48 MOBILITÄT Samstag, 28. März 2020
Flucht aus dem Dieselskandal
ins Stromauto
Volkswagen erklärt erstmals detailli ert, wie der Konzern den komplettenWandel zur E-Mobilität schaffenwill,
jedochnichtso genau,warum. VONHERBIESCHMIDT
Wir haben es schon zur Genüge ge-
hört, doch MichaelJost, Chefstratege
der Wolfsburger Kernmarke Volks-
wagen, hält noch einmal mit Nachdruck
fest: «Wenn wir die inParis festgeleg-
ten Klimaziele 2050, zu denen wir uns
bekennen, erreichen wollen, müssen
wir Jahre zuvor mitden Verbrennungs-
motoren aufhören.» So verkündetJost
gleich auch noch, dass VW bereits 2026
die letzte Generation vonFahrzeugen
mit Verbrennungsmotoren lancieren
will. Damit istnach seinenWorten die
Produktion derFahrzeuge nachAuslauf
der Erstserie sowie der modellgepfleg-
ten Variante bis 2050 so weit, dass ein
kompletter Ausstieg möglich wird – das
Zeitalter der völligen CO 2 -Neutralität
bei Volkswagen kann beginnen.
Jost und sein Strategieteam haben die
beiden wichtigstenTreiber für die künf-
tige individuelleMobilität identifiziert.
Sowohl die Digitalisierung von Produk-
tion und Produkten als auch die Nach-
haltigkeit werdenVolkswagen in den
kommendenJahrzehnten am stärksten
beschäftigen. Der Umstieg aufs E-Fahr-
zeug steht dabei im alleinigenFokus.
«Auch Plug-in-Hybridantriebe gehören
nicht zur VW-Kernstrategie, sondern
flankieren diesenur», sagt Jost. Im Zen-
trum steht beim grösstenAutokonzern
der Welt nun einmal dasBatterieauto.
Auch dieAnzahl neuer Elektroautos,
dieVW bis 2030 produzieren will,haben
wir bereits öfters aufgezählt bekommen.
Gegenwärtig sprichtJost von 30 neuen
Modellen, wenn man alleKonzernmar-
ken einbezieht.Damit wäre die Produkt-
seite reichlich abgedeckt,doch wie steht
es um nachhaltige Produktion bei dem
Unternehmen?
Vom Auto- zumStromlieferanten
«Die Mineralölindustrie wird noch bis
2025 überWachstum verfügen, dann
werden dieÖlkonzerne ihrenFokus
verschieben», prog nostiziertJost und
meint damit die erneuerbaren Ener-
gien.Was diesebetri fft, ist Volkswagen
schon beim Energieträger selbst invol-
viert, wenn man etwa daran denkt, dass
im norddeutschenWerlte bereits Über-
schussenergie ausWind und Photovol-
taik angezapft wird.Laut dem Chef-
strategen nutzt VW diese Energieüber-
schüsse auch weiterhin,obwohl der ur-
sprüngliche Zweck – die Herstellung
von Wasserstoff und Methangas – nun
fallengelassen wird. «Energie – da läuft
bald dieParty», verkündetJost. Doch
die Party läuft längst. Shell als einerder
weltweit grössten Mineralölkonzerne ist
schon länger in den Stromhandel invol-
viert und in den USA laut eigenerAus-
sage bereits der grösste Stromlieferant.
Und während man beiVolkswagen
nun erste Überlegungen in Richtung
bidirektionalesLaden anstellt, also die
Möglichkeit, die Antriebsbatterie eines
ID.3 oder ID.4auch als Energieliefe-
ranten für den Haushalt oder gar das
Stromnetz zu nutzen.Auch dieseParty
läuft schon, allerdings weiter westlich,
in Frankreich und den Niederlanden,
wo Nissan bereits mit Smart Grids und
Second-Life-Batterien operiert.Als Ul-
timaRatio siehtJost neben demVer-
meiden undReduzieren von CO 2 auch
die Möglichkeit desKompensierens
mittels Umweltzertifikaten.Da sind
andere, etwaFiat Chrysler, ebenfalls
bereits weiter.
Was die Nachhaltigkeit bei den Pro-
dukten und der Produktion betrifft, rich-
tet Ralf Pfitzner, Leiter Nachhaltigkeit
im Konzern, den Blick noch deutlich
weiter. «Als Zwischenziel auf demWeg
zu Paris 2050 hat sichVolkswagen ge-
setzt, bis 2025 die gesamten CO 2 -Emis-
sionen um 30 Prozent zu senken», sagt
er. Pfitzner erkennt insbesondere bei
der Fahrzeugherstellung ein Hauptpro-
blem: «Unser Produktfolio mit den vie-
len Batterie-Fahrzeugenreicht zur Ziel-
erreichung aber nicht aus.» Er sieht vor
allem in der globalen Energiewende
einen Schlüsselfaktor und meint da-
mit nicht nur die Herstellung sauberen
Stroms. «Wir müssen dieBatteriepro-
duktion eingrünen.»
