Die Zeit - 12.03.2020

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Geschäft, um hetzerische Schmierereien vom
Schaufenster zu wischen.
Ilse plagen währenddessen andere Sorgen.
Sie hadert mit ihrem Aussehen und mit ihrer
Zukunft: Was soll aus ihr werden, jetzt, da sie
nicht mehr zur Schule gehen darf? Sie hilft zwar
auch im elterlichen Laden, doch die meiste Zeit
sitzt sie herum und liest Liebesromane. Selbst
als ihr Vater am frühen Morgen des 26. Okto-
ber 1942 verhaftet wird, so wie alle männlichen
Juden über 15 Jahre, wird Ilse das Ausmaß der
Bedrohung nicht klar.
Während in Freddies Welt alles ausgespro-
chen wird, bleibt in Ilses vieles ungesagt.
Reden ist Verrat ist laut, schrillt geradezu, wie
ein permanenter Feueralarm. Beinahe Herbst
ist still, auf eine unheilvolle Art. Nie erfährt
Ilse den wahren Grund, warum ihr Heinrich
plötzlich so oft herumdruckst. Sie weiß bis
zum Schluss nicht, dass er seine Freiheit, sein
Leben riskiert. »Sie haben die Todesstrafe ein-
geführt«, sagt Einar, Heinrichs Verbindungs-
mann, und rät ihm: »Ich finde, du solltest mit
Ilse reden.« Heinrich tut es nicht. Stattdessen
geht er mit Ilse Ski fahren, sodass sie das
Schiff verpasst, mit dem mehr als 500 norwe-
gische Juden den Hafen Oslos verlassen, mit
Kurs auf Stettin. Eine Fahrt in den Tod.
Ähnlich wie Wilma Geldof verwebt auch
Marianne Kaurin Fiktion und historische Fakten.
Im Nachwort schreibt sie zwar, die Handlung
ihres Romans sei frei erfunden. Für manche Details
hat sie sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit von
einer Biografie inspirieren lassen, die ihr norwegi-
scher Kollege Espen Søbye
2003 veröffentlichte. In Kathe


  • Deportiert aus Norwegen
    zeichnet er das Leben der
    15-jährigen Kathe Lasnik
    nach, die im November 1942
    in Oslo verhaftet, deportiert
    und schließlich von den Nazis
    in Auschwitz umgebracht
    wurde.
    Beide Romane schonen
    junge Leser nicht; die seeli-
    sche und körperliche Gewalt
    sind allgegenwärtig. Etwa
    wenn Kaurin in Beinahe
    Herbst beschreibt, wie mit
    Ilses Vater und anderen
    Häftlingen umgesprungen
    wird: »Zehn Schläge auf die
    rechte Hand. Nach dem
    fünften spürte er nicht mehr,
    wenn der Stock traf. Erst am Abend, als er in der
    Baracke lag, hatte er gesehen, wie übel zugerich-
    tet die Hand aussah. Die Nägel an Zeige- und
    Mittelfinger waren zersprungen, die ganze
    Hand war eine einzige Fleischwunde. Er jam-
    merte die ganze Nacht, erbrach sich auf den
    Boden, halb ohnmächtig.« Oder wenn Geldof
    Freddie von den Morden erzählen lässt: »Er
    schreit. Ein Schrei, der jammernd erstirbt. Er
    sinkt zusammen. Röchelt. Ganz leise. Eine
    Blutlache unter seinem Kopf. Und zwei Löcher.
    Eins in seinem Mantel, eins in der Stirn.«
    Während Ilse und ihrer Familie Gewalt angetan
    wird, wehrt sich Freddie mit Gegengewalt – was
    nicht spurlos an ihr vorbeigeht: »Es ist, als wäre ich
    nicht mehr ich.« In ihren Träumen sieht sie die
    Gesichter der Männer, die sie auf dem Gewissen
    hat. Mit niemandem kann sie darüber sprechen,
    nicht einmal mit ihrer Mutter, obwohl die selbst
    im Widerstand aktiv ist und ihre Töchter ermutigt,
    es ihr gleichzutun. Allerdings hatte die Mutter sie
    zu einem ermahnt: »Bleibt immer menschlich!
    Niemals so werden wie der Feind.«
    Was hättest du getan? Wie weit würdest du
    gehen, um für die Gerechtigkeit zu kämpfen?
    Diese Fragen schwingen in beiden Romanen
    mit. Geldofs Buch ist hier das drastischere.
    Denn anders als Heinrich und Einar riskieren
    Freddie und ihre Mitstreiter nicht nur ihr
    Leben, sondern auch ihre Menschlichkeit. Ist
    dieser Preis zu hoch? Diese Frage lässt Geldof
    offen. Sie urteilt nicht und gibt der Ambiva-
    lenz den Raum, der ihr zusteht. Besser kann
    man es nicht machen.


