Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
von nico fried

A


ngela Merkel ist stufenweise vorge-
gangen. Am Anfang ließ sie andere
sprechen, vor allem Jens Spahn, den
Gesundheitsminister. Er gab am Mitt-
woch, den 4. März, im Bundestag eine Re-
gierungserklärung zur Corona-Epidemie
ab. Merkel saß auf der Regierungsbank
und hörte zu. 240 Infizierte waren damals
in Deutschland gemeldet. Fünf Tage spä-
ter hielt Merkel eine Rede auf einer Wirt-
schaftskonferenz in Berlin. Da widmete sie
der Corona-Krise erstmals eine längere
Passage, „ein paar grundsätzliche Bemer-
kungen“, wie sie das nannte. Zwei Tage spä-
ter dann eine gemeinsame Pressekonfe-
renz mit Spahn.
In der Folge nahm die Dichte ihrer Auf-
tritte deutlich zu, exponentiell, wie die
Zahl der Infektionen: eine Pressekonfe-
renz mit den Ministerpräsidenten Markus
Söder und Peter Tschentscher am Donners-
tag, am Wochenende ein Podcast auf der In-
ternetseite der Kanzlerin, dann Pressekon-
ferenzen nur mit Merkel am Montag und
am Dienstag. Am Mittwochabend sprach
die Kanzlerin dann erstmals im Fernsehen
direkt zu den Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland. Es war das gleiche Setting
wie bei der traditionellen Neujahrsanspra-
che, die Merkel bereits 15 Mal gehalten hat:
Kanzlerin an Tisch, Bundestag im Hinter-
grund – aber diesmal bei Helligkeit, ohne
Weihnachtskerzen und auch sonst unter
äußerst widrigen Umständen.
In der Nacht zu Mittwoch lag die Zahl
der Infektionen bei 8198, das 34-Fache
von vor zwei Wochen, als Spahn im Bundes-
tag auftrat. Dass Merkel sich überhaupt zu
einer Fernsehansprache entschloss, ist al-
lein schon ein Signal für den Ernst der La-
ge. Die Kanzlerin, die seit mehr als 14 Jah-
ren im Amt ist, hat das Instrument, sich di-
rekt ans Volk zu wenden, deutlich seltener
genutzt als die meisten ihrer Vorgänger –
besser gesagt: noch nie. Gleich zu Beginn
ihrer Ansprache am Mittwochabend
sprach sie selbst von einem „ungewöhnli-
chen Weg“, auf dem sie sich an die Bürge-
rinnen und Bürger wende.
Merkels Abstinenz mag daran liegen,
dass die besondere Bedeutung eines sol-
chen Auftritts Merkels nüchternem Cha-
rakter zuwiderläuft. Für die großen Erwar-
tungen fehlt ihr die Leidenschaft für große
Worte, wie sie zum Beispiel dem französi-
schen Präsidenten Emmanuel Macron zu
eigen ist. Wie Macron gleich mehrere Male
von einem „Krieg gegen das Virus“ zu spre-
chen, ist ihr fremd.
Merkel hat durchaus schon prägnante
Sätze geprägt: „Ihre Einlagen sind sicher“,
sagte sie in der Finanzkrise 2008; „Sie ken-
nen mich“ im Wahlkampf 2013; „Wir schaf-
fen das“ in der Flüchtlingskrise 2015. Eine
ganze Rede aber hat sie bislang nicht im
kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Pa-
thos liegt ihr sowieso nicht, die Kanzlerin
erklärt lieber. Das wiederum kann dem
Fernsehpublikum schnell langweilig wer-
den. Für die Ansprache am Mittwoch aber
wählte Merkel eine Mischung aus Emotion
und Erklärung. Sie erläuterte die Aufga-
ben des Staates, aber sie nahm auch die Zu-
schauer in die Verantwortung. Und das in
unmissverständlichen Worten: „Es ist
ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“
In gewisser Weise stellte sich Merkel da-
mit in die Tradition eines ihrer großen Vor-
gänger. Konrad Adenauer, dessen Bild hin-
ter Merkels Schreibtisch im Kanzleramt
hängt, nutzte das zu seiner Zeit noch neue
Medium Fernsehen gerne. Am 16. Januar
1960 wandte er sich ans Publikum, nach-
dem eine Kölner Synagoge an Heiligabend
geschändet worden war. In der Folge hatte
es weitere antisemitische Vorfälle gege-
ben, die, wie es in einer Dokumentation
der Adenauer-Stiftung heißt, teilweise von
der SED gesteuert waren, um die Bundesre-
publik zu desavouieren.
Den Angriff auf die Synagoge nannte
Adenauer damals „eine Schande und ein
Verbrechen“. Viele der anderen Vorfälle
aber seien „in den allermeisten Fällen Fle-
geleien ohne politische Grundlage“ gewe-
sen. Den Juden in Deutschland versicherte
Adenauer: „Dieser Staat steht mit seiner
ganzen Macht hinter Ihnen.“ Dann aber
nahm er auch die Bürger in die Pflicht,
wenn auch mit einem bemerkenswerten


