Süddeutsche Zeitung - 21.02.2020

(Barré) #1
von martin schneider

E


s ist nicht so, als käme das Urteil
überraschend. „Nie wieder Hoffen-
heim“ war eine dann doch recht
klar prognostizierende Liedzeile der BVB-
Fans beim Auswärtsspiel in Sinsheim im
vorigen Dezember. Es wussten ja alle,
dass sie wegen ständiger Beleidigungen
gegen den TSG-Mäzen Dietmar Hopp auf
Bewährung sind, in der Kurve tauchten
aber trotzdem Plakate auf, die keinen In-
terpretationsspielraum ließen: „Wir wün-
schen allen ein frohes Fest – und dir dein
letztes!“ Der DFB-Kontrollausschuss hat-
te keine andere Wahl, er setzte die Bewäh-
rung aus. Nun dürfen BVB-Fans erst
2023 wieder die Arena in Sinsheim betre-
ten, ein Einspruch des Klubs ist ange-
sichts der Faktenlage unwahrscheinlich.
Diese Strafe ist einmalig im deutschen
Fußball, und sie ist deswegen einmalig,
weil sich einige BVB-Fans im Konflikt mit
Hopp verrannt haben. Viele Anhänger wa-
ren oder sind der Meinung, dass persönli-
che Beleidigungen ein legitimes oder gar
legales Mittel der Diskussionsführung in
Fußballstadien sind. Wohl zur Überra-
schung dieser Fans ist das nicht so – auch
wenn es sich in manchen Kurven eta-
bliert hat, wahllos zu schimpfen. Noch we-
niger hinzunehmen ist allerdings, wenn
auch nur anspielend mit Morddrohun-
gen hantiert wird. Das Konterfei des SAP-
Gründers hinter einem Fadenkreuz
tauchte ja zweimal im Block auf. Beim ers-
ten Mal entschuldigte sich der Urheber
noch bei Hopp, beim zweiten Mal wuss-
ten die Fans ziemlich genau, was sie tun.
Einige BVB-Anhänger argumentieren,
dass sich der Konflikt zu dem Zeitpunkt
schon hochgeschaukelt hatte. 2011 be-
schallte die TSG den Dortmunder Aus-
wärtsblock mit Hochfrequenztönen und
sagte danach, das habe ein Hausmeister
in Eigenregie gemacht. Später zeigte
Hopp einzelne Fans wegen Beleidigung
an; viele Anhänger sagten daraufhin, da
lege sich ein Milliardär mit dem kleinen
Mann an. Außerdem protestiere man ja
nur mit den zur Verfügung stehenden,
überspitzenden Mitteln gegen ein abzu-
lehnendes Konstrukt.
Der Punkt ist: Das ist nicht mehr der
Punkt. Wer Menschen hinter Fadenkreu-
zen zeigt oder ihnen ihr letztes Fest
wünscht, der verlässt den gemeinsamen
Boden, auf dem man über was auch im-
mer diskutieren kann. Man kann etwas
nicht gut finden, man kann das auch laut-
stark kundtun – aber jemanden symbo-
lisch ins Visier einer Schusswaffe neh-
men, das kann man nicht. Das ist keine
Zuspitzung, das ist strafbar, und genau
da verläuft dann eben die Grenze.
Natürlich ist diese Überschreitung der
Anstandslinie von einigen Fans einkalku-
liert, aber sie spielen ein Spiel, das sie
nicht gewinnen können. Wenn die Schmä-
hungen, etwa bei Heimspielen, auf dem
gleichen Level weitergehen sollten, dann
kann der DFB auch zum Mittel des Punkt-
abzugs greifen. Es wäre natürlich schön,
wenn vorher ein Nachdenken einsetzen
würde.


