Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

Passt nicht


Wirklichkeit und
politische Öffentlichkeit
entfernen sich
voneinander. Politik wird
immer öfter nur
simuliert
VON BERND ULRICH

P


olitik, auch demokratische,
dient in letzter Instanz dazu,
den Bürgerkrieg zu verhindern,
es nicht zuzulassen, dass die
Menschen aufeinander losge­
hen. Darüber wird üblicherwei­
se nicht gesprochen – aus guten
Gründen, denn schon das öffentliche Reden
über ein mögliches Ausrasten füttert die Ener­
gien, die dahin führen. Man sieht zurzeit in den
USA, was es bedeutet, wenn die Mitglieder ei­
ner Gesellschaft sich nur noch davon abhalten
können, aufeinander loszugehen, indem sie ein­
an der immerzu direkt davor warnen. Der Firnis
wird durchscheinend.
In einer leidlich funktionierenden Demo­
kratie wie der deutschen wurde der Bürgerkrieg
bislang viel weiter vorn verhindert, nicht erst
da, wo sich unverhandelbare Identitäten gebil­
det und unversöhnliche Lager formiert haben,
sondern bereits da, wo der Ausgleich bloß fi­
nanzieller Interessen oder konkurrierender Ver­
wöhntheiten zur Debatte steht. Diese Vornever­
teidigung der Demokratie setzt indes etwas vo­
raus: dass nämlich die Politik den Menschen
nicht mehr Probleme zumutet, als das Volk ver­
kraften kann oder mag – aber auch nicht so
wenig, dass zu viele Probleme übrig bleiben, die
sich dann später als Krise unangenehm bemerk­
bar machen. Realität wird also auf ein demo­
kratisch bekömmliches Maß gebracht, was stets
einschließt, dass ein beträchtlicher Teil der rea­
len Anforderungen an eine Gesellschaft in die
Zukunft verschoben wird. Das ist die banale
Antwort auf die Frage, warum Gesellschaften
außerhalb von Kriegszeiten selten mehr Proble­
me haben, als sie verarbeiten können: Verschie­
ben. Sowohl Helmut Kohl wie auch Angela
Merkel wurde oft vorgeworfen, sie hätten Pro­
bleme »ausgesessen«, was stimmt, aber eben
auch zu ihren Kanzler­Aufgaben gehörte.
Doch bei allem Verständnis für das Aussit­
zen und die notwendige Selbstbezüglichkeit po­
litischer Prozesse – neuerdings scheint etwas
gründlich aus erwähnter Balance geraten zu
sein. Wir erleben einen bedenklichen, vielleicht
schon gefährlichen Realitätsverlust der Politik
sowie eine Moralisierung und Virtualisierung
der politischen Debatte. Warum ist das so?
Offenbar wachsen den westlichen Gesell­
schaften die Probleme über den Kopf. Sie kön­
nen die politische, militärische und wirt schaft­
liche Ordnung der Welt nicht mehr steuern.
Die Digitalisierung hat das gesamte gesellschaft­
liche Leben verändert. Und die Krise im
Mensch­Natur­Verhältnis ist in eine neue Phase
getreten, in der die ökologischen Probleme sich
verschlimmern: Alles, was der Zukunft überant­
wortet wird, kommt bereits morgen als ver­
schärfte Gegenwart zurück, alles, was man ins
Meer kippt, sammelt sich kurz drauf als Mikro­
plastik in den Körpern. Verschieben und Ver­
schärfen fallen also in eins, der kumulative
Charakter ökologischer Prozesse stößt sich mit
dem prokrastinierenden Bedürfnis demokra­
tischer Politik.
Post­hegemonial, post­fossil und in Deutschland
noch post­Merkel – all das zusammen überfordert
diese Gesellschaft intellektuell, emotional und
politisch. Und was tut sie? Erst mal ausweichen.
Die klügeren unter den deutschen Spitzen­
politikerinnen und ­politikern spüren, dass ihre
Instrumente nicht mehr auf die Lage passen,
und leben in zwei Welten. Angela Merkel weiß
als Physikerin, die sich über die Klimakrise ein­
gehend informieren ließ, dass sie klimapolitisch
Mist gebaut hat; doch denkt die Politikerin
Merkel zugleich, dass genau dieser Mist, das
Verschleppen zu großer Aufgaben, Dünger für
die Demokratie ist. Wolfgang Schäuble liest all
die neuen Bücher, die den Westen grundsätz­
lich infrage stellen, doch lässt sich im Gespräch
darüber genau markieren, wo ihm zur Umsetz­
barkeit der dort gewonnenen Einsichten nicht
wirklich etwas einfällt, dann nämlich, wenn er
vom Argument zur Anekdote wechselt. Peter
Altmaier, der in seiner Spätphase zum Sach­
walter einer Normalität geworden ist, die es so
nicht mehr gibt, liest privat exzessiv Bismarck­
Biografien: Traumreisen in eine Welt, in der
Machtpolitik noch geholfen hat. Selbst Olaf
Scholz, der die kollabierende Kontinuität nahe­
zu perfekt verkörpert, lädt sich die Disruption
in Gestalt von Intellektuellen zum Gespräch in
sein Ministerium – nur um hinterher noch ak­
kurater darauf zu achten, dass bloß nichts da­
von Eingang in seine Politik findet. In solchen
Doppelwelten zeigt sich, dass wir in zwei Epo­
chen gleichzeitig leben.
Großbritannien hat einen eigenen Weg ge­
funden, damit fertigzuwerden, dass es mit sei­
nen Problemen – Verlust an internationalem
Einfluss, dysfunktionales Königshaus, Krise des
Gesundheitssystems, Kluft zwischen Arm und
Reich, ausufernder Finanzsektor – nicht mehr
fertigwird. Um zu verdrängen, was man alles
nicht lösen kann, schuf sich das Land ein Pro­
blem, das es lösen kann: den Brexit, der im
besten Fall ohne Folgen bleibt, was wiederum
bedeutet, dass er auch kein einziges reales Pro­
blem lösen wird.
In Deutschland verläuft die Fiktionalisie­
rung des Politischen weniger mustergültig,
wenngleich nicht weniger wirkungsvoll.


