Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1
Auf nach Scheinkin! »Vielen Dank, dass Sie sich
für unser Hotel entschieden haben«, sagt die bezau-
bernde Dame an der Rezeption des einzigen Hotels
in der Straße lächelnd. »Ich freue mich, Ihnen mit-
teilen zu können, dass wir Sie ohne Zusatzkosten in
ein besseres Zimmer umgebucht haben!«
Ich liebe die linken Israelis. So nette Leute!
Spätestens wenn ich abreise, werde ich der ent-
schiedenste Sozialist aller Zeiten sein.
Beim Verlassen des Hotels sticht mir ein kleiner
Mann mittleren Alters ins Auge, ein wenig unter-
setzt, große Sonnenbrille. Sieht aus wie ein Ver-
treter der Arbeiterklasse.
Wie geht es Ihnen, junger Mann?, frage ich ihn.
»Einfach ein weiterer Tag im Paradies.«
Wie bitte??
»Sehen Sie dieses Haus?«, fragt er und zeigt auf
ein Haus. »Das oberste Stockwerk ist gerade ver-
kauft worden. Wissen Sie, für wie viel? Neun Mil-
lionen Schekel. Das ist Scheinkin.«
2,3 Millionen Euro! Warum sollten schwerreiche
Kapitalisten in einer Gegend wohnen wollen, in der
sozialistische Linke leben? Das leuchtet mir nicht ein.
Offensichtlich wurde die Scheinkin-Straße er-
neuert, sie war einmal durch und durch hässlich,
aber das ist Vergangenheit. Viele Gebäude werden
kernsaniert, junge Paare spazieren mit Kinderwa-
gen herum. Diese Gegend sieht eher nach Prenz-
lauer Berg aus als nach Tel Aviv. Was geht hier ab?
»Ein paar Blocks nördlich von hier gibt es eine
Dachterrassenwohnung, die 29 Millionen kostet«,
sagt mir ein Mann, dem ich auf meinem Weg ins
Tamar begegne.
Wer hat so viel Geld?
»Französische Juden. Sie sind wegen des Anti-
semi tis mus aus Frankreich weg, jetzt kaufen sie
alles auf, zu jedem beliebigen Preis.«
Was ist mit den Sozialisten von Scheinkin pas-
siert?
»Wem?«
Den Sozialisten von Scheinkin!
»Ach, die, die sind gestorben.«
Keine Linken mehr in Scheinkin?
»Sie sind immer noch da; einige von ihnen,
aber sie sind Kapitalisten geworden.«
Ich gehe weiter. Das Café Tamar gibt’s nicht mehr.
An seiner Stelle gibt es das Café Rega. Viele Gäste
sitzen an Tischen auf dem Bürgersteig, trinken Eis-
kaffee und essen vegane Desserts. »Unsere Desserts
enthalten keine Milchprodukte«, sagt mir ein Kellner,
den solche politische Korrektheit beglückt.
Nein, das Meatos ist das nicht.
Zu meiner Rechten erblicke ich einen attrakti-
ven Mann, der ein bisschen nach Veganer aussieht.
Was sind Sie von Beruf?, frage ich.
»Hochschuldozent am Ono Academic Col-
lege«, antwortet er. Sein Spezialgebiet sei jüdische
Geschichte, sein Name Dr. David Sorotzkin.
Lassen Sie mich an Ihrer Weisheit teilhaben, er-
suche ich ihn.
Er lässt sich nicht lange bitten.
»Zwischen den ultraorthodoxen und den nicht
religiösen Identitäten in Israel besteht eine sym-
biotische Beziehung. Der säkulare, bürgerliche Is-
raeli ist auf das Bild des Ultraorthodoxen fixiert.«
Ich war schon in vielen Cafés in meinem Le-
ben, noch in keinem habe ich so tiefsinnige Ge-
danken vernommen. Wollen Sie mir sagen, frage
ich meinen neuen Freund, dass es eine Beziehung
gibt zwischen dem ständig betenden, Gott vereh-
renden Juden aus Mea Schearim, Jerusalems
Hochburg fanatisch religiöser Juden, und dem Ju-
den von Scheinkin, dem Linken, der die Existenz
Gottes standhaft bestreitet?
David lächelt.
»Sie sind auf doppelte Weise miteinander ver-
bunden. Erstens ist da die Geschichte. Das religiö-
se Judentum der Moderne unterlag einem Prozess
der Orthodoxisierung und Disziplinierung, aus
dem das säkulare Judentum Ordnung und Auto-