50 KINDER & JUGENDBUCH 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


Freddie Oversteegen (1925-2018)
gilt als jüngste Widerstandskämpferin
der Niederlande. Ihr Leben war
Vorbild für den Roman »Reden ist Verrat«

Foto: Erben Freddie Dekker-Oversteegen

Gefährdet oder


gefährlich?


Gleich zwei Romane erzählen von rebellischen jungen Frauen


und dem Widerstandskampf im Zweiten Weltkrieg


VON MAGDALENA HAMM

E


in Mädchen mit Zöpfen, ein
Mann in Uniform, ein ruhiges
Waldstück, ein Kuss. »Er fasst
nach meiner Hand und drückt
sie, drückt sie beruhigend.
Mit mir kann dir nichts pas-
sieren, sagt seine Hand, die
warm und stark ist. Und ich liefere ihn aus.
Ich bin die Verräterin.«
Im Mai jährt sich das Ende des Zweiten
Weltkrieges zum 75. Mal, seit Jahrzehnten
haben Romane und Sachbücher für junge
Leser über den Holocaust, den Alltag im
Krieg, über Opfer und Täter einen festen
Platz in den Programmen der Verlage. Jetzt,
zum Jahrestag, erscheinen zwei neue Jugend-
romane, die auf den ersten Blick viel gemein-
sam haben: Beide spielen in den 1940er-Jahren
in einem von Nazi-Deutschland besetzten
Land. Beide erzählen von starken jungen
Frauen, die versuchen, in den Wirren des
Krieges erwachsen zu werden. Und in beiden
spielt der Widerstand gegen das Unrecht des
Nazi-Regimes eine zentrale Rolle.
In Wilma Geldofs Roman Reden ist Verrat
erzählt die 16-jährige Freddie, wie sie sich
gemeinsam mit ihrer zwei Jahre älteren
Schwester Truus einer Widerstandsgruppe im
niederländischen Haarlem anschließt. Ver-
meintlich eiskalt nutzt Freddie ihre harmlose
Erscheinung aus – wer verdächtigt schon ein
zierliches Mädchen mit Zöpfen, Anschläge
auf Besatzer und Kollaborateure zu verüben?
Sie flirtet mit »Moffen«, also Nazis, und lockt
sie in Hinterhalte, wo an-
dere Widerständler das
»Liquidieren« übernehmen.
Doch schon bald trägt
Freddie selbst eine Waffe
bei sich – und benutzt sie.
Der Roman beruht in
Teilen auf dem Leben Fred-
die Oversteegens, die als
jüngste Widerstandskämp-
ferin der Niederlande gilt.
Für die Recherche und wäh-
rend des Schreibens traf die
Autorin die hochbetagte
Oversteegen mehrfach zum
Gespräch, zuletzt kurz bevor
diese im September 2018
verstarb.
Durch geschicktes Ver-
dichten und Verfremden ist
Geldof eine mitreißende
Geschichte gelungen, die das Leben im Untergrund
zugleich beängstigend und reizvoll erscheinen lässt.
Atemlos hetzt der Leser mit Freddie auf dem Fahr-
rad durch das besetzte Haarlem, von Versteck zu
Versteck, immer auf der Hut vor der nächsten
Polizeikontrolle und beseelt vom Gefühl, dem
Unrecht etwas entgegenzusetzen. »Angst verlernt
man«, sagt Freddie. »Und wenn ich sterbe, habe ich
immerhin das Richtige getan.«
Im zweiten Roman Beinahe Herbst von
Marianne Kaurin liegt der Widerstand gegen
die NS-Besatzer wie hinter einem Schleier. Nicht
die 15-jährige Hauptfigur Ilse ist im Unter-
grund aktiv, sondern ihr Schwarm Heinrich. Er
hilft dabei, Untergrundzeitungen zu drucken.
Ilse ahnt davon nichts. Sie fragt sich nur, wa-
rum Heinrich sie versetzt – und macht sich
Sorgen, sie sei nicht attraktiv genug für ihn.
Vielleicht hat er eine andere? »Eine mit blon-
den Haaren und hellen Augen, fülliger Figur,
großen Brüsten, schmaler Taille.«
Ilse Stern ist Jüdin und lebt mit ihren Eltern
und ihren zwei Schwestern im norwegischen Oslo.
Auch Ilse ist rebellisch, wenngleich auf andere Art
als Freddie. Die 15-Jährige liegt mit ihrer Mutter
im Dauerclinch – ganz im Gegensatz zu ihrer
älteren Schwester Sonja, die selbstverständlich
Verantwortung für den Haushalt und die fünf-
jährige Schwester Miriam übernimmt und die in
der Schneiderei des Vaters hilft.
Der wiederum bemüht sich nach Kräften,
seine Familie vor den Schikanen gegen die Ju-
den abzuschirmen. Jeden Morgen steht er lange
vor seinen Töchtern auf und eilt zu seinem