Mailand/München– Robin Gosens hatte
so eine Ahnung, die sich als richtig heraus-
stellen sollte. Es war Mitte Dezember, in
Nyon wurde das Champions-League-Ach-
telfinale ausgelost, und Gosens, der Links-
verteidiger von Atalanta Bergamo, saß zu
Hause mit seiner Freundin vor dem Fernse-
her. Er war nervös, hat er später erzählt.
Als seiner Mannschaft, dem Überra-
schungsteam unter den 16 Besten in Euro-
pa, der FC Valencia zugelost wurde, habe er
zwar gedacht, dass er gerne ein anderes
Stadion als das Mestalla in Valencia gese-
hen hätte, denn das kennt er bereits. Wenn
schon durch Europa reisen, warum nicht et-
was Neues erleben? Andererseits, und die-
ses Gefühl überwog schließlich, dachte er:
Valencia, das ist ein machbarer Gegner.
Der in Emmerich am Niederrhein gebo-
rene Gosens, 25, der nie für einen Bundesli-
gisten auflief, nie für eine Auswahl des
Deutschen Fußball-Bundes (DFB) nomi-
niert wurde und den in Deutschland kaum
jemand auf der Straße erkennen würde, ge-
winnt gerade im internationalen Fußball
rasant an Bekanntheit. Wenn er in drei Wo-
chen im Rückspiel in Valencia spielt, wird
er immerhin gefühlsmäßig etwas Neues er-
leben: Er wird für den Favoriten auf den
Einzug ins Champions-League-Viertelfina-
le auflaufen – das Hinspiel am Mittwoch-
abend gewann Bergamo 4:1. „Atalanta ist
der Stolz des italienischen Fußballs“, lobte
dieGazetta dello Sport.UndTuttosport
schrieb vom „himmlischen Atalanta“.

Atalanta ist nicht der reichste Klub Itali-
ens; es ist ein Team voller Spieler wie Go-
sens, die nicht gerade weltberühmt sind.
Es ist es eine Mannschaft nach der Mach-
art des Trainers Gian Piero Gasperini, 62,
der 2011 bei Inter Mailand nach fünf Spie-
len und vier Niederlagen gefeuert und da-
nach in Italien als ungeeignet für den wirk-
lich großen Fußball abgestempelt wurde.
In Bergamo bekam er seit 2016 die Zeit, die
er brauchte, um sein durchaus eigenwilli-
ges, vor allem für Italien untypisches Sys-
tem zu entwickeln: Dreier-Abwehr, Pres-
sing auf dem ganzen Feld, Offensive. Kein
Team der italienischen Serie A hat in dieser
Saison so viele Tore geschossen wie Berga-
mo: 63 in 24 Partien. Bereits in der vergan-
genen Spielzeit, mit Rang drei die erfolg-
reichste der Klubgeschichte, war die Offen-
sive aus Bergamo die beste der Liga.
„Wir haben uns gut auf die Partie vorbe-
reitet“, sagte Kapitän Papu Gomez nach
dem Spiel im Fernseh-Interview salopp.
Auf dem Platz sah das so aus, als würde Ber-
gamo die Spanier regelrecht überfallen.
4:0 stand es nach rund einer Stunde. Zwei
Tore, das erste und das vierte, schoss der
rechte Flügelspieler Hans Hateboer, 26. Er
ist einer von zwei niederländischen Natio-
nalspielern im Team. Ähnlich wie der ande-
re, der 28 Jahre alte Marten de Roon im zen-
tralen Mittelfeld, fiel Hateboer dem heimi-
schen Verband erst durch seine Leistun-
gen in Bergamo richtig auf. Jedenfalls de-
bütierte Hateboer, 2017 aus Groningen
nach Bergamo gewechselt, 2018 im Natio-
nalteam. Auch de Roon spielt erst seit ver-
gangenem Jahr regelmäßig für sein Land.
Atalanta hört nie auf, offensiv zu spielen
Noch ein Beispiel? Das 2:0 erzielte Josip Ili-
cic, ein 32 Jahre alter slowenischer Natio-
nalspieler, mit 14 Saisontoren Bergamos
bester Stürmer in der Liga; neulich traf er
beim 7:0 gegen den FC Turin dreimal.
Doch der Treffer am Mittwoch war sein ers-
ter in der Champions League. Zum 3:0,
dem schönsten der vier Tore, traf der
Schweizer Remo Freuler, 27 Jahre alt und
2016 für rund zwei Millionen Euro vom FC
Luzern geholt. Freuler ist zwar auch Natio-
nalspieler, aber bei der WM 2018 kam er
keine Minute zum Einsatz. Er zirkelte den
Ball in der 57. Minute von Halblinks außer-
halb des Strafraums in die rechte Ecke. Spä-
testens da war klar: Die Chance ist sehr
groß, dass Bergamos außergewöhnliche,
erste Champions-League-Saison der Ver-
einsgeschichte, die in der Gruppenphase
mit drei Niederlagen begonnen hatte, noch
ein paar Wochen länger dauert.