Appell: „Wenn ihr irgendwo einen Lümmel
erwischt, vollzieht die Strafe auf der Stelle
und gebt ihm eine Tracht Prügel. Das ist
die Strafe, die er verdient.“
Adenauer sprach noch weitere Male zu
den Deutschen via TV, so im Januar 1963
aus Anlass des Vertrages über die deutsch-
französische Zusammenarbeit und ein hal-
bes Jahr später vor dem Besuch von US-
Präsident John F. Kennedy in Berlin. Willy
Brandt, der erste sozialdemokratische
Kanzler, nahm ebenfalls ein außenpoliti-
sches Ereignis zum Anlass für eine Fern-
sehansprache. Am 7. Dezember 1970 erläu-
terte Brandt seinen Mitbürgern vor der Ab-
reise die Unterzeichnung des Warschauer
Vertrages über die Beziehungen mit Polen.
Der Vertrag solle „eine Brücke schlagen
zwischen den beiden Staaten und den bei-
den Völkern“, so Brandt. Mit Blick auf die
Anerkennung von Oder und Neiße als pol-
nischer Westgrenze sagte er, der Vertrag ge-
be „nichts preis, was nicht längst verspielt
worden ist“.
Von Brandts Nachfolger Helmut
Schmidt erlangte eine Fernsehansprache
besonderen historischen Rang. Nachdem
am 5. September 1977 der damalige Arbeit-
geberpräsident Hanns Martin Schleyer
von RAF-Terroristen entführt und seine Be-

gleiter ermordet worden waren, wandte
sich Schmidt nur wenige Stunden später
an das Fernsehpublikum. „Vier Tote, Bür-
ger unseres Staates, verlängern seit heute
Abend die Reihe der Opfer von blindwüti-

gen Terroristen, die – wir waren uns dar-
über stets im Klaren – noch nicht am Ende
ihrer kriminellen Energie sind.“ Der Kanz-
ler sprach die Terroristen auch direkt an:
„Sie mögen in diesem Augenblick ein tri-

umphierendes Machtgefühl empfinden.
Aber sie sollen sich nicht täuschen: Der Ter-
rorismus hat auf Dauer keine Chance.“
Fast 40 Jahre später, nach dem islamisti-
schen Anschlag auf einen Weihnachts-
markt auf dem Berliner Breitscheidplatz
am 19. Dezember 2016, wurden Mitschnit-
te der Ansprache Schmidts mehr als
200000 Mal auf Youtube aufgerufen und
in sozialen Medien verbreitet. Seine marki-
gen Worte galten offenbar vielen Leuten
als Gegenentwurf zu Merkels Reaktion auf
den Anschlag.
Allerdings wurde eine wichtige Passage
aus Schmidts Ansprache bisweilen überse-
hen: „Dabei müssen wir alle, trotz unseres
Zornes, kühlen Kopf behalten.“ Merkel
selbst würdigte am 23. November 2015, in
ihrer Rede auf der Trauerfeier für Helmut
Schmidt, eine Eigenschaft ihres Vorgän-
gers, die sie selbst gerne für sich in An-
spruch nimmt: „Bei allem Willen zur Tat –
er war davon überzeugt, dass eine Entschei-
dung nur dann reif zu fällen war, wenn sie
vorher durchdacht und mit Vernunft
durchdrungen war. Denken und Handeln
gehörten für ihn untrennbar zusammen.“
Helmut Kohl hatte weitaus erfreuliche-
re Gründe, sich auf dem Bildschirm zu zei-
gen als sein Vorgänger von der SPD. Der

