Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.04.2020

(WallPaper) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 6.APRIL 2020·NR.82·SEITE 13


„Es fehlenMasken“, „Es gibtnicht genug
Betten aufder Intensivstation“,„Wie viele
Personensind heutegestorben?“,„Wie sol-
len wirdas schaffen?“: Das sind die Sätze,
die ichseit einem Monat immer wieder
höre, in einemobsessiven Rhythmus. Ich
wohneseit zwölfJahre ninRom, aber im
Momentbin ic hinKalabrien, in demDorf,
aus dem ichkomme, einemOrt mit weni-
gerals zehntausend Einwohnern, in dem
ichzufällig aufgehalten wurde,oder besser
gesagt feststecke,weil auchich vonden Ein-
sch ränkungen betroffenbin, die die italieni-
scheRegierung erlassenhat,umdie Ver-
breitung desCoronavirus einzudämmen.
Wenn ichvom Balkonmeines Zimmers
blicke –dem Zimmer,indem ichaufgewach-
sen bin,gelernt,gelesen,geweint und sehr
viel gelacht habe–scheint alles so zu sein,
wie es immergew esen ist. Die Fassadender
Häuserwirkennochimmer beruhigend,
Rauchsteigt regelmäßig aus den Schornstei-
nen, an denFenstern zeichnen sichdie Um-
rissevon Männernund Frauen ab.
BeiSonnenuntergang, um ungefähr
sechs Uhrabends ,gehen dieersten Lichter
an.Und ichhabe den Eindruck,dasssich
nichtsgeänderthat,zumindestbis meine
Mutter ausdem Krankenhauszurück-
kommt,wo siearbeit et.Meine Mutter ist
Krankenschwester. Siesagt, dass Atem-
schutzmaskenfehlen, aberdassheutezu-
mindestkeine Neuinfektion registriertwur-
de. Dasistein Wunder,denke ich, ein Mö-
wenflü gelinder Dunkelheitdes Sturms.

Aber dieKatastrophe schreitetfortund
hier,woich bin, genau wie mehr oderwe-
niger imganzen Süden Italiens, denkt
man über mögliche Szenarien nach,was
ungefähr so ist, wierussischesRoulett ezu
spielen, oder schlimmer: mit einerver-
klemmten Pistole ins Leerezuschießen.
Die Zahl der Ansteckungenkönntevon ei-

nemTag aufden anderen wiederexplodie-
ren, undwenn diese ArtBombe aggressiv
ist, müssen die Maßnahmen, um sie einzu-
dämmen,gleichermaßenstark,stärker,au-
ßergewöhnlich sein. Ichspreche hier nicht
nur vonder Zwangshaft, in der sichdie Ita-
liener im Moment befinden; ichspreche
nicht nurvonden Dörfern,die nachund
nachvom Militär umzingelt wurden. Ich
spreche auchvon jeder einzelnen leiden-
denLunge,die keinenZugang zu einerhei-
lenden Behandlung habenkönnte.
Gemeinsam mit anderen Gegenden in
Norditalien istdie Lombardei in diesem
Moment am Ende ihrer Kräfte.Bettenauf
der Intensivstationgehen zurNeige, Bet-
ten, vondenen es inKalabrien nochviel
weniger gibt.Man denkt hier sogar dar-
über nach, imFall derFälle, bewegliche

