Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

D


ie Sonne über dem Müllheiz-
kraftwerk im Frankfurter
Norden ist noch nicht aufge-
gangen, aber man sieht schon
von Weitem, wie sich die Ar-
beiter der Frühschicht den
Werkstoren nähern. Ihre An-
züge leuchten orange in der Dunkelheit, die Reflek-
toren auf dem Stoff lassen sie aufblitzen wie Fische
unter der Wasseroberfläche. Aus der Ferne sehen alle
orangefarbenen Gestalten gleich aus, aus der Nähe
sticht eine hervor: Sie glitzert etwas mehr.
Madlen Schindler trägt Piercings in der Augen-
braue, unter dem Mund, in der Nase. Auf ihren
rosa-violett lackierten Fingernägeln funkeln Glit-
zersteinchen, einer in der Ecke eines Vorderzahns.
Sogar die Sportschuhe schimmern. »Ich mag
Schmuck und lange Nägel«, sagt Schindler. »Aber
mir ist keine Arbeit zu dreckig.«
Schindler ist 37 Jahre alt und arbeitet seit 2013
in Frankfurt am Main bei der Müllabfuhr. Eine
Frau, die Tonnen räumt, das gab es damals noch
nicht mal in Hamburg oder Berlin. Die Haupt-
stadt hat heute 13 Müllfrauen, Hamburg zehn. Sie
alle kamen nach Schindler.
An diesem Morgen sitzt sie in der Fahrerkabine
eines weißen Müllwagens und wischt über die Ar-
maturen. »Na, hier war es früher aber nicht so dre-
ckig, wa?«, sagt sie. »Klar«, sagt Thomas Bytof, 57,
der das Fahrzeug steuert, »seit du im Büro sitzt,
haben wir ja auch keine Putzfrau mehr.« – »Arsch!«,
ruft Schindler. Beide lachen.
Thomas Bytof ist seit 27 Jahren Müllmann.
Seit 17 Jahren gehört das Wohngebiet Frankfurt-
Harheim mit den beigefarbenen Ein- und Mehr-
familienhäusern zu Bytofs Tour. Knapp zwei Jahre
lang fuhr er sie gemeinsam mit Madlen Schindler.
Die besucht ihn in der Fahrerkabine, um ihren al-
ten Arbeitsplatz zu zeigen.
Denn Schindler ist mittlerweile aufgestiegen.
Bei ihrem Arbeitgeber FES, der Frankfurter Ent-
sorgungs- und Service GmbH, ist sie in die Ein-
satzleitung gewechselt. Seit 2017 leert sie nicht
mehr Tonnen, sondern füllt Tabellen. Ab und zu,
sagt Schindler, vermisse sie die Arbeit auf der Stra-
ße. »So viel Spaß wie damals mit meinen Jungs
hatte ich in noch keinem Job.«
382 Müllmänner arbeiten bei der FES und der-
zeit drei Müllfrauen, dazu drei in der Einsatzlei-
tung. Müllfahren ist bis heute fast ausschließlich
Männersache. Es gibt auch keine lauten Forderun-
gen, das zu ändern, weder von Frauenverbänden
noch von Politikern. Die Müllfrau dient eher mal
als rhetorisches Mittel der Quotengegner: Wer
eine Frauenquote in den Vorständen verlange, so
liest man etwa auf Twitter, solle sie doch bitte auch
bei der Müllabfuhr einführen. Soll heißen: Echte
Gleichheit wollt ihr doch gar nicht.
So sah das wohl auch einer von Schindlers
früheren Einsatzleitern. Der setzte sie monatelang
nur als Fahrerin ein, erinnern sich Schindler und
Bytof im Müllwagen – vielleicht, um sie zu scho-
nen, vielleicht, weil er ihr mehr nicht zutraute.
Dazu muss man wissen: Bei einer Mülltour gibt es
Lader und Fahrer. Der Fahrer steuert den Müll-
wagen und bedient, je nach Fahrzeugtyp, einen
Greifarm. Lader ziehen die vollen Tonnen an den
Straßenrand und bringen sie nach der Leerung
zurück hinter die Gartenzäune. Eine Tour raus-
oder reinzustellen, wie das im Mülljargon heißt, ist
der anstrengendere Teil des Jobs. Am Tag ist man
16, 17, 18 Kilometer zu Fuß unterwegs, bewegt
Tonnen um Tonnen. Darum wechseln die Müll-
Leute sich in der Regel mit den Aufgaben ab.
Dass Schindler monatelang nur fuhr, kam
nicht gut an und sprach sich rum. »Alle dachten:
Die Madlen, das ist eine faule Sau«, erzählt Tho-
mas Bytof. Er selbst beschwerte sich beim Vorge-
setzten. »Ich wollte, dass die läuft wie alle anderen
auch!« Als das zunächst nicht passierte, ließ er sich
sogar auf ein anderes Fahrzeug versetzen. Nach ein
paar Monaten folgte ein neuer Versuch, unter ei-
nem neuen Einsatzleiter. Und hier lief und wuppte
Schindler nun genau wie ihre Kollegen. Abends fiel
sie mit Blasen an den Füßen völlig k. o. ins Bett.
Trotzdem würden sie manche Kollegen bis heute
nicht ernst nehmen, sagt Schindler. »Für die gehö-
ren Frauen einfach nicht in die Müllabfuhr.« Man-
che haben ihr das ins Gesicht gesagt. »Das hat mich
schon getroffen, aber dann habe ich richtig reinge-
hauen, um denen zu beweisen, dass sie falschliegen.«
Wie damals steuert Bytof auch heute einen Sei-
tenlader, der Müll wird nicht hinten, sondern an der
Seite eingekippt, der Fahrer sitzt rechts. Madlen
Schindler schaut auf die kleinen Monitore links
neben sich. Eine Kamera zeigt zwei schwarze Ton-
nen neben dem Müllwagen, die ihr Kollege Kenny
an der Bordsteinkante platziert hat. Bytof hält, setzt
mit einem Joystick einen Hebearm in Bewegung,
lässt ihn auf Höhe der Tonnen sinken und an der
Unterkante einrasten. Dann hebt er sie hoch und
kippt den Abfall in den Bauch des Müllfahrzeugs.
Fertig, eine Hauslänge weiter, nächste Einfahrt.
Schindler erzählt von ihren ersten Arbeitstagen
im Juni 2013. »Wir hatten 30 Grad. Ich habe ge-

