Montag, 2. März 2020 SPORT 31
Wie aus einem Guss
PiusSuter glänzt als Topskorer, der ZSC als Qualifikationssieger – die Frage ist, wie es mit beidenweitergeht
ULRICH PICKEL
Es hätte eine schöneFeier gegeben, zu
der der SponsorPostfinance auf die-
sen Montag nach Bern geladen hat: die
jährlicheTopskorer-Ehrung der Natio-
nal League. Und in diesemJahr gibt
es etwas ganz Spezielles zu feiern. Ein
Schweizer steht an der Spitze, erst zum
dritten Mal nach der Aroser Legende
Guido Lindemann (1982) undDamien
Brunner (2012). Pius Suterheisst der
Topskorer 2020.
Der 23-jährige Stürmer der ZSC
Lions,mit 53 Punkten in 50 Spielen
führt er vor den Nordamerikanern Mark
Arcobello vom SCB und GarrettRoe
von den ZSC Lions mit je 48 Punkten,
vor dem Zuger Grégory Hofmann (47
Punkte), dem zweiten Schweizer in die-
ser prestigeträchtigen Spezialwertung.
Nimmt man die Assists aus der Zählung
und betrachtet nur dieTore, steht Suter
herausragend da.30 Mal traf er ins Netz.
Damit hat er Hofmanns Bestmarke aus
derVorsaison egalisiert. 30Toregalten
vor einemJahr noch alsWert, den für
eine lange Zeitkein zweiter Schweizer
erreichen würde.
«Das ist grosse Klasse»
Doch dieTopskorer-Ehrung ist abgesagt
worden. Am Montag wird in der Liga
diskutiert, wie es weitergehen soll. Pius
Suter hat frei.«Es wärecool gewesen,
die Ehrung einmal zu erleben. Aber so
habe ich jetzt etwas mehrRuhe. Das ist
auch angenehm», sagt er. Suter spielt im
fünftenJahr in Zürich – und traut sich
schonseit längerem viel zu: «Nach mei-
ner zweiten Saison dachte ich: Es muss
möglich sein, in jedem zweiten Spiel zu
treffen. Aber ja, gleich 30Torehatte ich
schon nicht erwartet.» Der ZSC-Sport-
chefSven Leuenbergerist beeindruckt:
«Dass erToreschiessen kann, wusste
man. Aber gleich 30? Chapeau!Das ist
grosse Klasse.»Das 30.Tor schoss er am
Samstag beim 4:1 gegen den EV Zug. Er
wollte diesenTr effer unbedingt: «Ich war
sehr angespannt, ob ich treffen würde. Ob
29 oder 30, das sieht ganz anders aus.»
Suters Erfolg spiegelt die Saison der
ZSC Lions, die erstmals nach 20 16 wie-
der Qualifikationssieger sind. Es waren
die typischen Zürcher Löwen: angrif-
fig, schnell, gerne verspielt, technisch
und läuferisch stark. Aber auch hart im
Nehmen, wenn es sein musste. Mit dem
Sieg schoben sie sich am EVZ vorbei auf
Platz eins, das 4:1 war ein Zeichen der
Stärke einer Mannschaft, die phasen-
weise wie aus einem Guss spielte.
Die Zürcher haben eine beeindru-
ckendeRenaissance erlebt, vom letzt-
jährigen Absturz zurück an die Spitze.
Der Blick auf dieTabelle verrät aber
auch, dass dieVerhältnisse noch nie so
ausgeglichen waren.Für den ZSC war
amletzten Spieltag zwischen Platz eins
und vier noch alles möglich.Das zeigt:
Die ZSC Lions bewiesen gute Nerven.
Aber sie heben sich nicht von derKon-
kurrenz ab. Dessen sind sie sich bewusst.
Die Erfahrung der letzten Saison hat sie
gelehrt: Nur jakeine Überheblichkeit!
