Handelsblatt - 17.02.2020

(Ann) #1
„Die schwarz-rote Bundesregierung hat zwar
das Motto ‚Ein neuer Aufbruch für Europa‘
über ihren Koalitionsvertrag geschrieben,
davon hat man bisher aber nicht so viel
gemerkt.“
Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen,
vermisst bei der Europapolitik von Kanzlerin Angela Merkel und
der Bundesregierung Mut, Dynamik und Geschwindigkeit.

Worte des Tages


Haushalt


Die richtigen


Prioritäten


Z


u Beginn der Haushaltspla-
nung rechnen sich Finanzmi-
nister gern arm, um allzu vie-
le Wünsche ihrer Kabinettskollegen
abzuwehren. Doch in diesem Jahr
funktioniert der Trick für Olaf
Scholz nur begrenzt. Zu sehr ist al-
len noch der überraschend hohe
Etatüberschuss aus dem vergange-
nen Jahr in Erinnerung: 13,5 Milliar-
den Euro betrug er. Ein Rekord.
Und so wählt Scholz einen ande-
ren Weg: Er reserviert einen Groß-
teil des zusätzlichen Spielraums für
einen bestimmten Zweck: In den
kommenden vier Jahren möchte er
die Investitionsausgaben um insge-
samt 12,3 Milliarden Euro steigern.
Für weitere Wünsche aus der Koali-
tion bliebe damit wenig übrig.
Dass Scholz Investitionen Vor-
rang gibt, ist richtig. Dank der über-
raschend guten Haushaltslage hat
er schon für das laufende Jahr rund
43 Milliarden Euro an Investitionen
eingeplant. Ein Absenken der ge-
planten Investitionen in den Folge-
jahren wäre ein fatales Signal gewe-
sen. Schließlich klagt die Politik seit
Jahren über zu geringe Planungs-
und Baukapazitäten. Das Geld für
Investitionen fließt deshalb nur
langsam ab. Wenn aber die Kapazi-
täten erhöht werden sollen, dann
braucht es Verlässlichkeit.
Aber wahr ist auch, dass Scholz
mit der Vorfahrt für Investitionen
gleichzeitig ein Stoppschild für die
von der Union geforderte Steuer-
senkung aufstellen will. Das über-
zeugt nicht. Es ist auffällig, dass der
Hinweis auf die dringend notwendi-
gen Investitionen vor allem immer
dann kommt, wenn es darum geht,
Steuersenkungen abzuwehren. Als
die vielen anderen kostspieligen
Projekte der Koalition wie Renten-
geschenke oder das Baukindergeld
auf den Weg gebracht wurden, hat
kaum jemand laut darauf hingewie-
sen, dass diese Milliarden für Inves-
titionen sinnvoller eingesetzt wä-
ren, auch Kassenwart Scholz nicht.
Das Aufstellen eines Haushalts ist
nicht nur Mathematik, sondern vor
allem Politik. Wenn die Große Koali-
tion den Willen hat, dann kann sie
beides: die Investitionen erhöhen
und die Steuern senken. Es ist eine
Frage der Prioritäten.


Höhere Investitionen und eine
Steuersenkung müssen kein
Widerspruch sein, meint
Jan Hildebrand.

Der Autor ist stv. Leiter des
Hauptstadtbüros.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


W


estlessness, mit diesem Kunstbe-
griff versuchte die Münchner Si-
cherheitskonferenz am Wochen-
ende, die Krise des Westens zu
beschreiben. Und die Vertreter
der westlichen Wertegemeinschaft, die mit ihrem
Eintreten für Freiheit und Demokratie in den ver-
gangenen 70 Jahren den Großteil der Welt geprägt
haben, lieferten den Beweis für die triste Diagnose.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnte,
dass die westliche, liberale Ordnung durch eine „de-
struktive Dynamik in der Weltpolitik“ gefährdet sei,
und machte dafür die „Konkurrenz der großen
Mächte“ verantwortlich. Damit meinte er durchaus
nicht nur China und Russland, sondern gerade auch
die Trump-Regierung in den USA.
Der mit angesprochene US-Außenminister Mike
Pompeo ignorierte den Verfall der westlichen Werte-
gemeinschaft einfach und proklamierte: „Der Wes-
ten gewinnt.“ Kurz danach wurde der Außenminister
von seinem eigenen Kabinettskollegen, dem ameri-
kanischen Verteidigungsminister Mark Esper, wider-
legt, der wie einst Kurt Georg Kiesinger unablässig
vor der Bedrohung aus „China, China, China“ warn-
te. Das offenbart die ganze Widersprüchlichkeit der
US-Außenpolitik.
Dass weder Pompeo noch Esper bei ihrer durch-
aus berechtigten Kritik an China ein einziges Wort
des Mitgefühls für die mit der Corona-Epidemie
kämpfenden Chinesen verloren, zeigt auf traurige
Weise, wie weit sich die aktuelle US-Regierung von
Ronald Reagans Amerika entfernt hat. Der frühere
US-Präsident hatte sein Land noch als „leuchtende
Stadt auf einem Hügel“ beschrieben. Im Moment ist
es in Washington jedoch so dunkel geworden, dass
die Welt friert. Der amerikanische Literaturhistori-
ker Stephen Greenblatt musste in München sogar
die Tyrannen aus Shakespeares Werken bemühen,
um den Militärs und Politikern Trumps düstere
Machtfantasien zu erklären.
Amerika will nicht mehr den Preis für eine globale
Führungsrolle bezahlen. Das gilt finanziell genauso
wie militärisch und politisch. Zugleich beharrt Wa-
shington jedoch unverändert auf seine Dominanz als
unangefochtene Weltmacht. Der offene Streit des
Westens über den Umgang mit chinesischer Spitzen-
technologie (5G) ist dafür ebenso ein Beispiel wie
der von Trump geschürte Handelskrieg. Dieser Wi-
derspruch zwischen „America first“ und Amerikas
Rückzug von der Weltbühne konnte auch bei der Si-
cherheitskonferenz nicht aufgelöst werden.
Der böse Bube in München war jedoch China. Das
aufstrebende Reich der Mitte rutschte damit in die