sechste Kanzler der Bundesrepublik
sprach zur Einführung der Währungsuni-
on am 1. Juli 1990. Drei Monate später trat
er erneut auf und sagte am 2. Oktober, dem
Vorabend der Wiedervereinigung: „Liebe
Landsleute, in wenigen Stunden wird ein
Traum Wirklichkeit.“ Dreieinhalb Monate
später berief Kohl eine junge Physikerin
aus der ehemaligen DDR in sein erstes
gesamtdeutsches Kabinett.
Gerhard Schröder sprach zweimal im
Fernsehen, beide Male zu Beginn einer mi-
litärischen Auseinandersetzung. Am Koso-
vo-Krieg beteiligte sich Deutschland – nur
wenige Monate nach der Regierungsüber-
nahme einer rot-grünen Koalition. Dem
zweiten, dem Krieg gegen den Irak, verwei-
gerten sich Schröder und sein Außenminis-
ter Joschka Fischer 2003, eine Haltung, die
im Jahr davor nach einer Aufholjagd in den
letzten Wochen zu ihrer überraschenden
Wiederwahl geführt hatte.
Am Abend der ersten Luftschläge gegen
Jugoslawien warf Schröder am 24. März
1999 Präsident Slobodan Milosevic „einen
erbarmungslosen Krieg“ gegen das Koso-
vo vor. Die Staatengemeinschaft könne der
menschlichen Tragödie nicht tatenlos zuse-
hen. „Wir führen keinen Krieg, aber wir
sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im
Kosovo auch mit militärischen Mitteln
durchzusetzen“, sagte Schröder.

Am 20. März 2003, nachdem die USA
erste Ziele im Irak bombardiert hatten, be-
gann Schröder seine Ansprache mit den
Worten: „Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mit-
bürger, wir haben versucht, den Krieg zu
verhindern. Bis zur letzten Minute.“ Die da-
malige Vorsitzende der Unionsfraktion
und CDU-Vorsitzende Angela Merkel hatte
dagegen noch am Tag zuvor im Bundestag
Schröder hart kritisiert: „Sie haben mit Ih-
rer Haltung, die Einigkeit nicht befördert
hat, den Krieg im Irak wahrscheinlicher
und nicht unwahrscheinlicher gemacht.“
Schröders Fernsehansprache war die
letzte, ehe Angela Merkel fast auf den Tag
genau 17 Jahre später ihre erste Fernseh-
sprache aus Anlass der Corona-Krise mit
den Worten eröffnete: „Liebe Mitbürgerin-
nen und Mitbürger, das Coronavirus verän-
dert zurzeit das Leben in unserem Land
dramatisch.“ Merkel mag auf diesen Auf-
tritt auch so lange gewartet haben, um die
Emotion, die sie selbst nicht gerne demons-
triert, quasi bei ihrem Publikum zu leihen.
Dazu holt sie die Zuschauer bei ihrem aktu-
ellen Alltag ab: „Millionen von Ihnen kön-
nen nicht zur Arbeit, Ihre Kinder können
nicht zur Schule oder in die Kita, Theater
und Kinos und Geschäfte sind geschlos-
sen, und, was vielleicht das Schwerste ist:
uns allen fehlen die Begegnungen, die
sonst selbstverständlich sind.“
Ihr Verständnis für eine „Situation vol-
ler Fragen und voller Sorgen“ zeigt die
Kanzlerin den Zuschauern auch, um umge-
kehrt um Verständnis für die Politik zu wer-
ben: Sie wolle ihnen sagen, „was mich als
Bundeskanzlerin und alle meine Kollegen
in der Bundesregierung in dieser Situation
leitet“. Das gehöre zu einer offenen Demo-
kratie, so Merkel: „dass wir die politischen
Entscheidungen auch transparent machen
und erläutern. Dass wir unser Handeln
möglichst gut begründen.“
Im Kern bekräftigt die Kanzlerin unter
Berufung auf die Wissenschaft die Strate-
gie, die Ausbreitung des Virus zu verlangsa-
men. Dazu gehöre aber auch, dass die Bür-
gerinnen und Bürger mitmachten. Und so
liegt der größte Unterschied dieser Anspra-
che zu allen anderen nicht nur in der Unge-
wissheit des Ausgangs. Keiner ihrer Vor-
gänger musste das Zusammenwirken von
Gesellschaft und Politik so sehr in den Vor-
dergrund stellen wie Merkel.

„Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, das
Coronavirus verändert zurzeit das Leben in
unserem Land dramatisch. Unsere Vorstel-
lung von Normalität, von öffentlichem Le-
ben, von sozialem Miteinander – all das wird
auf die Probe gestellt wie nie zuvor. (...) Ich
wende mich heute auf diesem ungewöhnli-
chen Weg an Sie, weil ich Ihnen sagen will,
was mich als Bundeskanzlerin und alle mei-
ne Kollegen in der Bundesregierung in dieser
Situation leitet. (...)
Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.
Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem
Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforde-
rung (...) mehr, bei der es so sehr auf unser ge-
meinsames solidarisches Handeln ankam.
(...) Ich weiß, wie hart die Schließungen, auf
die sich Bund und Länder geeinigt haben, in
unser Leben und auch unser demokratisches
Selbstverständnis eingreifen. (...) Für jeman-

den wie mich, für den Reise- und Bewegungs-
freiheit ein schwer erkämpftes Recht waren,
sind solche Einschränkungen nur in der abso-
luten Notwendigkeit zu rechtfertigen (...).
Sie sollten in einer Demokratie nie leichtfer-
tig und nur temporär beschlossen werden –
aber sie sind im Moment unverzichtbar, um
Leben zu retten. (...)
So wie unterschiedslos jeder von uns von
dem Virus betroffen sein kann, so muss jetzt
auch jede und jeder helfen. Zuallererst, in-
dem wir ernst nehmen, worum es heute
geht. Nicht in Panik verfallen, aber auch
nicht einen Moment denken, auf ihn oder sie
komme es doch nicht wirklich an. (...) Das ist,
was eine Epidemie uns zeigt: wie verwund-
bar wir alle sind. Aber damit eben auch: wie
wir durch gemeinsames Handeln uns schüt-
zen und gegenseitig stärken können.“
 Der gesamte Text: sz.de/merkelrede

Das große Register


Bundeskanzler halten nur selten Fernsehansprachen, in ihren Auftritten spiegeln sich historische Ereignisse
wie die deutsche Vereinigung. Nun greift auch Angela Merkel zu diesem Instrument – zum ersten Mal

Abstand halten, soziale Kontakte verrin-
gern – Angela Merkel und andere haben
das schon in den vergangenen Tagen im-
mer wieder angemahnt. Umso besser kön-
ne man die Ausbreitung des Virus brem-
sen, sagte die Kanzlerin. Sie hoffe, „dass es
ein gewisses Einsehen der Menschen gibt.“
Wie fruchten die Appelle? Ein Überblick.


Bis Anfang der Woche schien derNorden
Deutschlands noch das Zentrum der Unver-
nunft zu sein. In Hamburg drängelten sich
bei ungewohnt schönem Frühlingswetter
die Menschen in Eiscafés, die Spielplätze
im Stadtteil Eppendorf waren auch am
Montag gut besucht. Noch weiter dem deut-
schen Corona-Alltag entrückt zeigten sich
die Nordseebäder: In Cuxhaven-Duhnen
war am Sonntag lediglich das Meerwasser-
Wellenbad geschlossen, ansonsten war es
dort so voll wie in den Ferien. Und viele
Menschen glaubten, ihre sogenannten Co-
rona-Ferien für einen Abstecher nach Sylt
nutzen zu können; von der Insel wurden re-
gelrechte Hilferufe entsetzter Einheimi-
scher über soziale Netzwerke verbreitet.