Der Erfolg stellt nicht zuletzt Leuen-
berger ein gutes Zeugnis aus. Er war im
Vorjahr viel kritisiert worden – und
hat nun einmal mehr bewiesen, dass er
nicht umsonst der erfolgreichste Sport-
chef der letztenJahre ist. Dem 50-Jäh-
rigen gelang der gleicheTurnaround
schon 20 15 mit dem SC Bern. Leuen-
berger stellte einen sehr gut austarier-
ten Mix aus Altersklassen, Spielertypen
und Charakteren zusammen. Spieler wie
Suter oderRoe sorgen für Schlagzeilen,
das liegt in der Natur des Sports. Da-
bei geht leicht vergessen, dass weniger
auffällige Leute für dieBalance eines
Teams viel wichtiger sind, als es von aus-
sen scheint. DarioTr utmann und Marco
Pedretti zum Beispiel. Als dieseTr ans-
fers im letztenJahr bekanntwurden,
rümpfte noch manch einer die Nase.
Drei Verletzte weniger proSpiel
Leuenberger ist sehr wohl bewusst, auch
vor dem Hintergrund der letztjährigen
Erfahrung, dass Glück und Elend nahe
beieinanderliegen: «Vieles hängt von
einzelnenPersonen ab. Man sah zum
Beispiel am Samstag wieder, dass unser
Powerplay ohneRoe weniger gut ist.»
Leuenberger verweist noch auf einen
anderen Umstand: «ImVergleich mit
der letzten Saison hatten wir imDurch-
schnitt drei verletzte Spieler weniger–
pro Spiel.» Ein paar herausragende Indi-
vidualisten, ein paarVerletzte weniger,
und schon verändert sich alles.
Dastellt sich gleich dieFrage, was
wohl im nächstenJahr sein wird. Pius
Suters Höhenflug ist in der NHL nicht
unbemerkt geblieben. Der Zürcher
möchte unbedingt nach Nordamerika
wechseln, sollte sich die Chance erge-
ben, das sagte er schon oft. Momentan
hält er sich bedeckt: «Ich bin da nicht
involviert.Damit beschäftige ich mich
nach der Saison.Wir sind ja hoffentlich
noch nicht fertig.»
Leuenberger bestätigt das Interesse
an seinemTopskorer: «Ich weiss von sei-
nem Agenten, dass sich ersteTeams ge-
meldet haben.» EinWegzug Suters wäre
«sehr schade». Aber natürlichkommt
das alles nicht überraschend: «Es gab
auf dem Schweizer Markt niemanden,
der sich so hervortat wie er. Sollte Suter
gehen, müssten wir dann halt sehen, was
man machen kann.»Viel wird es nicht
sein, Schweizer Stürmer wie erkön-
nen nicht auf Knopfdruck ersetzt wer-
den. Doch das ist vorderhand Zukunfts-
musik. Zuerst muss die Saison beendet
werden.Wie und wann auch immer.
Der ZSC-Goalgetter Pius Suterwird gleichvon vier Zugern bewacht – undschiesst trotzdem einTor. WALTER BIERI / KEYSTONE
Den Problemen davongerast – bis auf das WM-Podest
Die SkeletonfahrerinMarinaGilardoni vergibt Goldauf den letztenMetern. Dochsie ist glücklich über Silber, zuschwer waren die letztenJahre
MARCOACKERMANN
Am WM-Eiskanal in Altenberg über-
schlugen sich die Ereignisse am Sams-
tagmittag. Der deutscheTV-Kommen-
tator fabulierte von «den verrücktesten
Skeletonrennen aller Zeiten», und die
deutscheFahrerinTina Hermann stiess
sieben, acht Urschreie aus, die manchen
Zuschauer erschaudern liessen. Her-
mann war erneutWeltmeisterin gewor-
den – siekonnte das kaum glauben.
Denn vor dem vierten und letzten
Durchgang hatte man gedacht, eskönne
nur noch eineTitelgewinnerin geben,
die Schweizerin Marina Gilardoni. Sie
führte mit 66 HundertstelsekundenVor-
sprung.DieseReserve war so stattlich,
dass Hermann die eigenen Siegchancen
noch auf «knapp zehn Prozent» bezif-
fert hatte. Doch dann kam in Altenberg
die Sonne hervor, Hermann brach im
abschliessendenLauf denBahnrekord,
und GilardonisVorsprung schmolz wie
Butter in einer Bratpfanne. Im Ziel hatte
die zweitplacierte St. Gallerin 22 Hun-
dertstelRückstand. Sie ortete «ein paar
Rutscher zu viel» – und Hermann hatte
ihren emotionalenAusbruch.