Da ist zunächst mal die Regierungspartei
SPD, die nun schon seit Jahren in den Kulissen
ihrer eigenen Geschichte herumstolpert. Regel­
mäßig und mit wachsendem Tamtam wird die
Erneuerung der Partei verkündet und insze­
niert – nur damit hinterher mit neuem Personal
alles so weiterläuft wie bisher. Zuletzt hat diese
Virtualisierung sozialdemokratischer Selbstbe­
schäftigung einen Grad angenommen, den man
nicht für möglich gehalten hätte. Erstmals in
der Parteiengeschichte wurde ein linker Flügel
enthauptet, indem man ihn an die Macht
brachte. Und nun sitzen die beiden Parteivor­
sitzenden im diskursiven Tobe­Raum der Re­
publik, sagen täglich Sachen, aber keiner hört
hin. Hätte die SPD noch mehr Substanz und
Gewicht, wären solche Manöver gar nicht mög­
lich, so etwas funktioniert nur im politisch luft­
leeren Raum. Handlungen ohne Wirkungen –

das ist ein Grundmuster des gegenwärtigen
Realitätsverlustes.
Ja Gott, die SPD, könnte man nun sagen,
doch profiliert sich auch die Vorsitzende der
CDU und Verteidigungsministerin gern mit
den Mitteln reiner Symbolik. Dass sie sich mit
dritten Toiletten beschäftigt, die es in der Wirk­
lichkeit kaum gibt, geschenkt. Doch auch die
von Annegret Kramp­Karrenbauer geforderte
allgemeine Dienst­ oder Wehrpflicht hat nicht
die geringste Chance, je realisiert zu werden.
Mariam Lau nannte derlei Spielchen mal tref­
fend »Fake­ Kon ser va tis mus«. Er dient nur als
konservatives Emoji, anstatt auf die Verände­
rung der Wirklichkeit zu zielen. Ähnlich ver­
hielt es sich mit der Schutzzone in Syrien, die
Kramp­Karrenbauer vergangenen Oktober vor­
schlug: keine Aussicht auf Erfolg, nur ein leeres
Zeichen. Vorschläge, die keine Veränderung
wollen, sondern nur mediale Wirkung – das ist
ein weiteres Muster von Post­Politik.
Das letztgenannte Beispiel verweist auf eine
weitere wichtige Quelle für die Virtualisierung
deutscher Außenpolitik. Dieses Land leistet