Inzwischen hat sich die Lage normali-
siert. Das heißt in diesen Zeiten: Nichts ist
mehr „normal“. Die neu gewählte Ham-
burger Bürgerschaft zum Beispiel konstitu-
ierte sich am Mittwoch nur mit der dafür
geringstmöglichen Anzahl von Abgeord-
neten. Die Nordseeinseln sind abgeriegelt,
Touristen mussten abreisen. Auch die Web-
cam von Duhnen zeigt nur noch einzelne
Spaziergänger an der Strandpromenade.
In Hamburg kontrolliert die Polizei seit
Montagabend die Geschäfts- und Kneipen-
schließungen. Auch größere Gruppen im
Freien, sofern eine Streife sie sieht, werden
aufgeklärt und aufgelöst.

Berlinist nicht gleich Berlin, das gilt auch
in der Corona-Krise. Die Berliner Politik ist
immer ein bisschen Flickenteppich: Für
manches ist der Senat zuständig, für ande-
res die Bezirke. Und so sind die Regeln
unterschiedlich, je nachdem, wo man
wohnt. Der Berliner Senat hat zum Beispiel
empfohlen, die Spielplätze der Stadt offen
zu lassen. Die endgültige Entscheidung
darüber liegt jedoch bei den Bezirken. So

kommt es, dass Berlin-Mitte seine Spiel-
plätze absperrt, sie im benachbarten Pan-
kow hingegen offen sind.
Am Mittwochmittag steht ein Kreis aus
Kinderwägen um einen Sandkasten im Pan-
kower Schlosspark, die Kleinen buddeln,
auf dem Fußballplatz kickt ein Vater mit
drei Jungs den Ball aufs Tor. Es ist weniger
los als sonst, die Eltern sitzen nicht wie
sonst auf den Bänken zusammen, sondern
stehen am Rand. „Solange es erlaubt ist,
gehe ich auf den Spielplatz“, sagt eine Mut-
ter entschuldigend. Aber es ist trotzdem
seltsam still im Park, so als hätten alle das
Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Anfang
der Woche war auf der großen Wiese am
Parkeingang noch alles voll mit Berliner
Schülern, die Corona-Partys feierten. Im be-
nachbarten Bürgerpark musste sogar die
Polizei anrücken, um die Party aufzulösen.
Am Hermannplatz in Berlin-Neukölln
wirkt es wie an einem sonnigen Sonntag.
Viele Menschen sind unterwegs, zu viert,
zu fünft. Im nahen Görlitzer Park wabern
die üblichen Marihuana-Schwaden. Die
Gruppen sitzen zwar entfernt voneinan-

der, doch in den Gruppen selbst sitzen
öfter fünf oder mehr Leute eng zusammen.

Die Bäume sprießen, die Vögel singen,
auch inMünchenkündigt sich der Früh-
ling an. Aber der einzige, der vor dem Café
Münchner Freiheit in der Sonne sitzt, ist
Monaco Franze. Der darf das auch – die Sta-
tue des Münchner Schauspielers Helmut
Fischer ist aus Bronze und nicht anste-
ckend. Das Café hat geöffnet, aber nur bis
15 Uhr, erklärt die Bedienung. Der Eisver-
kauf gehe danach aber weiter, allerdings
gibt es dann nur noch Eis auf die Hand. Die
Allgemeinverfügung, die Bayerns Minister-
präsident Markus Söder am Montag erlas-
sen hat, erlaubt weiterhin alles, was zum
Mitnehmen ist. Der große Spielplatz hinter
dem Eiscafé ist menschenleer. An der
Pforte hängt eine Erklärung der Stadt in
Amtsdeutsch: Gesetzesgrundlage, Akten-
zeichen, geschlossen bis 19. April.
Viele Selbständige versuchen derweil,
mit Ideen ihre Existenz zu retten. Karin
Staisch von der Autorenbuchhandlung in
München-Schwabing bietet an, ihren Kun-