schwitzt wie ein Schwein und dachte: Ihr habt sie
nicht mehr alle!« An dem Tag sei Altpapier geladen
worden, die Biotonne war später in der Woche
dran. »Mann, habe ich gestunken! Es war ekel-
haft.« Trotzdem sei sie am nächsten Tag wieder
aufgestanden und mit den Kollegen ins Fahrzeug
gestiegen. An den Gestank gewöhnte sie sich. Auf-
geben, das sei ohnehin nicht ihr Ding, sagt sie.
Mit elf wurde sie Halbwaise, die Eltern waren
getrennt, zum Vater hatte sie ein schlechtes Ver-
hältnis, also kam sie ins Kinderheim. Mit 17 wur-
de sie schwanger. Sie schaffte die Realschule und
danach eine Ausbildung zur Sekretärin. In dieser
Zeit bekam sie ihre zweite Tochter. Danach jobbte
sie als Lageristin. Die Stelle sei schlecht bezahlt
gewesen. Also zog sie für mehrere Monate im Jahr
nach Hessen, weil dort Erntehelfer gesucht wur-
den. Sie verkaufte Spargel und Erdbeeren. Alle 14
Foto: Tim Peukert für DIE ZEIT; ZEIT-GRAFIK/Quelle: FES Tage besuchte sie ihre Familie zu Hause in Olbern-


»Mann, habe ich gestunken!«


Dass plötzlich eine Frau den Müll abholte, war 2013 etwas Neues in Frankfurt. Madlen Schindler ist eine der ersten Müllfrauen Deutschlands.
Viele Kollegen waren nicht begeistert. Jetzt ist sie deren Chefin. Teil 6 der ZEIT-Serie über Pionierinnen VON VIOLA DIEM