sich eine in weiten Teilen dysfunktionale Ar­
mee zum Preis einer funktionierenden. Die
Folge: Große Teile der deutschen Außenpolitik
sind nur mehr angewandtes Feuilleton. Zwar
gehört es zum Wesen der Diplomatie, dass sie
allzu manifeste Wirklichkeiten in abstraktes
Vertragswerk überführt und Konflikte so be­
friedet, Diplomatie ist also gewissermaßen die
Verwandlung von Blut in Tinte. Doch funk­
tioniert das für gewöhnlich nur unter einer
Voraussetzung: wenn man auch anders kann.
Politik ohne manifeste Basis, ein drittes Grund­
muster des Realitätsverlustes.
Die Entwirklichung von Politik wäre kaum
möglich, wenn die Medien sich dem hart wi­
dersetzen würden – oft ist das Gegenteil der
Fall. Beginnen wir mit dem Verschlucken von
Wirklichkeit durch journalistische Routine. Im
vergangenen November hat der französische

Präsident Emmanuel Macron in einem Inter­
view mit dem Economist die Nato als »hirntot«
bezeichnet, eine Bemerkung, für die er sich
umgehend eine Rüge der Bundeskanzlerin ein­
fing. Nur, er hat natürlich recht. Seit Jahren
verschleppt das Bündnis seine substanziellen
Probleme – Abschied der USA aus den euro­
päischen Nachbarschaftskonflikten wie bei­
spielsweise dem in Syrien, Verteidigungs­ und
Interventionsunfähigkeit der Europäer, Türkei
als Mitglied und zugleich Gegner des Bündnis­
ses; seit Jahren wird darum die Nato mehr und
mehr zu einer Attrappe, übrig geblieben aus
dem vergangenen Jahrhundert. Dass sich da so
wenig bewegt, liegt nicht zuletzt an den Deut­
schen mit ihrer schwachen Armee (siehe oben).
Kurz nachdem Macron seine Kritik geäußert
hatte, stand ein Treffen der Nato­Außenminis­
ter an. Die Gelegenheit nutzte Heiko Maas, um
dort stolz seine Antwort auf Macrons Wutanfall
zu präsentieren: die Gründung einer Arbeits­
gruppe. Das wiederum brachte ihm ein Inter­
view mit den Tagesthemen ein. Und Ingo Zam­
peroni befragte in der Sendung den deutschen