den die Bücher nach Hause zu bringen, die
sie per Telefon oder per Mail bestellen. Mit
geröteten Augen steht sie in ihrem Laden.
„Zwei Wochen könnte ich vielleicht durch-
halten ohne Umsatz. Aber zwei Monate?“
Eine Polizistin kommt vorbei und guckt
streng durch die Fensterscheibe. Sind auch
keine Kunden im Laden? „Ich finde es
gemein, dass Bücher keine Lebensmittel
sind“, sagt Staisch. Baumärkte dürften
doch auch öffnen, und ein Buch sei in sol-
chen Zeiten doch wichtiger als eine neue
Motorsäge. Gleich nach Inkrafttreten der
Allgemeinverfügung am Dienstag hat die
Münchner Polizei deutlich gemacht, dass
sie die Regel ernst nimmt: Von Dienstag-
abend bis Mittwochfrüh wurden mehr als
700 Restaurants und Geschäfte kontrol-
liert, teilt das Polizeipräsidium mit. Knapp
50 waren geöffnet, die Betreiber hätten
aber fast alle durch ein Gespräch überzeugt
werden können, zu schließen. Lediglich ei-
ner weigerte sich und bekam eine Anzeige.

Am besten wäre jetzt Regen imWesten.
„Dann würde wohl der eine oder andere zu

Hause bleiben“, glaubt Bernhard Tholen,
der Bürgermeister von Gangelt, „aber das
schöne Wetter zieht nun viele nach drau-
ßen.“ Die Straßen sind nicht voller Men-
schen in Gangelt, der 12 500 Einwohner-
Gemeinde nahe der niederländischen
Grenze. Aber eben voller als zuvor. „Die
meisten haben sich auch vorgenommen, al-
lein spazieren zu gehen“, sagt der CDU-Poli-
tiker, „aber dann trifft man eben doch ei-
nen Freund, einen Nachbarn und kommt
ins Gespräch.“ Man kennt sich eben. Und
genau das kann nun lebensgefährlich sein.
Zwei Menschen sind in Gangelt bereits
dem Virus zum Opfer gefallen. Tod durch
Herz- oder Lungenversagen. Die Klein-
stadt ist Deutschlands Corona-Hotspot,
bei einer Karnevalssitzung am 15. Februar
steckten sich viele an. Gangelt erlebt seit
nunmehr drei Wochen, was in anderen Tei-
len Deutschland erst begonnen hat: Ge-
schlossene Schulen, massenhafte Quaran-
täne. Die meisten sind nun wieder drau-
ßen. Und wer Corona hinter sich hat, der ge-
nießt die Sonne umso mehr.
rtw, beitz, jhd, anh, cwe

Die Bundeskanzler haben sich immer mal wieder per Fernsehansprache an das Volk gewandt (von links oben): Konrad Adenauer
sprach 1962 zum Besuch von US-Präsident John F. Kennedy, Helmut Schmidt 1977 zur Entführung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns
Martin Schleyer. Helmut Kohl würdigte 1990 die deutsche Vereinigung, Gerhard Schröder verteidigte 2003 sein Nein zum Irak-Krieg.
FOTOS: DPA, HEINRICH SANDEN/DPA, VIMEO, AP

Auszüge aus Merkels Rede


Zusammenhalten gegen das VirusBisher steigt die Zahl der Corona-Fälle in Deutschland steil an. Das wird sich nur ändern,


wenn die Bürger durchgehend die Regeln zum Schutz vor Ansteckungen beachten, darin sind sich Experten und Politik einig.


Vielerorts jedoch geht das Leben so weiter wie gehabt. Die Kanzlerin versucht das nun mit einem ungewöhnlichen Schritt zu ändern


„Sie mögen in diesem
Augenblick ein triumphierendes
Machtgefühl empfinden.
Aber sie sollen sich nicht
täuschen: Der Terrorismus hat
auf Dauer keine Chance.“

2 HF3 (^) THEMA DES TAGES Donnerstag, 19. März 2020, Nr. 66 DEFGH
So voll wie in den Ferien
Die Menschen sollen auf Distanz gehen, heißt es nun überall. Doch die Kombination aus mehr Freizeit und Sonnenschein scheint für viele Bürger unwiderstehlich zu sein
BundeskanzlerHelmut Schmidt 1977
zum Terror der RAF

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