Krankenhäusereinzurichten. Vielleicht
auf Schiffenwie in Amerika. Riesigen,ge-
waltigen Schiffen, die sichinkürzester
Zeit in Krankensäleverwandelnkönnten,
proppenvoll mit Pflegepersonal, Bahren,
Infusionen und sonstwas.
Wenn ichmeine Mutter frage, wie es so
weit kommenkonnte, antwortet sie lieber
nicht.Sie is tmüde, hat tiefe Augenringe. Sie
wäscht sichimmer wieder die Hände,wäh-
rend ich den beißenden Geruchdes Alko-
holswahrnehme, der zu mir herüberweht.
Er is tstechend, desinfiziertauchmich. Es
ist, als würde sie mir sagen, dasswir die
Schuld nachdem Ende dieserKatastrophe
zuweisenkönnen. Jetztkonzentrieren wir
uns darauf, zu tun,waszutun is t. AlsoLe-
ben zuretten, Arzt zu sein,wasbedeutet–
wie Homer es schon in der „Ilias“geschrie-
ben hat–mehr zu zählen als ein Mensch.
Inzwischen isteshalb sieben. Ich schal-
te den Fernseher an, um michauf den neu-
estenStand zu bringen. Ichschaue mir den
Bericht der Zivilschutzbehördean, der
pünktlichamspäten Nachmittaggesendet
wird. Man sprichtvonInfektionskurven,
von„Peaks“, die langsam erreicht sein
könnten, undvonTodesfällen, die trotz-
dem nicht auf sichwartenlassen. Die Da-
tenlaufen über den Bildschirm. Ichschaue
sie an, als ob sie Grabsteine wären, kleine
Steine in Bewegung. Es sind Menschen
ohneNamen, die sichineinemschreck-
lichen Zählerverlieren, aufeinanderge-
türmt, einer über den anderen, wie die Lei-

chen, die Lukrez in „DeRerumNatura“ be-
schreibt:nur dasswir sie in einemFernseh-
kasten sehen, oder besser nicht sehen.
Auch in „Die Stadt der Blinden“, einem
Roman vonJosé Saramago, haben die
Krankenkeine Namen. In derStadt bricht
eine Epidemie aus, die sichüber dasganze
Land ausdehnt.Die Menschen sehen
plötzlichnichts mehr,ihreAugen füllen
sichmit einem unnatürlichen weißen
Licht:„einem Meer aus Milch“, so nennt
es der portugiesische Schriftsteller,das
ein Opfer nachdem anderenfordert.
David Grossmanhat gesagt, dasswir
durch dasCoron avirus unserePrioritäten
wiedererkennenwerden. Viele Menschen
werden danachnicht mehr dieselbensein:
sie stehen jetzt an einemScheideweg, sie
werden sich in eine bestimmteRichtung ent-
wickeln, nichts in der Schwebe lassen, die
Unsicherheit wirdüberwundensein und
die Lösung endlicherreicht, so Grossman.
Mag sein, dasserrecht hat.ImMoment
aber erleben wir,zumindestinItalien, den
Gipfel desUngelösten, eine Schwebe, die
fast zu einem Geräuschgeworden ist.Wir
warten, dassdie Dingesichändern. Hin-
termelancholischenFensterscheiben, wie
auf einem BildvonEdwardHopper.

Ausdem Italienischen von AnnaVollmer.

Von Angela Bubba, geboren 1989, erschien
auf Deutschzuletzt „Alberto,Elsa und die
Bombe“.

MEIN FENSTER

Ein Möwenflügel in der Dunkelheit des Sturms


Jetzt, so scheint es, istItalien auf dem Gipfel derVerzweiflung angelangt / VonAngela Bubba,Kalabrien


ZUR WELT

Überwinder undWegbereiter:CarlBlechen malteseine Ölskizze„Aus dem Apennin“ im Jahr 1829. FotoStiftungFürst-Pückler-Museum

Um 1970wardie Soulmusik imUmbruch.
Motown hatteseine beste Zeit hintersich,
so dassseinegrößten Stars, darunterSte-
vie Wonder und Marvin Gaye,DianaRoss
und MarthaReeves, eigenständig wurden.
Der Südstaaten-Soul hatteseine Durch-
schlagskrafteingebüßt und ging, wie die
schwarzeUnterhaltungsmusik überhaupt,


in RichtungFunk.Indieser fürAußensei-
terund Quereinsteiger wie R.B. Greaves
und King Floyd günstigenZeit gelangBill
Withersein nahezu perfekter Start.
Der Mannaus West Virginia,der sich
beim Militär mühsam dasStotternabtrai-
nierthatte, aber einegewisse Hemmung
davonlebenslang behielt,kambei dem
vonClarenceAvant, der als The Black
Godfather inFilm und Musik die Strippen
zog, gegründetenLabel SussexRecords un-
terVertragundbrachtesein Debüt„Just
As IAm“ mitUnterstützungvonBooker
T. Jones (Produktion),Ste phenStills(Gi-
tarre), Al Jackson und JimKeltner (Schlag-
zeug) sowie Duck Dunn (Bass) heraus.
Diese hochkarätigeBegleitung sorgte für
einen soliden,stellenweise grob gewebten
Klangteppich, auf dem sichsein bitter-her-
berBariton, dervonfernanJosé Feliciano