Die Deutsche sagte,es habe sich
enorm viel Druck angestaut. Schon im
Oktober imTr aining waren Hermann
und ihreTeamkolleginnen aufder Alten-
berger HeimbahnRekordzeiten gefah-
ren. Doch auf dieWeltmeisterschaften
hin verschlechterte sich dasWetter, das
kam ihnen ungelegen. «Und Marina war
eine Bombe», sagte Hermann.
Die Schmerzen imRücken
Vielleicht sind es Komplimente wie
diese, mit denen Marina Gilardoni über
dasVerpassen des WM-Titels hinweg-
kommen wird.Doch wahrscheinlich
wird sie gar nicht so vielTr ost benötigen.
Schon kurz nach demRennen sagte sie:
«Ich habe Silber gewonnen, nicht Gold
verloren.»
Im Alter von knapp 33Jahren war es
das erste Mal, dass Gilardoni in einem
so wichtigenWettkampf alsFührendein
ihren letztenLauf startete. Vor der WM
wäre sie mit einem 6.Rang zufrieden ge-
wesen. Und wer wie sie so vieleRück-
schläge hat einstecken müssen in den
vergangenenJahren, der ist mit jeder
Medaillenfarbe glücklich. Es ist nur
schon ein Erfolg für sie, dass sie ihren
Sport noch ausüben kann.
Gilardoni war schoneinmaldrauf
und dran,sich in derWeltspitze zu eta-
blieren. In der Saison 2015/16 erreichte
sie imWeltcup viermal einenPodest-
platz und dieEM-Bronzemedaille. Doch
dann begannen ihre Probleme. Immer
wieder wurde sie vonkörperlichen Be-
schwerden heimgesucht, vor allem die
Bandscheiben imRücken und Mus-
kelfaserrisse machten ihr zu schaffen.
EinesTages waren die Schmerzen so
gross, dass sie kaum mehr dieWäsche
aus demTumbler holenkonnte. Und
im Kraftraumkonnte siekeine Zehn-
Kilogramm-Gewichte mehr über ihren
Kopf heben. Um überhaupt an denRen-
nen dabei zu sein, liess sie sich Cortison
spritzen. Aber genützt hatte es wenig.
Ihre Zeiten verschlechterten sich. Sie
musste froh sein, wenn sie sich für den
Final derTop 20 qualifizierte.
Das Leiden dauerte zweieinhalb
Jahre.Und wäre es danach nicht auf-
wärtsgegangen, hätte sie wahrscheinlich
aufgehört.Die Erlösung brachte eine
radikale Umstellung desTr ainings. Sie
stemmte nicht mehr so grosse Gewichte,
setzte auf Stabilitätsübungen und Pila-
tes. In einemTagebuch hielt sie fest, wie
sich ihreSchmerzphasen entwickelten,
und plötzlich merkte sie, dass diese kür-
zer wurden.
Finanzielle Kraftakte
Für Gilardoni war es die Ära desAuf-
bruchs. Sie fing nochmals von vorne an,
krempelte alles um. Sie änderte ihre
Technik am Start, kaufte einen neuen
Schlitten, der Nationaltrainer wechselte.
Wenn dieVerletzungen etwas Gutes
hatten, dann das: Sie hatte Zeit, sich Ge-
danken zu machen, wie sie sich durch
neue Inputs verbessernkönnte. Gilar-
doni sagt, früher habe sie den Schlitten
am Start «wie ein Handtäschli» gehal-
ten, nun seien ihre Sprints in der Anlauf-
spur kraftvoller.
Das Erstaunlichste ist, dass Gilar-
doni über all dieJahre so vielenWider-
ständengetrotzt hat. Denn weresin der
Schweiz an dieWeltspitze im Skeleton
schaffen will, muss viele Entbehrun-
gen in Kauf nehmen. Man benötigt ein
enormes Mass an Eigeninitiative und
finanzielle Kraftakte. EineFörderung
von aussen existiert praktisch kaum.
Zwischen EM und WM legte Gilar-
doni an der HTW in Chur ihre Semes-
terprüfungen im Sportmanagement-
studium ab, im Sommer arbeitet sie in
einemVeloladen. Ihre härtesten Riva-
linnen sind Profis.