rität übernommen hat. Zweitens trugen 250 Jahre
der Verneinung der Person auf der anderen Seite,
sei es die religiöse oder die säkulare, wechselseitig
zur Schaffung ihrer jeweiligen Selbstidentität bei.
Diese beiden entgegengesetzten Juden sind sich
viel näher, als sich irgendjemand vorstellen möch-
te. Sie bekämpfen sich, aber sie sprechen inzwi-
schen seit wenigstens 250 Jahren mit ein an der.«
Ich muss an einen Chassid denken, der im Flieger
hierher gegen Israel wetterte, nur um mir danach zu
erzählen, dass er jedes Mal, wenn er das Land ver-
lasse, vor Liebe um es weint. Meint David genau das?
Jedenfalls erfordert diese Art Diskussion einen
besonderen Kuchen, und ich bestelle mir jetzt ei-
nen. Während ich warte, frage ich meinen gelehr-

ten Mann, ob sich seine Analyse auch auf Juden
und Nichtjuden anwenden lässt. Nein, sagt er. Da-
mit beide Gegensätze von ein an der zehren, müssen
beide vom selben Stamm kommen, vom jüdischen.
Juden seien durch die lange Erinnerung an die jü-
dische Geschichte vereint, auch durch das gemein-
same Erbe umfangreicher jüdischer literarischer
Texte. Der Juda is mus, die jüdische Geschichte,
Religion und Literatur, verfüge über eine immense
Kraft, was Segen und Gefahr gleichermaßen sei.
Was ist die Gefahr?
»Den Kampf zwischen Judaismus und Israelis-
mus, zwischen Judaismus und säkularer Zivil-
gesellschaft, wird am Ende der Judaismus gewin-
nen. Der Judaismus ist viel stärker, sein Gedächt-
nis und seine Ausstrahlung gründen viel tiefer.«
Der Apfelkuchen kommt. Geschmack: himm-
lisch.
Zum Zionismus, sage ich zu David, gehörte es,
einen Staat aufzubauen, der so wäre wie jeder andere,
sodass die Juden vom Rest der Welt als gewöhnliche
Leute akzeptiert würden. Wenn ich Sie höre, frage
ich mich: Wird das jemals funktionieren?
»Nein.«
Ich mampfe meinen Kuchen und verabschiede
mich von dem Hochschuldozenten.

Ich betrachte die schönen jungen Juden, die vorbei-
laufen. Plötzlich spricht mich ein älterer Mann an.
Igal Sarna, Träger einer der renommiertesten Aus-
zeichnungen für Journalisten in Israel, des Sokolow-
Preises, war lange Jahre einer der prominentesten
israelischen Journalisten. Als eingefleischter Gegner
von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, genannt
Bibi, pflegte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit
gegen diesen anzuschreiben. Eines Tages, als sein Hass
ihn überwältigte, postete er auf Face book die Be-
hauptung, der Tross des Ministerpräsidenten habe
auf halbem Weg nach Jerusalem haltgemacht und
Sarah, Bibis Frau, habe ihren Mann aus dem Auto
geworfen. Einfach so. Der Post ging viral, alle waren
schockiert. Bibi verklagte Igal wegen Verleumdung.
Igal konnte seine Geschichte nicht belegen und
wurde vom Gericht dazu verurteilt, Bibi und seiner
Frau 100.000 Schekel zu zahlen. Igals Arbeitgeber,
der Eigentümer der Tageszeitung Jedioth Acharonot,
schmiss ihn raus.
Wir setzen uns auf einen Schwatz zusammen.
»Bibi hat meinen Herausgeber aufgefordert, mich
rauszuschmeißen. Nach 35 Jahren, die ich für die
Zeitung arbeite, werde ich rausgeschmissen.«
Wovon leben Sie?
»Abfindung, Arbeitslosengeld, und in einem
Monat kriege ich Rente. Alles ist gut. Alles ist gut.«
Na ja, fast alles.
Dieses Land, Israel, sei nicht wirklich gut, sagt
Igal, ein dezidierter Linksaußen-Mann. »Dieses
Land ist eine ›kaputte Zuflucht‹, wie ich es nenne.
Es ist ein Ort, der von Überlebenden und Flücht-
lingen gegründet wurde, damit sie eine Zufluchts-
stätte hätten, in der Juden sicher wären. Doch von
seiner Gründung 1948 an ist dies der gefährlichste
Ort für Juden nach Hitler. An keinem der Orte, an
denen Juden auf der ganzen Welt leben, sind so
viele von ihnen in Kriegen gestorben wie hier. Mit
uns ist das passiert, was mit einem missbrauchten
Kind passiert, das selbst später Missbrauch begeht.
Wenn man Territorium, Waffen, eine starke Armee
und atomare Macht mit dem Judentum zusam-
menbringt, dann ist das Judentum am Ende ge-
nauso brutal wie das Christentum und der Islam.«
Igal hat kein Problem damit, die schlimmsten
Dinge über Israel zu sagen, er scheint das regel-
recht zu genießen. Wie er es sieht, ist Israel ein
Apartheidstaat. Wenn er beispielsweise Deutsch-
land und Israel vergleicht, kommt er zu dem
Schluss: »Es kann sein, dass der Enkel des Mörders
ethischer sein wird als der Enkel des Ermordeten.
An diesem Punkt in der Geschichte ist Israel weni-
ger ethisch als Deutschland.«
Wie sehen Sie dieses Land in zwanzig, dreißig
Jahren?
»Ich glaube, dass sich Israel in ähnlicher Weise
wandeln wird wie Südafrika. Es wird hier Kriege
und Blutvergießen geben, und am Ende wird es