erinnert, aber im Gegensatz zu diesem
nur selten zum Äußersten ging, ungehin-
dertentfaltenkonnte. Mit den ersten drei
Liedern, die zusammen nur siebeneinhalb
Minutendauerten, aber jedesfür sichei-
nen merkwürdiggespanntenNachhall ins
Nichts hinterließen,steckt eerdas Feld ab,
auf dem erfortan operierte: „Harlem“, si-
cher eines seiner stärksten Lieder,als
trost-, aber nicht mutlose,voneinem unwi-
derstehlichen, dramatischforcierten
Rhythmus unterlegteMilieustudie;„Ain’t
No Sunshine“,sein berühmtestes, mit ei-
nem Grammyprämiert, als anmutige,
schwebende Liebes- und Einsamkeitsmo-
ritat; und „Grandma’s Hands“, sacht
stampfendeRootsMusic, eine Kindheitser-
innerungvoller Trauer und Dankbarkeit.
Dieser zurückgenommene, mit mono-
ton-repetitiven Phrasen operierende Musi-

zierstil hobWithers aus dem zeitgenössi-
schenUmfeld heraus und ließ ihn auch
mit Fremdmaterialfertigwerden,darunter
die bis heuteüberzeugendsteVersion des
Fred-Neil-Klassikers„Everybody’sTal-
kin’“. Gerade imVergleichmit der affek-
tiertenWehleidigkeit,die HarryNilsson
indas 1969 für den„Asphalt Cowboy“
-Soundtrackverwendete Lied legte, wird
deutlich,welcheglutvolle Kraftindiesem
ganz undgarungekünsteltenAusdruck
steckt.„Still Bill“ (1972)war, mit ausge-
tauschter Besetzung, aber unterBeibehal-
tungder musikalischen Präzision, ein
gleichwertiger Anschlussund enthielt die
Brüderlichkeitsparolen „Lean On Me“
und „Use Me“, einmal mitwarmem Tim-
brevorgetragen, einmalaufreizend funky.
Das Werk,das BillWithershinterlässt,
istschmal, aber schon aufgrund seiner Ei-

genwilligkeitkostbar.Über das Jahrzehnt
hinaus landete er,nacheinemvorzügli-
chen Live- und einemweiterenStudioal-
bum zu Columbiagewechselt, weitere,
nun nicht mehr sorustikal produzierte
Trefferwie „Lovely Day“, „JustThe Two
Of Us“ und, daswahrscheinlichbeste aus
der Spätphase, „Soul Shadows“, ein acht-
minütiges Altmeisterstückmit den Cru-
saders. Er hattespät angefangen und hör-
te früh wieder auf, desillusioniertvon der
gesellschaftlichen Entwicklung oder viel-
mehrvonder Nichtentwicklung seines
Landes, für das er,ein halbes Kind noch,
einstinden Nahen Ostengegangenwar.
Die erhabene Klageaber,zuder ihm sei-
ne Musikgrundsätzlichgeriet, wirdnach-
hallenweit über denTodhinaus, derWil-
liam Harrison Wither sJr. kürzlich einund-
achtzigjährig ereilte. EDO REENTS