SERIE: DIE ERSTE ( 6 )


haun in Sachsen, wo ihr Mann noch als Dach-
decker arbeitete. Als Schindler einen festen Job
fand, zog die Familie hinterher.
Zum Müll kam Schindler über das Lkw-Fah-
ren. Sie hatte mit Mitte 20 einen Führerschein in
der Klasse CE für 40-Tonner gemacht. »Ich fand
das cool: großes Auto und was sehen von der
Welt.« Oder erst mal von Hessen. Dort fuhr sie
zunächst Spargel von Süden nach Norden, danach
Stückware, mal Teppiche, mal Paletten. Doch der
Arbeitstag war oft schlecht planbar. Stand sie im
Stau oder blieb sie liegen, war sie oft viel zu spät
bei den Kindern zu Hause. Sie suchte etwas Neues.
Kraftfahrer sind gefragt. Zwischen 45.000 und
60.000 Jobs schätzt der Bundesverband Güter-
kraftverkehr, Logistik und Entsorgung, können in
Deutschland nicht besetzt werden. »Ich konnte
mir die Rosinen rauspicken«, sagt Schindler, ein-
mal habe sie vier Vorstellungsgespräche an einem

Tag gehabt. Sie hätte bei LSG Sky Chefs, einer
Tochterfirma der Lufthansa, anfangen können.
Nur seien dort lackierte Nägel und Piercings ver-
boten gewesen. Also war der Job bei der Müll-
abfuhr die dickste Rosine. 31.700 Euro jährliches
Grundgehalt, ein Leistungslohn, also eine Art
Prämie für schwere Arbeit, von bis zu 11.000
Euro, ein geregelter Arbeitstag, Viertagewoche
und ein Arbeitszeitkonto. »Wo gibt es so was
noch?«, sagt Schindler.
Trotzdem bleiben viele Stellen frei. In Frank-
furt will man nun »neue Reservoire« erschließen,
heißt es bei FES, also mehr Frauen und auch Ge-
flüchtete ansprechen. In Hannover, wo es bis
2019 keine einzige Frau bei der Müllabfuhr gab,
warb man mit der Kampagne »Megahappy« um
»Trittbrettfahrerinnen, die nicht aus Zucker-
watte sind«. Vier Müllwerkerinnen wurden da-
nach angestellt.
Der Beruf hat ein Nachwuchsproblem. Dabei
ist die Arbeit bei der Müllabfuhr ein Traumjob für
viele – zumindest für die Kleinen. Immer wieder
beobachten auch an diesem Morgen Kinder die
Tour von Bytof und Schindler. Mit offenen Mün-
dern sitzen sie auf dem Arm ihrer Eltern am
Straßen rand oder drücken ihre Nasen gegen die
Fenster scheiben der Häuser. »Wir haben unwahr-
scheinlich viele Kinder, die uns lieben«, sagt Madlen
Schindler. Als sie selbst noch fuhr, hießen ihre Fans
Erik oder Emil und verbrachten sogar Tage im
Müllauto. Ein Foto von Emil, sagt Schindler, das sie
alle von Emils Mutter geschenkt bekommen hatten,
hänge noch immer an ihrem Kühlschrank. Der sei
weggezogen, sagt Bytof. Und Erik habe letztens
nicht mehr gegrüßt. Die Begeisterung für die Müll-
abfuhr überlebt selten die Pubertät.
»Fünf?«, ruft Thomas Bytof jetzt. »Im Leben
konntest du keine fünf Tonnen auf einmal zie-
hen!« – »Und wie!«, erwidert Schindler und springt
aus dem haltenden Fahrzeug. Sie schnappt sich
fünf entleerte Tonnen, 240 Liter Fassungsvermö-
gen, und verhakt die Deckel so ineinander, dass sie
alle auf einmal ziehen kann. Wer schafft die meis-
ten Tonnen auf einmal? Wer fertigt die Straße am
schnellsten ab? Wie manipuliert man eine Tonne
so, dass sie dem Fahrer beim Aufnehmen umkippt?
Für einen Moment ist es wie früher, als Wett-
kämpfe und Streiche auf der Tour Abwechslung
boten zwischen Abfalldunst und Routine. »Wir