Außenminister nach dessen Vorstoß, so als
handele es sich um wirkliche Politik und nicht
um deren Simulation. Journalistische Ratifika­
tion von virtueller Politik – viertes Muster.
Doch hat der Journalismus durchaus seine
eigenen Probleme mit der Wirklichkeit. Weil
Deutschland über lange Jahre ein recht gut
funktionierendes Land war, in dem die sub­
stanziellen Probleme selten überhandnahmen,
konnte sich der Politik und Politiker beobach­
tende Journalismus auf die Faktoren Macht,
Ideologie und Psychologie konzentrieren. Für
die sachliche Substanz mussten wir Politikjour­
nalisten uns nur insoweit interessieren, als sie
Spiegel für die anderen drei Faktoren war. Der
Rest blieb für die Spezialistinnen und Spezialis­
ten. Bei der Klimapolitik etwa führte das dazu,
dass das Versagen der Bundesregierung vor den
selbst gesetzten Klimazielen nur eben notifiziert
wurde, ohne dass der politische Journalismus
die historische Tragweite erkannt hätte.
Offenbar gibt es einen medialen Hang, die
von der Politik vorgegebenen Themen und die
von ihr vorgeschlagenen Lösungen als unge­
fähre Richtschnur zu akzeptieren. Selbstredend
wollen Journalisten immer ein bisschen mehr,
auch wollen sie es immer ein wenig schneller.
Aber ganz anders – das nun nicht. Dieses Defi­
zit erweist sich im Epochenbruch, also beim
Heraufziehen von so viel ganz anderem, als
Handicap. Die Medien sehen sich als Mittler
zwischen Politik und Bürgern, nicht so sehr als
Mittler zwischen Politik und Bürgern auf der
einen – und materieller Wirklichkeit auf der
anderen Seite. Fünftes Muster.
Stattdessen wuchern die Ersatzdebatten.
Über eine Bahnfahrt von Greta Thunberg, über
eine obskure »Umweltsau« fortgeschrittenen
Alters. Es geht dabei um alles Mögliche, Manie­
ren, Moral, Doppelmoral, nicht aber um die
brandgefährliche Erhitzung der Erdatmosphäre
oder auch nur um Politik.
Dennoch mischen sich regierende Politike­
rinnen und Politiker in solche Scheindebatten
ein, statt in der Zeit zu regieren. So tadelte der
Ministerpräsident von NRW, Armin Laschet,
die Erfinder jener »Umweltsau« ganz offiziell,
während die Bundesfamilienministerin Franzis­
ka Giffey sich Greta Thunbergs Reiseroute vor­
nahm und die Öffentlichkeit wissen ließ, die
Aktivistin betreibe wohl auch »Selbstinszenie­
rung«. Echte Regierungspolitiker ratifizieren
scheinpolitische Debatten – sechstes Grund­
muster des Realitätsverlustes.
Der Mechanismus funktioniert zuverlässig.
Grundrente für alle fordern, aber ’ne Eigen­
tumswohnung in Friedrichshain, höheren Min­
destlohn fordern, aber bei Amazon bestellen –
stets wird das materielle Thema (CO₂­Emis­
sionen, Rentenzahlungen, Mindestlohn) zu­
gunsten eines immateriellen Themas (eigent­
lich immer Moral) verdrängt. In der Regel
handelt es sich dabei um die Kritik an abgeho­
benen urbanen Eliten durch nicht minder ab­
gehobene urbane Eliten. Im Namen der Land­
bevölkerung oder des Arbeiters wird ein Stra­
ßenkampf ausgefochten, in dem der Arbeiter
als Deus absconditus firmiert, nicht aber als
eingreifendes Subjekt. Siebtes Muster: Anru­
fung abwesender Echt­Menschen.
Deutschland ist nicht dabei, verrückt zu
werden, noch wird auch ordentliche Politik
gemacht, Wirklichkeit wird nicht rundheraus
ignoriert, sondern bloß wattiert, nicht kom­
plett ausgeblendet, nur überstrahlt. Doch im
Effekt türmen sich die substanziellen Proble­
me, und die Bereitschaft nimmt zu, in Debat­
ten um der Debatten willen und in Symbol­
politik auszuweichen. Möglicherweise leben
wir in einer Phase politischer Stagflation: wenig
bewegende Politik bei zugleich hoher politi­
scher Erregung. Doch kann eine Gesellschaft
nicht nur an zu viel substanzieller Politik irre
werden, sondern auch an zu wenig. Wie also
könnten die Grundmuster des Realitätsverlus­
tes aufgebrochen werden?
Vonseiten der Politik ist das einfach zu be­
schreiben, wenngleich nicht einfach zu ma­
chen: eine funktionierende Bundeswehr für
die Außenpolitik, eingehaltene Ziele bei der
Klimapolitik, Erneuerung, die etwas erneuert,
bei der SPD, Konservatismus als Position,
nicht als Posieren, bei der Union et cetera.
Kurzum: mehr Realismus in die Realpolitik.
Vornehmen könnte man es sich zumindest
einmal. Außerdem sollte sich die Politik viel­
leicht eine gewisse Askese bei Ersatzdiskussio­
nen auferlegen.
Und die öffentliche Debatte? Der franzö­
sische Intellektuelle Édouard Louis empfiehlt
gegen den systematischen Realitätsverlust eine
Art Hermeneutik der Wut: »Die Wut ist ein
mächtiges erkenntnistheoretisches Instrument,
um die Welt zu sehen«, sagt er. Ob es wirklich
Wut braucht, sei dahingestellt. Aber ein viru­
lentes Außen braucht man schon, eine gewisse
Parteilichkeit für die Wirklichkeit, mehr Arbeit
an der Sache, Offenheit für das ganz andere,
keinen Als­ob­Journalismus gegenüber Als­ob­
Politik. In den vielen komplexen und ohne
Zweifel wichtigen Debatten über den Journalis­
mus geraten manchmal seine beiden einfachs­
ten Aufgaben aus dem Blick: Missstände auf­
decken und anprangern.

Debattiert
wird höchst erregt,
die Politik, die
wirklich etwas bewegt,
muss man jedoch
mit der
Lupe suchen

Fotoillustration: Matt Chase


  1. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6 POLITIK 3

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