mit angeschnallten Passagieren, Fotoalben,
Laptops, Plüschtiere regnen auf Felder.
Alexander Borodai, »Premierminister«
der Donezker Separatisten, ist auf einer
Sitzung, als er vom Absturz eines Pas -
sagierflugzeugs über der Ostukraine hört.
Er tut die Nachricht als Unsinn ab, im
Krieg laufen ohnehin zu viele Gerüchte
um. »Ich dachte: Was für ein Quatsch,
was für ein Passagierflugzeug, woher soll
das überhaupt kommen? Hier ist Krieg,
hier werden Städte beschossen und bom-
bardiert.«
Borodai erzählt das im Separee eines
Moskauer Restaurants, er redet schnell
und undeutlich und blinzelt viel. Er ist ein
Moskauer wie Igor Girkin, aber kein ruhi-
ger Offizierstyp, sondern ein nervöser
Spindoktor mit Kriegserfahrung. Einen
»Start-upper« nennt er sich, der den Sepa-
ratisten in Donezk 2014 beim Aufbau ihres
»Staates« geholfen habe. Auch er ist längst
zurückgekehrt. Er leitet jetzt den offiziel-
len »Bund der Donbass-Freiwilligen«, bei
dessen Treffen auch Putins Berater Wla-
dislaw Surkow auftaucht.
An jenem 17. Juli steht Borodai im
Scheinwerferlicht der Weltmedien. Am
Trümmerfeld, schon in der Dunkelheit,
gibt er eine Pressekonferenz. Er lädt inter-
nationale Experten ein. Es ist ihm klar,
dass die Separatisten selbst keine Unter-
suchung des Unglücks anstellen können –
»uns hätte sowieso niemand geglaubt«.
Aber zugleich versuchen die Separa -
tisten, die Sicherung der Spuren zu kon-
trollieren. Oleksij Migrin vom Katas -
trophenschutzdienst in Donezk leitet da -
mals die Suche nach den Toten bei dem
Dorf Hrabowe. Sie liegen auf Dächern,
Wegen, in Weizen- und Sonnenblumen-
feldern. Bewaffnete Separatisten hindern
ihn bei der Arbeit. »Uns wurde gesagt:
›Hier könnt ihr arbeiten – aber einen
Schritt weiter nach links oder rechts, dann
schießen wir. Beim ersten Mal in die Luft,
beim zweiten Mal in den Kopf‹«, erzählt
Migrin. Vor allem auf die Flugschreiber
sind die Bewaffneten aus. Migrin hat
nach dem MH17-Unglück das Separa -
tisten gebiet verlassen, er arbeitet jetzt in
Mariupol.
Vier Tage später übergibt Borodai die
zwei Flugschreiber doch einer malaysi-
schen Delegation, unter einer Bedingung:
Sie sollen nicht in die Hände der Ukrainer
gelangen, sondern in internationale. »Das
war eine Abmachung unter Gentlemen«,
sagt Borodai. Die Malaysier bringen die
Flugschreiber nach Großbritannien.
Wenn man Alexander Borodai fragt,
wer die Rakete der Buk seiner Meinung
nach abgeschossen habe, weicht er aus.
Er sagt, ihm fehlten die nötigen Infor -
mationen. »Aber die Schuld der Ukrainer
ist auch ohne Beweise klar.« Sie bestehe
ganz einfach darin, dass sie den Luftraum
über dem Kriegsgebiet nicht gesperrt hät-
ten, was mindestens fahrlässig gewesen
sei. »Alles andere kann man außen vor
lassen.«
Es ist mit Borodai wie mit Girkin: So-
bald es um die Zusammenarbeit mit dem
Kreml und den russischen Geheimdiens-
ten geht, blockt er ab.
Warum Kiew den Luftraum nicht ge-
sperrt hat, diese Frage wird im Schiphol-
Gerichtssaal keine Rolle spielen. Aber sie
ist berechtigt. Darf auf zehn Kilometer
Höhe eine Passagiermaschine fliegen,
wenn auf sechs Kilometern über dem Bo-
den scharf geschossen wird? Das ist die
Höhe, auf der drei Tage vor dem Unglück
die ukrainische Antonow abgeschossen
wurde.
Die Hintermänner
Am 21. Juli informiert Russlands Verteidi-
gungsministerium in Moskau über den Ab-
schuss von MH17. Generalleutnant Andrej
Kartapolow lenkt den Verdacht auf die
Gegner: Ein ukrainischer Kampfjet habe
sich der Maschine bis auf drei oder fünf
Kilometer genähert. Eine Buk der ukrai-
nischen Armee sei von ihrer Basis nahe
Donezk verschwunden. Manche der ange-
führten Belege sind gefälscht, manche frag-
würdig, manchen wird das russische Ver-
teidigungsministerium später selbst wider-
sprechen – etwa, als es 2016 Radardaten
präsentiert, auf denen der angebliche
ukrainische Kampfjet gar nicht auftaucht.
Was Russland bis heute nicht präsentiert
hat: eine eigene schlüssige Version, was
denn am 17. Juli passiert sei. Putins Regie-
rung beschränkt sich darauf, Zweifel zu
säen. Bizarre Falschmeldungen werden
zwischenzeitlich gestreut – etwa die vom
spanischen Fluglotsen »Carlos« in Kiew,
der angeblich zwei Militärjets neben dem
Passagierflugzeug gesichtet haben soll.
Später wiederholt Wladimir Putin diese
offensichtliche Lüge im Gespräch mit US-
Dokumentarfilmer Oliver Stone, obwohl
längst nachgewiesen ist, dass es den Lotsen
nie gegeben hat.
Die vier Angeklagten, gegen die der Pro-
zess nun zunächst geführt wird, sind nur
das unterste Ende einer Befehlskette. Das
obere Ende liegt im Kreml oder im Mos-
kauer Verteidigungsministerium. Alle vier
Angeklagten sind Militärs der Separa tisten,
nicht des russischen Staats. Zwar haben
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ROB STOTHARD / GETTY IMAGES
Bizarre Falschmeldungen werden gezielt
gestreut – etwa die vom spanischen Fluglotsen.
Gepäckteile von MH17-Passagieren am 20. Juli 2014
Wer sind die nächsthöheren Glieder in der Befehlskette?