einen Staat geben, in dem Araber und Juden zu-
sammenleben werden.«
Einige Leute glauben, dass den hier lebenden
Juden, wenn Israel und Palästina ein Staat werden,
dasselbe Schicksal blüht wie den Juden, die letztes
Jahrhundert in Deutschland lebten.
»Das glaube ich nicht. Wir haben Hitler über-
lebt, wir werden auch die Muslime überleben.«
Wenn ich ein Palästinenser wäre und glauben
würde, was Sie glauben, nämlich dass Israel ein
Apartheidstaat ist, dann würde ich mich von je-
dem Juden in Sichtweite befreien, sobald der eine
Staat Wirklichkeit wird und ich in der Mehrheit
bin. Warum nicht?
»Nun, Sie sind eine rachsüchtige Person, ich
hingegen nicht.«
Igal teilt seine Zeit zwischen Israel und Portu-
gal auf, seine Kinder aber leben hier.
Wenn Ihre Kinder Sie fragen würden: Papa,
sollen wir in Israel bleiben oder weggehen, was
würden Sie ihnen sagen?
»Ich habe ihnen schon gesagt: Wenn sich nichts
ändert in diesem Land, wenn dieses Land auch
weiterhin faschistisch und rassistisch bleibt, dann
fliegt fort von hier! Geht nach Deutschland, Ös-
terreich, England.«

Abgesehen davon ist Igal dem Judentum ziem-
lich verbunden.
»Je mehr ich mich von Israel distanziere«, erklärt
er ungefragt, »desto stärker fühle ich mich dem Ju-
dentum verbunden. Ich bin definitionsgemäß ein
Jude. Es ist in meinem Blut; es ist in meinen Genen.«
Als Nächstes lerne ich Eliahu kennen, einen
Diamantenexperten.
Wie wird dieses Land in zwanzig, dreißig Jah-
ren aussehen, Eliahu?
»Genauso wie jetzt. Rassistisch. Wir Juden sind
die größten Rassisten der Welt – und es wird kei-
nen Frieden geben. Niemals. Morgen fliege ich
nach München. Deutschland ist schön!«
Sind Sie auch ein Rassist?
»Ich? Absolut nicht!«
Was würden Sie sagen, wenn sich Ihre Tochter
in einen Äthiopier verliebt?
»Meine Tochter? Niemals!«
Warum, Sie kleiner Rassist?
»Ich bin kein Rassist!«
Ich höre ihm zu und frage mich, warum ich als
Teenager einen solchen Selbsthass jemals attraktiv
finden konnte.
Tja, Auschwitz.
Die Tage verstreichen, und ich lerne weitere
Scheinkin-Anwohner kennen. Ich treffe Jossi, einen
überzeugten Rechten, mitten auf der Scheinkin.
Er zeigt auf ein Haus neben uns und sagt:
»Hier versteckte sich Menachem Begin während
des britischen Mandats vor den Briten. Mir ge-
hört die Etage, auf der er sich versteckte.« Mena-
chem Begin, der Anführer der zionistischen para-
militärischen Gruppierung Irgun und sechste Mi-
nisterpräsident Israels, ist eine der meistverehrten
Personen in der kurzen Geschichte des Landes,
hauptsächlich im rechten Teil des politischen
Spektrums.
Scheinkin war also früher einmal rechts?
»Früher einmal und wird es heute wieder. Die
Linken gehören der Vergangenheit an, nicht nur
in Scheinkin, sondern auch im Rest des Landes.
Nicht dass alle verschwunden wären. Sie bezeich-
nen sich als Sozialisten, die, die noch Linke sind,
aber sagen Sie mir: Welche Sorte Sozialist kann es
sich leisten, in Scheinkin zu leben? Man muss ein
fetter Kapitalist sein, um hier leben zu können.«
Jossis Mobiltelefon klingelt, und er bricht auf.
Ich bin allein. Ich beobachte die Leute, die
vorbeilaufen. Manche von ihnen bleiben neben
Mülleimern stehen, um nach Essen zu suchen. Es
bricht mir das Herz, diesen zumeist älteren Men-
schen zuzusehen. Kein Sozialist kommt vorbei,
um ihnen zu helfen, mit ihnen zu reden, ihnen
seine Gesellschaft anzubieten.
Was ist los mit euch, Sozialisten von Scheinkin?
Habt ihr kein Herz, kein Erbarmen?
Ich besuche Doktor Gadi Taub, Hochschul dozent