Ein typisches Bergamo-Spiel war der
Sieg gegen Valencia auch deshalb, weil die
Italiener auch nicht aufhörten mit ihrem
bedingungslos offensiven Stil, als es 4:0
stand. „Wir hätten noch mehr Tore erzie-
len können, wenn wir die Räume genutzt
hätten, die sie uns angeboten haben“, sagte
Trainer Gasperini. Manchmal übertreibe
es die Mannschaft etwas mit der Spielfreu-
de, fand dagegen Kapitän Gomez. So ka-
men der stark ersatzgeschwächt angereis-
te FC Valencia immerhin zum 1:4. Am Ende
hatten die Gäste 18 Mal aufs Tor geschos-
sen, sieben Mal mehr als Bergamo.
Gasperini klagte, man habe den Ball ge-
gen Ende zu oft zu schnell verloren und zu
viel gewagt. Das gelte es im Rückspiel zu
vermeiden. Und er mahnte, man brauche
auch in Valencia ein Tor, um nicht den gan-
zen Abend zittern zu müssen. Auch deswe-
gen werde er noch nicht feiern. Aber die
rund 44 000 Zuschauer in Mailand sahen
das wahrscheinlich anders. Dort, im San Si-
ro, trägt Bergamo in dieser Saison die
Champions-League-Spiele aus, das eigene
Stadion wird für neue, höhere Ambitionen
renoviert. „Wir haben Bergamo nach San
Siro gebracht“, sagte Gomez deshalb. Viel-
leicht wollte er damit andeuten, dass sie
Bergamo noch an viele andere Orte tragen
wollen. sebastian fischer

DEFGH Nr. 43, Freitag, 21. Februar 2020 HF2 27


München –Es muss sich nicht grämen,
wem Martin Braithwaite bislang kein Be-
griff war. Auch in Spanien war der 28 Jahre
alte Däne vielen Experten nahezu unbe-
kannt, und das, obwohl er bei einem dorti-
gen Erstligisten beschäftigt war, dem
CD Leganés. Am Donnerstag verabschiede-
te er sich – und schloss sich dem FC Barce-
lona an. Was viele Fragen aufwirft: Was
will Barça mit Braithwaite? Und vor allem:
Wieso darf Barça noch einen Stürmer ver-
pflichten, wo doch das Transferfenster für
Europa längst geschlossen ist?
Die Antworten auf beide Fragen sind
eng miteinander verwoben. In Spanien exis-
tiert eine Regel, die besagt, dass sich ein Ver-
ein bei höherer Gewalt – konkret: einer
nachweislich langfristigen Verletzung ei-
nes Spielers – auch außerhalb des Transfer-
fensters verstärken darf. Zuletzt hatte sich
der frühere Dortmunder Ousmane Dembé-
lé verletzt, den Ärzten zufolge wird der Bar-
ça-Profi erst zur neuen Saison wieder ar-
beitsfähig sein. Und weil es in Spanien eine
weitere Besonderheit gibt, wonach ein Spie-
ler seinen Vertrag auflösen kann, wenn er
die vertraglich festgeschriebene Ablöse de-
poniert – im Falle von Braithwaite 18 Millio-
nen Euro –, hat Barça nun einen neuen
Stürmer. Das hat heftige Gerechtigkeits-
debatten ausgelöst, denn der Abstiegskan-
didat Leganés schaut nun in die Röhre. Ei-
ne Abwerbung – wie jene von Braithwaite –
fällt nicht unter höhere Gewalt, Leganés
darf seinen Kader nicht mehr aufstocken.
„Wir werden die Reichsten auf dem Fried-
hof sein“, sagte ein Leganés-Funktionär,
„der Schaden ist irreparabel.“
Braithwaite selbst ist kaum ein Vorwurf
zu machen, für ihn ist es die Chance des Le-
bens. Er muss zwar damit rechnen, dass er
in einem halben Jahr wieder gehen muss,
denn Barcelona will Lautaro Martínez (In-
ter Mailand) verpflichten, für den man
aktuell kein Geld hat, seine Ablöse ist drei-
stellig. Immerhin: Braithwaite hat einen
Vertrag über viereinhalb Jahre unterschrie-
ben. Bei Barça. Dort standen bislang erst
vier Dänen unter Vertrag, unter ihnen der
frühere Gladbacher Allan Simonsen. jc