Damit wird klar, dass auch die Zu-
lieferer CO 2 -neutral produzieren müs-
sen, worauf VW bei der Beauftragung
nun stärker achten will als bisher.
Bereits sollen 5900 Zulieferbetriebe
ihre Nachhaltigkeitsleistung verbes-
sert haben.Was die eigene Emissions-
senkung betrifft, nennt Pfitznerkon-
krete Zahlen.«Im vergangenenJahr
haben wir bei der Produktion bereits
rund170 000 Tonnen CO 2 reduzieren
können, dabei in denWerken mehr
als 40 Prozenterneuerbare Energien
eingesetzt. Zudem wurden Emissio-
nen mit Klimaschutzprojektenkom-
pensiert, etwa dem Schutz von150 000
HektarenTropenwald in Borneo.» Im
laufendenJahr sollen die anlaufen-
den Modelle des ersten proprietären
Elektro-VW ID.3 «bilanziell CO 2 -neu-
tral an dieKunden übergeben» wer-
den. Und dannkommtein Kernsat z
von Pfitzner, der Geduld heischen soll:
«CO 2 -Neutralität istkein Sprint,son-
dern ein Marathon.»
Das sind alles schöne Bekennt-
nisse, doch wo sind diekonkreten Er-
gebnisse, um konkurrenzfähig zu blei-
ben? Als einen der wichtigstenBau-
steine bei der Umstellung zur Elektro-
mobilität sieht MartinRoemheld,Leiter
E-Mobility Services, die Ladeinfrastruk-
tur im öffentlichenRaum. Er glaubt,
mit seinemTeam eines der wichtigs-
ten Probleme gelöst zu haben, denn
bei VW gibt es unter dem Schlagwort
«We Charge» eine Karte, mit deren Hilfe
an 150 000 Ladepunkten in Europa für
den Strom bezahlt werden kann. Mit
markigenWorten unterstreicht er den
Willen desKonzerns, die Elektromobi-
lität vorwärtszutreiben: «Lasst uns auf-
hören zu quatschen, und lasst es uns
endlich umsetzen.»
Ob das einWink mit dem Zaunpfahl
an dieVorstandsetage war?Thomas
Ulbrich, Vorstand E-Mobilität, nimmt
die Vorlage an. Er sieht bereits 202 0
als das Schlüsseljahr fürden Durch-
bruch undSystemwechsel zur E-Mobi-
lität. Entsprechend müssen die geplan-
ten Stromauto-Produktanläufe für den
ID.3 in Golf-Grösse und den SUV ID.4
sitzen und dürfen nicht schiefgehen wie
zuletzt dieLancierung des bisherigen
Bestsellers VW Golf mit Verbren-
nungsmotor.
Kein Einfluss der Corona-Krise?
«Im Sommer 2020 erfolgt die Markt-
einführung des ID.3 und der ‹We
Charge›-Ladekarte», erklärt Ulbrich.
«Im Herbst folgtsogleich der ID.4.»
Die Produktion ist bereits vor der
Corona-Krise angelaufen, schonste-
hen mehr als3500 ID.3 auf Halde und
warten auf eine vonFehlern befreite
Software. Obwohl die Corona-Krise
die Bereinigung der Codes deutlich
verlangsamen dürfte, hält Ulbrich zu-
nächst amLancierungsdatum fest. Die
quasi parallel angelaufene Produktion
des ID.4 solle ebenfallsauf Kurs lie-
gen undeine Lancierung des Elektro-
SUV noch 2020 ermöglichen.
Von den parallel stattfindendenWei-
ter entwicklungen im Bereich der Ben-
zin- und Dieselfahrzeuge ist in der VW-
Kommunikation derzeit keine Rede,
auch wenn diese Art des Antriebs noch
vieleJahre das Gros des Strassenver-
kehrs ausmachen dürfte. Aber dieVer-
brennungsmotoren sind bei VW ein
lästiges Überbleibsel, mit dem es auch
weiterhin schwer sein dürfte, die euro-
päischen CO 2 -Flottenziele ohne Straf-
zahlungen zu erreichen. Noch lange wer-
den sie den Schritt in die Nachhaltig-
keit und höhere Umweltverträglichkeit
deutlich verlangsamen.
Letztlich geht es den Chefstrate-
gen inWolfsburg jedoch weniger um
die Umwelt als um Kapital und Ertrag,
wenn man dieWorte von VW-Chefstra-
tege MichaelJost richtig deutet: «CO 2
ist eine zusätzlicheWährung, die nicht
mehr wegzudenken ist.»
1963 hatwohl niemand daran gedacht, dassFahrzeuge rund 60Jahre später immer mehr per Stromkabel «betankt»würden. FRIE DRICH / KEYSTONE
Bidirektionales Laden –
die Möglichkeit,
die Antriebsbatterie
eines ID.3 auch als
Ener gielieferanten für
den Haushalt zu nutzen.