für Public Policy und Kommunikation an der He-
bräischen Universität Jerusalem. Wie die meisten
Scheinkiner begann Gadi sein Leben im linken Spek-
trum, ist aber heute ein stolzer Rechter. Er schreibt
aber auch für Ha’aretz, Israels linkeste Zeitung.
Was heißt es, Israeli zu sein, Gadi?
»Ich erkläre meinen Studierenden, dass ich ein
›instinktiver Zionist‹ bin. Mein Vater war ein
Flüchtling, er verließ 1939 die Slowakei. Er war
noch ein Kind, zwölf Jahre alt, aber er überzeugte
seinen Vater davon, wegzugehen. Sie nahmen ein
Schiff und waren vier Monate unterwegs, sie wä-
ren von Bord gegangen, wo immer die lokalen Be-
hörden es zugelassen hätten. Aber niemand wollte
sie. Nicht Roose velts Amerika, nicht Churchills
Großbritannien, nicht das liberale Frankreich,
niemand. Also kamen sie hierher, und die Briten
nahmen sie fest. Das ist mein Vater: ein jüdischer
Junge mit Wasser unter den Füßen und ohne
Land, das ihn willkommen geheißen hätte. Israel
ist das Land, in dem ich lebe, der Mittelpunkt
meiner patriotischen Gefühle.«
Lassen Sie uns über Scheinkin sprechen. Ist die
Straße das, was sie einmal war?
»Die Linke ist verschwunden. Ich war einmal
links. Wir waren optimistisch, wir glaubten an

den Frieden zwischen den Palästinensern und uns,
wir wollten die Besatzung be enden und glaubten,
dass sie das auch wollten. Die Realität traf uns wie
ein Schlag ins Gesicht. Palästinensische Selbst-
mordattentäter sprengten sich in unseren Straßen
in die Luft, nachdem wir ein Friedensabkommen
unterschrieben hatten, die Oslo-Vereinbarungen;
sie erschossen einen, nachdem wir ihnen fast alles
angeboten hatten, was sie verlangt hatten, wie es
in Camp David unter Ministerpräsident Ehud
Barak der Fall gewesen war; Raketen wurden auf
uns abgefeuert, nachdem wir unsere Truppen vom
besetzten Gazastreifen zurückgezogen hatten –
also wachten wir endlich auf. Die Palästinenser
kämpfen nicht gegen die Besatzung; sie bekämp-
fen unser Recht, hier zu leben. Es hat ein paar
Jahre gedauert, bis wir das begriffen haben, weil
wir alle unser Weltbild auf die Idee des Friedens
gegründet hatten.«
Igal Sarna sagt, dass er einen gemeinsamen
Staat für Araber und Juden will. Gadis Meinung?
»Er ist ein Idiot. Rund um uns herum schlach-
ten sich die Araber gegenseitig ab. Glauben Sie
wirklich, dass sie uns Juden nicht abschlachten
würden, wenn sie in der Mehrheit wären?«
Wird es hier jemals Frieden geben, in zwanzig
oder in hundert Jahren?
»Nein.«
Gadi sieht Israel völlig anders als Igal. »Hat
Europa uns je geholfen? Hat Europa uns je ge-
rettet? Trotzdem wagen sie es, uns Predigten zu
halten. Zur Hölle mit ihnen.«
Als ein Beispiel für eines der vielen europäi-
schen Länder, die er für heuchlerisch hält, erwähnt
er Frankreich. Nach seiner Berechnung ist es so:
»Die Franzosen haben in nur zwei Jahren 600.000
Menschen in Algerien getötet. Israel hat vom Tag
seiner Gründung an und in den Jahrzehnten zu-
vor, während eines hundertjährigen Konflikts,
keine 70.000 Araber getötet, von denen waren die
meisten Soldaten. Können die Franzosen uns et-
was predigen? Und die anderen Europäer sind
nicht besser!«
Möchten Sie jenen Juden in Amerika oder
Euro pa etwas sagen, die Israel als einen Apartheid-
staat bezeichnen?
»Wenn die Nichtjuden euch aus ihren Ländern
vertreiben, werden wir euch hier willkommen hei-
ßen.«
Tagein, tagaus laufe ich die Scheinkin-Straße
entlang und finde mehr Rechte als Linke. Schein-
kin, dämmert mir langsam, ist ein Spiegel der is-
raelischen Gesellschaft insgesamt. Die alten sozia-
listischen Ideale schmelzen im Licht der grausa-
men Realität dahin, während die Mauer aus
Selbsthass langsam bröckelt. Aber meine Neugier
ist geweckt: Wessen Europabild ist treffender, Igals
oder Gadis?

