Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1
WIRTSCHAFT

56 FOCUS 9/2020

E


igentlich kann Jörg Wuttke,
62, so schnell nichts erschüt-
tern. Doch wenn der Mann mit
den grau melierten Haaren,
der seit 30 Jahren in Peking
lebt, über die Auswirkungen
des Coronavirus spricht, dann
reihen sich die Superlative nur so an-
einander: Eine vergleichbare Situation
wie derzeit habe er noch nicht erlebt,
sagt der Präsident der Europäischen Han-
delskammer, die die Interessen von mehr
als 1600 Unternehmen in China vertritt.
„Im Vergleich zum Coronavirus war Sars
eine rein regionale Sache“, sagt Wuttke.
Denn mittlerweile sei die Weltwirtschaft
eine ganz andere: globaler, miteinander
vernetzter und vor allem viel mehr von
China abhängig.
Das neuartige Coronavirus, das nun
offiziell Sars-CoV-2 heißt, hat die zweit-
größte Volkswirtschaft der Welt teilweise
lahmgelegt. In der Region um die zentral-
chinesische Metropole Wuhan stehen

immer noch Millionen Menschen unter
Quarantäne. Und damit Millionen, die
ihrer Arbeit in Fabriken nicht nachgehen
können. Die dramatischen Folgen für die
Weltwirtschaft zeichnen sich gerade erst
ab. Der Autoabsatz in China brach im
Januar um 20 Prozent ein. Apple rech-
net mit einem deutlichen Umsatzrück-
gang, weil die Produktion des iPhones
erheblich langsamer anläuft als erwartet.
Doch nicht nur Autos und Smartphones
sind von Produktionsstopps betroffen.
Auch die Pharma-Industrie leidet unter
dem Ausbruch – mit potenziell schwer-
wiegenden Folgen für die medizinische
Versorgung in Europa. „All das wird sich
auch irgendwann an unseren Apothe-
ken in Deutschland bemerkbar machen“,
glaubt China-Veteran Jörg Wuttke.

China ist wichtigster Arzneihersteller
In Europa wächst die Sorge vor einem
Medikamentenmangel. „Es gab ein sehr
klares Bewusstsein dafür, dass wir da ein

grundsätzliches Problem haben“, sagte
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) nach einem Sondertreffen mit sei-
nen EU-Amtskollegen am vorvergange-
nen Donnerstag in Brüssel.
Spahn hatte bereits vor einem Jahr
vor Engpässen gewarnt, damals im
Zusammenhang mit dem Brexit. Nun
könnte das Problem akut werden. Das
liegt vor allem daran, dass die weltwei-
ten Lieferketten für Medikamente häufig
in China beginnen. Laut einer Umfrage
des Branchenverbands der Pharmazeuti-
schen Industrie (BPI) gibt es allein in der
weitgehend abgeriegelten Provinz Hubei
für 136 Arzneimittel einen Wirkstoffher-
steller. 48 davon gelten als versorgungs-
relevant. Das bedeutet, dass es sich um
verschreibungspflichtige Medikamente
wie Penicillin handelt, die für die Grund-
versorgung besonders wichtig sind.
Inwieweit die Lieferketten beeinträch-
tigt sind, geht aus den Zahlen jedoch
nicht hervor.

Wegen des Coronavirus haben viele Pharma-Firmen in China die Produktion eingestellt.


Experten warnen deshalb vor Arznei-Engpässen in Europa. Wie groß ist die Gefahr?


Globalisierung mit Nebenwirkungen


Apotheke der Welt Ein Großteil der medizinischen Wirkstoffe auf dem Weltmarkt wird
heute in chinesischen Produktionsstätten wie dieser Fabrik in Ji’an produziert

Epizentrum des Ausbruchs In der zentralchinesischen Stadt Wuhan wird medi-
zinische Ausrüstung knapp. Es fehlen vor allem Masken und Schutzanzüge
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