waren das beste Team ever!«, sagt Schindler.
Dieses Gefühl sei allerdings erst aufgekommen,
nachdem sie über Monate bewiesen hatte, dass sie
hart schuften kann. Zumindest meistens. Manche
Tonnen waren zu schwer und Auffahrten zu steil
für Schindler, das übernahmen die Männer. Jeder
habe Stärken und Schwächen, sagt Bytof und
macht ausnahmsweise keinen Spruch auf Kosten
der Kollegin. »Madlen kann gut fahren. Hat sie ja
auch von mir gelernt.«
Vor allem aber habe sie die Sache mit den Kun-
den draufgehabt. Darum wurde bei Problemen
immer sie vorgeschickt. Ȇberhaupt sind mehr
Leute aus ihren Häusern gekommen und haben
mit uns gesprochen, wenn Madlen dabei war«,
sagt Bytof. Bis heute weiß Schindler, wer wo
wohnt, kennt von manchen Anwohnern den Ge-
burtstag, von vielen die Kinder, die Hunde, die
Diagnosen vom Arzt. Sie bestand darauf, dass die
Kollegen mit ihr in jeder Schicht einen Kaffee
trinken, um auch mal über was anderes als die Ar-
beit zu sprechen, sagt Schindler. Das ist ihr wich-
tig. Irgendwann kannte man sich so gut, da war
reden gar nicht mehr nötig: Beim ehemaligen La-
der Giovanni zum Beispiel konnte sie an der Art,
wie die Tonnen standen – schief oder auf der fal-
schen Seite –, sehen, ob es ihm gut oder schlecht
ging, sagt Schindler.
Inzwischen schauten manche Abteilungsleiter
neidisch auf jene Teams, die eine Frau im Müll-
fahrzeug hätten, so hört man bei der FES.
Nach zwei Stunden im Müllwagen und einem
Käffchen zum Schluss fährt Schindler zurück zum
Müllheizkraftwerk. Hier verbringt sie inzwischen
den Großteil ihres Arbeitstags. 2017 bot man ihr
einen Job in der Einsatzleitung an. Nun erstellt sie
Dienstpläne, legt Krankmeldungen ab, schickt
Fahrzeuge in Reparatur und ist die Ansprechpart-
nerin für die Kollegen auf der Straße. Sie verdiene
jetzt nicht mehr, die Prämie falle weg, genau wie der
freie Tag. Aber sie wolle vor allem an ihre Zukunft
denken, an ihre Gesundheit. Bei vielen Tonnen sei
sie schon über ihre Grenzen gegangen. Außerdem
könne sie jetzt flexibler arbeiten. Das sei praktisch,
wo doch die Große Abi mache und die Kleine Bas-
ketball spiele. »Einige sehen mich jetzt vielleicht als
Büro-Tussi. Für die war ich früher aber auch schon
die, die nur am Lenkrad sitzt und rausschaut.«
Schindler steht draußen und raucht eine Ziga-
rette. Wieder rumpelt ein Müllwagen nach dem
anderen vom Hof. Was dieser Anblick bei ihr aus-
löst? »Oh!«, sagt Madlen Schindler, »Sehnsucht
ohne Ende.« Dann geht sie rein und zieht die
orange Jacke aus.

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Der Vergleich

3 Frauen

382
Männer arbeiten
in Frankfurt am
Main in der
Müllbeseitigung

Nächste Woche: Sanna Marin, finnische Ministerpräsidentin Zuletzt erschienen: Die erste Frau im Daimler- und VW-Vorstand

Im Mai 1982
wird sie in Lutherstadt
Wittenberg geboren

Madlen Schindler


2009
macht sie ihren Lkw-Führer-
schein, Klasse CE

Mitte Juni 2013
holt sie in Frankfurt am Main
zum ersten Mal Müll ab

2017
beginnt sie die Fortbildung zur
Einsatzleiterin bei der FES

30 WIRTSCHAFT 27. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10

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