ImVerbandSwiss Sliding stehen
die Skeletonfahrer seit je im Schatten
der Bobfahrer. Oftmals hatte derVer-
band Mühe, für Skeleton einen Natio-
naltrainer zu finden, denn dieser sollte
zwar gut sein, aber vor allem günstig.
Seit 2018 betreut der Lette IvoPakalns
das Kader. Daer an denRennen oft
der einzige Betreuer der Schweizer ist,
hat er alle Hände voll zu tun. Als Gilar-
doni für ihre WM-Silbermedaille geehrt
wurde, war er mit ihrem Schlitten in der
Materialkontrolle. Die Deutschen sind
jeweils mit bis zu zehn Betreuern unter-
wegs. An derBahn macht in fast jeder
Kurve einerVideos von denFahrlinien,
die Athleten erhalten nachherTipps.
Und in Altenberg dürfteTina Hermann
in ihrer Karriere fünfmal mehrFahrten
absolviert haben als Marina Gilardoni.
So gesehen ist ihr WM-Silber tatsäch-
lich Gold wert.
«Ich habe Silber
gewonnen, nicht
Gold verloren.»
Marina Gilardoni
AP Skeletonfahrerin
Der ZSC und
Terry Gilliam
Die Viertelfinalduelle imPlay-off
ZSC Lions (1.) - Lugano (8.).Man
braucht schon die Imagination des bril-
lantenFilmemachers undTr aumwelter-
schaffersTerry Gilliam, um sich vorstel-
len zukönnen, wie dieses Lugano den
ZSC ernsthaft sollte fordernkönnen.
Es gibtkeineFacette, bei der dieVor-
teile nicht bei Zürich liegen. Die Lions
haben den zuverlässigerenTorhüter,
den produktivsten Sturm der Liga, die
massiv besserenAusländer. Seit 2010 ist
der Qualifikationssieger nur ein einzi-
ges Mal imViertelfinalgescheitert: der
ZSC mit demAusnahmestürmerAus-
ton Matthews 20 16 beim schmählichen
0:4 gegen Bern. Es istein Malheur, das
keineWiederholung finden wird.
Zug (2.) -Freiburg(7.).Der faszinie-
rendeKosmos Gottéron lädt immer wie-
der zum Staunen ein: Der Sportchef und
In terimstrainer ChristianDubé wird in
denLokalzeitungen gerade mit Lob
überhäuft. Es stimmt, dassGottéron
unter ihm jüngst ansprechende Leistun-
gen zeigte. Aber mit dieser vonDubé für
stolze Beträge hochgerüsteten Mann-
schaft ist ein siebenter PlatzkeinePar-
forceleistung, sondern eine leise Enttäu-
schung. DieFrage ist, ob die Play-off-
Qualifikation imTeam bereits wieder
jene wohlige Selbstzufriedenheit aus-
löst, die es in den letztenJahren oft han-
dicapiert hat. Der grosseFavorit EVZ
begeisterte inderQualifikation selten,
er wirkt nicht unverwundbar.
Davos (3.) - Lausanne (6.).Kürzlich
mussten dieLausanner Spieler in der
Führungsetage zu Einzelgesprächen an-
treten.Darauf waren derTr ainerVille
Peltonen und der SportchefJan Alston
ihreJobs los. DerLausanne HC, dessen
Besitzerverhältnisse abermals fürRät-
sel sorgen, hat sich fast die ganze Saison
unterWert verkauft.Für den in jeder
Hinsicht positiv überraschendenRekord-
meisterDavos stellt der LHC unter dem
neuen Coach CraigMacTavish eine kniff-
ligeAufgabe dar. Der grosseVorteil des
HCD ist, dass er die schnellste Mann-
schaft imLand stellt – und von einem
Staff gecoacht wird, der die Ligakennt.
Genf/Servette (4.) - Biel (5.).Das er-
staunliche Genf/Servette verdient für
eine exzellente QualifikationRespekt–
kaum jemand hatte demKollektiv über-
haupt nur die Play-off-Teilnahme zuge-
traut.Das vonInkonstanzgeplagte Biel
ist dennochFavorit – finden die Berner
die Leichtigkeit und Magie des Herbsts
wieder, sind sie ein Meisterkandidat.nbr.