London– Beim bisherigen Höhepunkt der
erst knapp elfjährigen Vereinshistorie von
RB Leipzig fehlte vom Erfinder dieses Er-
folgs jede klare Spur. Trotz Rundum-
überwachung durch die Fernsehkameras
gelang es nicht, Ralf Rangnick unter den
60 095 Zuschauern im Stadion zu entde-
cken und ins Bild zu setzen. Allerdings gab
es einen verlässlichen Zeugen, der behaup-
tete, der lang jährige Inspirator des Leipzi-
ger Projekts habe die Reise nach London
nicht verpasst: Oliver Mintzlaff, Leipzigs
Fußballboss, erklärte, Rangnick habe defi-
nitiv zwei Sitze neben ihm gesessen. Er sei
also live dabei gewesen, als Leipzig mit
dem 1:0 (0:0) bei Tottenham Hotspur erst-
mals überhaupt ein Spiel in der K.-o.-Run-
de der Champions League gewann.
Rangnick ist ein erklärter Liebhaber des
englischen Fußballs, er hat in seiner Trai-
nerrolle jedoch nur einmal ein Königsklas-
sen-Pflichtspiel auf der Insel bestritten:
2011 gab es mit Schalke 04 ein 1:4 bei Man-
chester United. Im Sommer nun hat er in
Leipzig das Zepter weitergereicht – Julian
Nagelsmann, immer noch erst 32 Jahre alt,
übernahm, und er setzte Rangnicks Hinter-

lassenschaft mit dem Auswärtssieg in Lon-
don gleich mal ein Krönchen auf.
Für beide war es also ein Erfolg: Nagels-
mann stellte sich mit dem Sieg gegen den
berühmten Trainer José Mourinho selbst-
bewusst auf Europas großer Bühne vor;
für Rangnick war es indirekt die Bestäti-
gung seiner insgesamt siebenjährigen Auf-
bauarbeit bei den Sachsen. Aus der Regio-
nalliga heraus hat er maßgeblich einen in-
ternational konkurrenzfähigen Klub ge-
formt. Das bleibt, auch wenn Rangnick den
Premierensieg in England nun weder als
Trainer noch als Sportdirektor von RB mit-
erlebte, sondern in seiner neu definierten
Rolle als angestellter Head of Sport and De-
velopment Soccer bei Red Bull.
Zehn der 14 Spieler, die gegen Totten-
ham zum Einsatz kamen, hatte Rangnick
noch in seiner Amtszeit gecastet. Dazu erin-
nerten gegen Tottenham mutiges Attackie-
ren und zielgerichtetes Nachsetzen an sei-
ne Fußballanschauung, wonach der Geg-
ner kaum eine Sekunde zur Ruhe kommen
darf. Um den Vorjahresfinalisten der Cham-
pions League aber wirklich aus den Angeln
zu heben, musste Rangnicks Ansatz um

mehr als nur eine Prise Nagelsmann erwei-
tert werden: Spielwitz und Überzeugung
fügte der Neue erkennbar hinzu. Mit einer
Verknüpfung aus variantenreichen Angrif-
fen und geschickter Konterabsicherung
legte RB ein ebenso überzeugendes wie
souveränes Spiel hin. „Wenn der Trainer
schon keinen Bart hat“, witzelte der junge
Nagelsmann, „müssen wir wenigstens ein
bisschen seniorenhaft spielen, dass die
Jungs erwachsen rüberkommen.“