Ich bin mit Seiner Exzellenz Ron Prosor verab-
redet, ehemaliger Botschafter Israels bei den Ver-
einten Nationen und in Großbritannien. Er sollte
es wissen.
Wir treffen uns in einem Café in Jerusalem.
Ron ist ein wahrer Diplomat und wird Ihnen nie-
mals eine direkte Antwort auf eine Frage geben.
Hören Sie mal:
»Sagen wir«, sagt Ron, »dass die Araber eine
UN-Resolution entwerfen, die die sofortige Tö-
tung aller Juden fordert. Daraufhin beginnen die
Europäer mit den Arabern zu verhandeln, um den
Text der Resolution zu ändern. Nach zweitägigen
Verhandlungen kommen die Europäer zu mir und
sagen: ›Ron, wir haben einen Kompromiss für eine
neue Resolution mit den Arabern gefunden, und
wir glauben, ihr solltet ihn akzeptieren. Die neue
Resolution wird die Tötung der Juden fordern,
aber nicht aller Juden und nicht sofort!‹«
Ron, sehe ich, traut den Europäern so sehr wie
ich dem durchschnittlichen Bewohner der Ge-
fängnisinsel Rikers Island.
Er war nicht immer so. »Als ich Mitte der
1990er-Jahre Botschafter in Großbritannien war«,
erzählt er, »sagten manche Leute, dass bestimmte
britische Kritiken an Israel antisemitisch seien. Ich
entgegnete ihnen: ›Das ist unmöglich.‹ Heute
kann ich im Nachhinein sehen, dass zumindest ein
Teil dieser Kritik in der Tat antisemitisch war.«
Manche Juden dachten, nach Auschwitz würde
sie niemand mehr hassen. Haben sie sich geirrt?
Ich treffe mich mit dem Knessetabgeordneten Jair
Lapid, einem Zentristen. Vor etlichen Jahren schrieb
Jair, ein ehemaliger Scheinkin-Bewohner, das be-
rühmteste Gedicht über die Gegend, She lives in
Sheinkin. Es erzählt von einer hier ansässigen Frau,
die immer Schwarz trägt, im Bett liegt und Bücher
schreibt, davon träumt, Filmemacherin zu werden,
ihre Drinks im Tamar zu sich nimmt, an den Strand,
aber nie schwimmen geht, ihre schönen Beine be-
deckt, wechselnde Liebste hat und Filme nur mitter-
nachts sieht. Entzückend, oder?
Jair ist einer der zwei Vorsitzenden von Blau-
Weiß, der Opposistionspartei. Sollte sie in der an-
stehenden Wahl gewinnen, wird Jair höchstwahr-
scheinlich Israels neuer Außenminister, für ihn ein
Traumjob.
Wir treffen uns im Norden Tel Avivs, wo Jair
heute lebt, über die Scheinkiner zu seiner Zeit sagt
er: »Sie waren Schauspieler, Künstler, Bohemiens; sie
waren Rebellen in zerrissenen Jeans. Sie sahen sich
selbst als links, waren es aber nicht. Ihnen ging es nur
darum, das nächste Gedicht zu schreiben oder das
nächste Bild zu malen. Sie waren keine Sozialisten,
solange man unter einem Sozialisten nicht jemanden
versteht, der kein Geld hat.«
Was ist Scheinkin heute?
»Kapitalistisch und teuer. Die Menschen, die
dort heute leben, tun nicht einmal so, als seien sie
Sozialisten.«
Das ist alles, was sie sind, Kapitalisten?
»Kapitalisten in Israel sind anders als Kapitalisten
anderswo. In Israel sind die Menschen mit ein an der
solidarisch. Der Begriff der Solidarität im Judentum,
die Vorstellung, dass man sich um den anderen küm-
mern muss, ist ein Teil unserer Identität.«
Jair, der für die zahlreichen Kämpfe bekannt
ist, die er sich mit Israels religiösen Parteien gelie-
fert hat, sagt mir, dass er die orthodoxen Juden
letzten Endes als Brüder und Schwestern ansieht.
»Wenn es einen Terroranschlag auf irgendjeman-
den von uns gibt, werden ihm alle helfen, ganz
gleich, wer angegriffen wurde – all die Unterschie-
de werden augenblicklich verschwinden.«
Glauben Sie an Gott, Jair?
»Ja. Mein Vater war der berühmteste Atheist
Israels, und ich sage über ihn, dass der Gott, an
den er nicht geglaubt hat, ein Jude war!« Augen-
zwinkernd fragt er mich: »Verstehen Sie?«
Haben Sie Kinder, Jair?
»Drei.«
Gott spricht. Er sagt: »Jair, ich gebe dir zwei
Alternativen, zwischen denen du dich entscheiden
musst: dass deine Kinder außerhalb Israels leben
oder dass deine Kinder ultraorthodox werden.«
Wofür würden Sie sich entscheiden?
»Dass sie ultraorthodox werden.«
Zeichnen Sie mir, Jair, das Bild dieses Landes in
fünfzig Jahren.
»In fünfzig Jahren wird es hier zwei Staaten ge-
ben, Israel und Palästina, wobei Palästina und Jor-
danien ein Staat sein werden.«
Wird Jerusalem die Hauptstadt Palästinas sein,
wie es die Palästinenser fordern?
»Nein. Jerusalem gehört uns, zur Gänze.«
Jair befürchtet eine Zunahme des Antisemitismus.
Sobald seine Partei die Regierung stellt, sagt er mir,
ist eines der ersten Dinge, die er tun wird, der Aufbau
einer Infrastruktur mit hoch qualifiziertem Personal
zur Bekämpfung des Antisemitismus.
Was für eine Geschichte eines Volkes: Hass ges-
tern und Hass morgen.
Als ich mich von der Scheinkin, Israels Spiegel,
verabschiede, betrachte ich ihr Volk, ein Volk, das es
von der Asche Auschwitz’ zu Apartments für neun
und für 29 Millionen gebracht hat. Was sehe ich? Ich
sehe einen Stamm, einen sehr alten Stamm, der sich