Wilma Geldof:
Reden ist Verrat.
Deutsch von
Verena Kiefer;
Gerstenberg
2020; 346 S.,
18,– € ;
ab 14 Jahren


Marianne Kaurin:
Beinahe Herbst.
Deutsch
von Dagmar
Mißfeldt;
Arctis/Atrium
2019; 224 S.,
16,– € ;
ab 14 Jahren

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Diese Woche aus der ZEIT-Jubiläumsedition »Kirsten Boie«


Wir Kinder aus dem Möwenweg


Ob »Die Kinder aus dem Möwenweg« oder »Der kleine Ritter
Trenk« – die Geschichten um Boies beliebte Helden gehören
längst zu den Klassikern der Kinderliteratur. Nicht umsonst
wird sie auch »die deutsche Astrid Lindgren« genannt. Kinder
und erwachsene Vorleser werden gleichermaßen von diesen
bezaubernden Büchern und der enormen literarischen Viel-
seitigkeit in den Bann gezogen. Die ZEIT LEO-Edition »Kirsten
Boie« versammelt nun erstmals ihre schönsten Geschichten in
einer hochwertigen Box.

Im Möwenweg dürfen sie einfach Kinder sein: Tara, ihre Brüder
Petja und »Maus«, Tieneke, Jul, Fritzi, Laurin und Vincent. Hier
spielen sie zusammen, füttern Ponys, pflücken Erdbeeren,
feiern Feste und haben immer was zu kichern. Von ihren
wohltuend unaufgeregten Erlebnissen in der neu gebauten

Reihenhaus-Siedlung wird aus
der Sicht der achtjährigen Tara
herzerfrischend erzählt. In der
kleinen, heilen Welt erfahren die
Geschwister und Freunde eine
herrliche Unbeschwertheit, die ihnen das Gefühl gibt, dass
alles gut ist, wie es ist – Bullerbü-Atmosphäre für unsere Zeit.
Die Autorin weiß, was Mädchen und Jungen glücklich macht
und was ihnen wichtig ist. Garantiert findet sich der Leser in
diesen Geschichten wieder und entdeckt, wie außergewöhnlich
der vermeintlich normale Alltag sein kann. Es wundert nicht,
dass »Wir Kinder aus dem Möwenweg« mit über einer Million
verkaufter Bücher und Hörbücher Kirsten Boies erfolgreichste
Reihe ist. Der Impuls dafür kam übrigens von ihrer Tochter, vor
genau zwanzig Jahren.

Jetzt entdecken: shop.zeit.de/boie 040/32 80-101
Bestell-Nr. 33182 | Autorin: Verena Hoenig | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg

»Papa hat vorgelesen,
und ich hab mich
kaputtgelacht«
Charlotte, 7 Jahre

Fünf der schönsten
Boie-Geschichten:


  1. Der kleine Ritter Trenk

  2. Seeräuber-Moses

  3. Wir Kinder aus dem Möwenweg

  4. Das Schönste von Lena
    und King-Kong

  5. Vom Fuchs, der ein Reh sein wollte


25597_ZT-ZD_Boie_Advertorial-ADV_25802660_X4_ONP26 3 20.02.20 14:24
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