Im Alter von 32 Jahren und 211 Tagen
wurde Nagelsmann am Mittwochabend
zum jüngsten Coach, der je in der
K.-o.-Runde der Champions League in der
Coachingzone angetroffen wurde.
Nagelsmanns Plan sah vor, im Spielauf-
bau die beiden Außenbahnen mit nur ei-
nem Profi zu besetzen und die antritts-
schnellen Offensivkräfte Timo Werner
und Christopher Nkunku aus den Halb-
position hinter der zentralen Sturmspitze
Patrik Schick agieren zu lassen. Unter Tot-

tenhams Mourinho-Jüngern stiftete das
Verwirrung, niemand schien zu wissen,
wer in welcher Situation für welchen Ge-
genspieler verantwortlich war. Die Orien-
tierungslosigkeit verkörperte Ben Davies
mit seinem ungelenken Foul im Strafraum
am Mittelfeldstrategen Konrad Laimer.
Den Elfmeter verwandelte der heftig vom
FC Liverpool umworbene deutsche Natio-
nalstürmer Timo Werner (58.), der alle sei-
ne sieben bisherigen Champions-League-
Treffer auswärts erzielt hat. „Wenn ich
über Timo nachdenke, habe ich jedes Mal
ein Strahlen im Gesicht“, sagt Mintzlaff:
„Seit er bei uns ist, hat er extrem viel zu
dem beigetragen, was wir erreicht haben.“
Leipzigs starke Teamleistung rundete
in den ersten vier Achtelfinalspielen den
Aufstand der Außenseiter ab, geprägt
durch die ebenso überraschenden Siege
von Borussia Dortmund, Atalanta Berga-
mo und Atlético Madrid. Die Ergebnisse er-
innern ein wenig an 2004, als mit dem
FC Porto und AS Monaco letztmals zwei
Klubs das Finale erreichten, mit denen
nicht zu rechnen war. Damals trat José
Mourinho auf die Bühne, er siegte mit Por-
to und mit Spielern, die kaum einer kann-
te. Anderthalb Jahrzehnte später wurde er
nun von Leipzig kalt erwischt.
Im Rückspiel in drei Wochen muss Tot-
tenham für den Einzug ins Viertelfinale
mindestens zwei Tore schießen, dabei wa-
ren die Spurs mit ihrem Rückstand noch
gut bedient. „Es ist kein 0:10. Daher ist das
Endergebnis offen“, bilanzierte Mourinho:
„Wir wären nicht das erste Team, das zu
Hause verliert und auswärts weiter-
kommt.“ In seiner Analyse beklagte er sich
mal wieder über die fehlende Alternative
im Angriff nach den Ausfällen von Kapitän
Harry Kane (Muskelfaserriss) und Heung-
min Son (Armbruch). Das sei, wie in einen
Kampf zu ziehen mit einer Pistole ohne
Patrone, fand Mourinho – und entschuldig-
te so einen lauen Tottenham-Abend fast
ohne jede Torgefahr. sven haist

von thomas kistner

München– Am Donnerstag gab die Bun-
desanwaltschaft (BA) der Schweiz be-
kannt, dass sie eine neue Anklage erhebt:
gegen den früheren Generalsekretär im
Fußball-Weltverband Fifa, Jérôme Valcke,
und gegen den Klubchef von Paris St.-Ger-
main, Nasser Al-Khelaifi. Angelastet wird
dem Duo sowie einem nicht genannten
dritten Geschäftsmann Korruption bei der
Vergabe von TV-Rechten für die WM-Tur-
niere 2026 und 2030. Al-Khelaifi, auch Ge-
schäftsführer des TV-Senders BeIN in Ka-
tar, soll sich wegen „Anstiftung zu der von
Valcke begangenen ungetreuen Geschäfts-
besorgung“ verantworten. Aber tatsäch-
lich hat der Topvertreter des katarischen
Staatssports in dieser Sache kaum noch et-
was zu befürchten. Dafür hat die Fifa
selbst gesorgt – und dem Weltfußball eine
neue, undurchsichtige Affäre verschafft.
Die BA hatte seit 2017 ermittelt und Bele-
ge gefunden, dass Valcke im Gegenzug für
die von ihm auffallend frühzeitig betriebe-
ne Rechtevergabe „nicht gebührende Vor-
teile“ von den Mitbeschuldigten erlangt ha-
be: das Alleinnutzungsrecht an einer Villa
auf Sardinien, geschätzter Gegenwert bis
zu 1,8 Millionen Euro. Valcke, den die Fifa
im Herbst 2015 wegen anderer Delikte sus-
pendierte, hatte dem Arbeitgeber diese
Vorteile nicht gemeldet. Ein stiller WM-
Rechtedeal, ein privates Strandhaus: der
Sachverhalt erschien so klar, dass auch die
Fifa Klage wegen Bestechung einreichte.

