedieser riesi-
genSpinne istnatürlichein Täuschungs-
versuch, hängt sie doch selbstals fernge-
steuerte Marionette an den Fäden der
Theatertechnik.Genau darum aber soll es
hier auchgehen:umTäuschung, dieWirk-
lichkeit ersetzt.

Der Regisseurund seinEnsemble ha-
ben die Science-Fiction-Literatur um die
„stringfigures“, dieFadenspiele der Ge-
danken, vonDonna J. Harawaygelesen.
Dieses „tentakuläreDenken“ hat sichdie
kalifornischeBiologinvoneiner Spinnen-
artabgeschaut.„Nichts istmit alle mver-
bunden; alles istmit etwasverbunden“ ist
ihr Mantra–das allein klingt schon wie
eineTheorie desPollesch-Theaters.Zur
Rettung desPlanetenruftHaraway zurver-
wandtschaftlichenVerwandlung des Indi-
viduumsimSinne der Schöpfungsgemein-
schaf taller Kreaturenund Dingeauf. Das
wiederum führteden Regisseur zum Phä-
nomen des „Passing“, übersetzt als
„Durchgehen-als“, als nachhaltigesVor-
täuschen einer sozialen Identität.Kon-
kret:Das Spinnen-Ufoist kurios bemannt.
Gestrandetals tatenloses B-Movie-
Team sind fünf Männer und eineFrau, die
im echauffierten Dialogsoaustauschbar
erscheinen wie dieNamen derverbliche-
nen Filmhelden,mit denensie einander
anreden. IhreKostümesind eine wilde Mi-
schung ihrer Assoziationen: Benjamin
Radjaipour erscheint im Tweed-Anzug
des neunzehnten und DamianRebgetzim
Policeman-Look des zwanzigstenJahrhun-
derts,Kamel Najma und Kinan Hmeidan
steckeninCowboy-Montur.Kathrin Ange-
rer, schön schrill und schmollend süß,
sprengt al srot-weißer Harlekin den ameri-
kanisch-nostalgischenRahmen. Thomas
Schmauser gibt mit Schlapphut,Western-

ketteund Kaffeetasse den zerstreuten
Wüstenregisseur, der das Skriptdes
Abends als DKP-Manifestvor sichher-
trägt.WoesumTäuschung geht, ist
schließlichalles möglich, und der Schau-
spielerinder Rolle des Schauspielerswar
bei Polleschimmer schon einvonsich
selbstverblüfftes Wesen. Auchdassesam
Setvon DesertRocknicht langebraucht,
um auf das Epische Theater Brechts und
das proletarische Theater Piscatorszu
kommen, istkeine große Überras chung.
Zurtheatralen Eroberung als Propagan-
damittelformuliertPollesc heine fiese klei-
ne proletarische Hymne auf dem Flug-
blatt: „Selbstwenn es auf dem Boden
liegt, kann esgelesen werden. Vondenen,
die auf dem Bodenliegen.“ Sie gipfelt in
dem Vorschlag,die Spinne, hiergleicher-
maßen Sinnbild für Hand- wieKopfarbeit,
solle die Flugblätterverteilen: „Sie hat
acht Arme!“
Gernund gutgelauntgeht das Münch-
ner Publikum diesemPolleschins Netz.
Obschon in den neunzig Minuten vieles
um sichselbstkreist. Der sozialkritische
Speichel der Inszenierungfließtfleißig
durch Kultur undPolitik, Theorien und
Geschichten wiederholensichinVariatio-
nen. WieimmerimTragetaschentheater
vonPollesch wirdkeine Interpretation
dem Zufall überlassen. Der Zuschauerist
derKonsument im Supermarkt derKapita-
lismuskritik,der Besucher imStreichelzoo
sozialer Netzwerktheorien. Etwawenn

Radjaipour undRebgetzimBinsenbauch
der Mutterspinne sitzen und sichdie Le-
bensweisheiten alsKaugummimasse um
die Nasen ziehen, kichernd über dasgelun-
gene Bildder Schicksalsfäden.
Im letzten Drittel, beginntallerdings
auchder Abend sichzuziehen.Das
scheint auchder designierte Intendant
der VolksbühneamRosa-Luxemburg-
Platz bemerkt zu haben.Nocheinmal
wirddas Publikumgestreichelt:Ein geni-
al gemalter Bühnenpr ospekt zeigt die
Ruine des MünchnerHauptbahnhofs.Na
ja. Mit viel gutemWillen istauchdarin
eine Behauptung vonRealität zu sehen
nachdem Motto: „Es istdie reine Gegen-
wart,die wegist.“
Auch an den Kino-Querverweisen zum
Spinnen-Passing bleibtdas Publikum trotz
des allzu langenAtems hängen. Als multi-
medial unterhaltende Exkursmasse hat
Pollesch sie an seineUraufführungge-
klebt.Zwischen Heimatidylle undAction-
thriller,Hitchcockund Spiderman sowie
vereinzelten Eisler-Klängen, die sichmit
dem Trapp-Musical„The SoundofMusic“
mischen, gibt esTarantel-Apokalypse und
Schrumpf-Horrornachzuerleben. Wäh-
renddessen hat sichaus Kathrin Angerers
Harlekin eineechteWestern-Ladyent-
puppt–scheinbar eingeglücktesPassing.
Am Endesteht der Mensch. Mit leuchten-
den AugensitzteramSpinnrad,versun-
kenindie endlose Arbeit an seinertenta-
kulären Identität. TERESAGRENZMANN

TentakuläreExistenzen,gestrandetimBühnenbildvonNinavonMechow:RenéPolleschs B-Movie-Team an denKammerspielen FotoThomasAurin

DieMütze der Revolution


Dichter,Priester, Selbstvermarkter:Zum Toddes populären nicaraguanischenSchriftstellersErnesto Cardenal


Abge lehnt,aus


gutenGründen


Im Supermarktder Kapitalismuskritik


René Polleschs„Passing –It’s so easy, wasschwerzumachen ist“, uraufgeführtanden MünchnerKammerspielen


Beim Thema


Organspende hatdas


deut sche Parlament der


Widerspruchslösung zu


Rechteinen Korb


gegeben. EineReplik.


VonThomasRachel

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