  • wenn man nach der Geschichte gehen kann – bis
    ans Ende aller Zeiten vor denen wird schützen müs-
    sen, die ihn hassen, denen von innen und denen von
    außen. Es ist ein Stamm, der die historische biblische
    Sprache spricht, Hebräisch, ein Volk, das im Land
    der Bibel lebt, dem einzigen Land, das es für sie gibt,
    einem teuren Land.
    Werde auch ich weinen, wenn ich dieses Land
    verlasse?


Aus dem Englischen von Michael Adrian

Tuvia Tenenbom wurde 1957 im
israelischen Bnei Berak nahe Tel Aviv geboren und
wuchs dort auf. Der Autor lebt heute in New York, wo
er das Jewish Theater leitet. Gerade erschien sein Buch
»Allein unter Briten« im Suhrkamp Verlag

50 FEUILLETON


Fortsetzung von S. 49

Cafés säumen die Straße

»Was ist los mit euch Sozialisten von Scheinkin, habt ihr


kein Herz, kein Erbarmen?«


Foto: Jonas Opperskalski für DIE ZEIT

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  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10


Illustration: Lea Dohle

EIN PODCAST FÜR KIRCHENFERNE –
WAS DIE BIBEL ÜBER DIE
MENSCHHEIT ERZÄHLT
JETZT ANHÖREN:
http://www.zeit.de/podcasts

Unter Pfarrerstöchtern


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