Nun aber kommt dieses mit bis zu drei
Jahren Freiheitsstrafe belegte Delikt nicht
auf den Tisch des Schweizer Bundesstraf-
gerichts. Die Fifa schlug es der BA in letzter
Sekunde aus der Hand – und vereitelt da-
mit möglicherweise die Aufarbeitung ei-
nes viel tiefer reichenden Kriminalstücks.
Ende Januar zog sie die Klage gegen ihren
ehemaligen Spitzenangestellten Valcke
und Al-Khelaifi zurück – mit dem schlich-
tem Verweis auf eine „gütliche Einigung“,
die man getroffen habe. Aber wer hat sich
mit wem geeinigt? Und welche Gründe ha-
ben zu dieser jähen Einigung geführt?
Das juristische Gaukelspiel, die sportpo-
litische Gemengelage und der Unmut der
Strafbehörde, die anmerkt, dass die Fifa ih-
ren Klage-Rückzug nicht einmal „näher de-
finiert“ habe, werfen die Frage auf: Hat Ka-
tar den Fifa-Boss Gianni Infantino unter
Druck gesetzt? Und falls ja: Womit?
Die BA legt die Prozessvermeidungstak-
tik der Fifa mit galligen Zwischentönen of-
fen: „Da die Bestechung von Privaten ein
Antragsdelikt war, entfiel mit dem Rück-
zug des Strafantrags eine Prozessvoraus-
setzung für die weitere Strafverfolgung.
Entgegen der bereits erfolgten Ankündi-
gung gegenüber den Parteien wird die BA
das Verfahren in Bezug auf diesen Ver-
dacht konsequenterweise einstellen müs-
sen.“ Heißt: Wir können nicht anders, weil
die Fifa unter Infantino plötzlich meint, ihr
Ex-General Valcke habe sich mit der Luxus-
villa keinen korrupten Vorteil verschafft.
Diese auch aus Behördensicht verdächti-
ge Volte des Weltverbandes nährt Spekula-
tionen in eingeweihten Kreisen. Ohne Fra-

ge würde ein Korruptionsprozess der Fifa
gegen Katars hohen Fußballmanager die
dortige WM 2022 massiv beschädigen.
Auch deren Vergabe Ende 2010 steht ja
stark im Ruch der Korruption; Strafermitt-
lungen auf drei Kontinenten förderten ver-
dächtige Geldtransfers und andere Hinwei-
se ans Licht. Auch sind vom damaligen,
24 Fifa-Vorstände umfassenden Wahlgre-
mium heute nur noch zwei übrig, die nicht
mit irgendwelchen Strafvorwürfen im Fuß-
ballkontext belastet sind. Katar selbst wies
stets alle Korruptionsvorwürfe zurück.
Fifa-Boss Infantino und Katars Al-Khe-
laifi: Die beiden haben mehrere brisante
Berührungspunkte. Gerade sorgt die Ver-
bannung Manchester Citys für zwei Jahre
aus der Champions League durch die Euro-
pa-Union Uefa für Schlagzeilen, der engli-
sche Erstligist soll gegen die Financial-Fair-
play-Regeln (FFP) verstoßen haben. Einen
sehr ähnlichen Fall hatte die Uefa 2014
auch gegen Paris St.-Germain anhängig;
aus Daten der Plattform „Football Leaks“
geht hervor, dass Infantino, damals Uefa-
General, dem Team von PSG-Chef Al-Khe-