Rolle, die anfangs die Sowjetunion und später dann
oft Russland bei der Tagung innehatten. Die chinesi-
schen Vertreter reagierten darauf mit Unverständnis
und Unmut. Dass sich der chinesische Außenminis-
ter Wang Yi zu der Behauptung verstieg, seine 1,
Milliarden Landsleute stünden geschlossen hinter
der kommunistischen Führung, zeigt jedoch, wie
weit nicht nur in Washington, sondern auch in Pe-
king Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.
Für Europa sollte dieser Realitätsverlust der bei-
den Supermächte nicht nur Grund zur Sorge, son-
dern auch Anlass sein, selbst eine Hauptrolle auf der
Weltbühne zu beanspruchen. Liberalität, Toleranz,
Offenheit und Demokratie – diese westlichen Werte
werden heute vor allem mit Europa verbunden. Vor
allem aber ist es der Glaube an die Stärke des Rechts
statt an das Recht des Stärkeren, der die Europäi-
sche Union unverändert zu einem Magneten für
Menschen aus aller Welt macht. Dass Europa den-
noch meist unter seinen Möglichkeiten bleibt, den
Lauf der Welt in seinem Sinne zu beeinflussen, hat
viel mit der Uneinigkeit der Europäer zu tun, die ih-
re Macht immer wieder konterkariert.
Europas Schwäche ist nicht nur, aber doch auch
die Schwäche Deutschlands. Dies wurde in München
erneut offensichtlich. Dass Bundespräsident Stein-
meier mit seiner Rede bei der Sicherheitskonferenz
mehr Mut und Weitsicht zeigte als alle deutschen Re-
gierungsvertreter zusammen, sagt viel über das
Macht- und Führungsvakuum in Berlin. Zumal Stein-
meiers Forderung, in der Mitte Europas dürfe kein
ängstliches Herz schlagen, nicht wirklich neu war. Er
selbst hatte als Außenminister zusammen mit dem
damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck be-
reits 2014 mehr deutsche Verantwortung für die
Welt angemahnt. Sechs Jahre später ist die deutsche
Debatte über diese Einsicht kaum hinausgekommen.
So war es dann in München der französische Prä-
sident Emmanuel Macron, der auf ein Europa drang,
das weltpolitisch handlungsfähig wird, indem au-
ßenpolitische Entscheidungen in der EU nicht mehr
nur einstimmig getroffen werden. Ein Europa, das
technologisch souverän wird, indem es massiv und
gemeinsam in Zukunftstechnologien investiert. Und
ein Europa, das auch über seine eigene nukleare
Verteidigung nachdenken muss. Steinmeier mahnte,
Macron redete Klartext, der Rest ist immer noch
sprach- und vor allem ideenlos. Das ist aus deut-
scher Sicht die traurige Bilanz von München.

Münchner Sicherheitskonferenz


Im Westen


viel Altes


China steigt auf,
Amerika zieht
sich zurück, und
Europa weiß
immer noch nicht,
wie es darauf
reagieren soll.
Auch, weil
Deutschland
sprachlos ist,
bilanziert
Torsten Riecke.

Für Europa


sollte der


Realitätsverlust


der beiden


Super mächte


Anlass sein,


selbst eine


Haupt rolle auf


der Weltbühne


zu bean -


spruchen.


Der Autor ist International Correspondent.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


MONTAG, 17. FEBRUAR 2020, NR. 33
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