laifi bei der Vermeidung harter FFP-Stra-
fen geholfen habe.
Die Affäre rückt nun aber auch die mys-
teriösen Drähte zwischen Infantino und
BA-Chef Michael Lauber erneut in den Fo-
kus. Lauber ist im Mai 2019 von den Fuß-
ballermittlungen der eigenen Behörde sus-
pendiert worden, er hätte deshalb fast den
Job verloren. Das Duo hatte sich mindes-
tens dreimal geheim getroffen, ohne Proto-
koll; insbesondere ein Meeting sticht nun
ins Auge. Es fand im Juni 2017 statt, als die
Ermittlungen in Sachen Valcke/Katar erst
drei Monate alt waren; und es fand Tür an
Tür zur Botschaft von Katar statt: im Ber-
ner NobelhotelSchweizerhof, das dem Emi-
rat gehört. Geradezu absurd: Ausgerech-
net dieses zweistündige Treffen wollen
Lauber, Infantino und zwei Begleiter kol-
lektiv vergessen haben. Nicht nur die Inhal-
te: das Treffen selbst! Dabei war Katars Ho-
tel schon zuvor Schauplatz eines Treffs zwi-
schen Lauber und Infantino gewesen.
Das Restverfahren gegen Valcke und Al-
Khelaifi, sofern es eröffnet wird, dürfte zu-
mindest für den Katarer wenig Risiken ber-

gen. Insidern zufolge soll das Duo die Rech-
te zu marktüblichen Preisen verkauft ha-
ben; das dürfte es schwierig machen, dem
Katarer eine Anstiftung zu untreuem Ge-
schäftsgebaren nachzuweisen. Jedoch ist
es dem superreichen Emirat nie um den
möglichst billigen Erwerb von Fußballrech-
ten gegangen – sondern darum, sich mit
viel Geld immer tiefer und auf allen Ebe-
nen im Fußballgeschäft zu verankern.
Licht ins neue Dickicht um Infantino
und Al-Khelaifi, um Fifa und Katar, könnte
die Uefa bringen. Dort sitzt Al-Khelaifi im
Vorstand, angesichts der drohenden Ankla-
ge drängt sich eine vorläufige Suspendie-
rung auf. Und bei der Fifa-Sitzung im März
könnte die Uefa auf Offenlegung der „gütli-
chen Einigung“ mit Al-Khelaifi/Valcke
drängen. Es geht um Fifa-Geld, um Vor-
teilsnahme in Millionenhöhe, und Infanti-
no erzählt ja ständig von der angeblichen
„Nulltoleranz“ der Fifa gegen Korruption.
Al-Khelaifi, der alle Vorwürfe bestreitet, ist
übrigens seit Mai 2019 in Frankreich ange-
klagt – wegen aktiver Bestechung bei der
Vergabe der Leichtahtletik-WM an Katar.

SPORT

FANVERHALTEN

Jenseits der


Anstandslinie


Auch nach dem 4:0 lässt die
Angriffslust Bergamos nicht nach

Kleines Krönchen auf großer Bühne


Der immer noch erst 32 Jahre alte Nagelsmann coacht Leipzig zum ersten Champions-League-Sieg in einer K.-o.-Runde


Das Geheimnis des Strandhauses


Die Schweizer Bundesanwaltschaft klagt den Pariser Klubchef Nasser Al-Khelaifi und den früheren Fifa-General
Jérôme Valcke an. Doch ein Deal des Weltverbands verhindert eine in die Tiefe gehende Aufklärung des Falls

Atalantas System ist untypisch
für eine italienische Mannschaft

„Es ist kein 0:10. Daher ist das
Endergebnis offen“, so Mourinho

Die Schweizer Ermittler sind
merklich verstimmt ob des
Manövers des Weltverbandes

Überfall der


Überraschungself


Bergamos Offensive ist auch
vom FC Valencia nicht zu stoppen

Barcelona


holt Braithwaite


Spanische Spezialregel erlaubt
Transfer des Dänen

Leipzigs Hydra: Die Gewinner von London scharen sich um Timo Werner (Dritter von links). FOTO: GLYN KIRK / AFP

Aus besseren Zeiten: 2017 träumte Nasser Al-Khelaifi (li.) noch, dass sein Klub Paris St.-Germain zur Weltmarke avancie-
ren könnte und Starkicker Neymar (re.) zum zweiten Wahrzeichen der Stadt nach dem Eiffelturm.FOTO: JEAN-MARIE HERVIO / IMAGO
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