6910 000 Treffererhält man, wenn
man bei Google das Suchwort„Corona
Tagebuch“ eingibt. Allein dieser
Schnelltestrechtfertigt es, hiervonei-
nem neuen Genrezureden. Als Erfin-
derderGattungdarfdasRobert-Koch-
Institut (RKI)genanntwerden. Bereits
am 17.Februar 2020erschien einFrage-
bogen für Corona-Kontaktpersonen.
Ein Musterbeispielsollt ekünftigen Dia-
ristenvormachen, wie sichdas RKI so
ein „Tagebuch“ inhaltlichwünschte:
„Ein Krankenpfleger hatteam3.Febru-
ar den 2019- COVID-19-Fall gewa-
schen und abgesaugt, und dabei eine
OP-Maske, einen Schutzkittel und
Handschuhegetragen. An demTaghat-
te der Pfleger Husten. Bei Artdes Kon-
taktes (s. ,Kodierungstabelle‘) sind ein-
zutragen: ,P,Aer‘ (P für pflegerische
Handlung,Aerfür Aerosol-prod. Maß-
nahme); bei Artdes Schutzes: ,M1,K,H‘
(M1 für OP-Maske,Kfür Kittel,Hfür
Handschuhe).“
Ach, wäre es dochbei diesemNou-
veau Arztromangeblieben! Hättedas
Genrehier nur seine frühe Meister-
schafterreicht!UndNachahmernden
Wind aus den Segelngenommen. Ein
Blickindie parallel zum Virusexponen-
tiell sich ausbreitenden Corona-Tagebü-
cher zeigt:Das Gegenteil isteingetre-
ten. Die sogenannteCorona-Krise
scheint ein hochinteressanter gesell-
schaftlicher Ausnahmezustand, der
nachder Finanz- und der Flüchtlingskri-
se zum Exerzierfeld vonZeitdiagnosti-
kern,Besinnungsliteraten undTrend-
forscherngeworden ist. Diesefolgen ih-
rerBerufung jetzt als Krisenbegleitper-
sonal.
Den Anfang machteder „Lebens-
kunstphilosoph“Wilhelm Schmid am



  1. März2020.Aufdem Höhepunkt der
    deutschen Lockdown-Diskussionen
    konnteerineinemRadiointerviewbe-
    reits eine positiveBotschaftanseine
    Hörerschaftrichten.Nämlichdie, dass
    die Zeit derPandemie eineZeit der
    „Übung“ sei. Klimakrise und andere
    globale Herausforderungen seien in der
    Nussschale des Pandemie-Problems
    schon enthalten. Man musswirklich
    kein philosophischesAusnahmetempe-
    rament besitzen, um solchenTiefsinn
    zu produzieren. Auch unphilosophi-
    sche Krankefragen sichbisweilen:Was
    will mir die Krankheit sagen?Wofür
    mussich büßen? So funktioniertauch
    die Schmid’sche Lebensphilosophie.
    Sie soll demWeltgeschehen Sinnverlei-
    hen, uns Handlungsoptionen aufzeigen
    und Trostspenden.


In der Schicksalsgemeinschaft


Wirwüssten Positives mehr zu schät-
zen,wenn wir mit demNegativen Be-
kanntschaftgemacht hätten, antworte-
te Schmid einer um ihreFreiheitsrechte
bangenden Hörerin am 3. April in einer
Anrufsendung.Undweil das angesichts
aktueller Feldlazarettbilder aus New
York irgendwie unbefriedigend klingt,
legteernoch eine Schippe obendrauf:
„Was jetzt zum ersten Mal vielleicht zu
lernen ist: DieseganzeWelt is teine
Schicksalsgemeinschaft.“
Besinnung zu pflegen, das sei dieAuf-
gabe der Philosophie, behauptet
Schmid. Das würden akademische Phi-
losophenweit vonsichweisen. Denn
Philosophie istein ergebnisoffener
Denkprozess, der sichzumoralischen,
logischen oder politischen Problemen
verhält.Und je tiefer er seine Materie
durchdringt, desto komplizierterseine
Leitsätze. Eines aber mussman Schmid
lassen: Er hat eineMission.Unter Coro-
na-Philosophen keine Selbstverständ-
lichkeit.
So führtPhilipp Hübl im aktuellen
Corona-Tagebuchder „Kulturzeit“ des


Fernsehsenders3Sat in philosophische
Grundbegriffeein –inanderthalb Mi-
nuten. In einem Beitrag über dieFes-
seln des Homeoffice unternimmt er ei-
nen Ausflug zu David Hume, derFrei-
heit nochnegativ definierte.Nämlich
als FreiheitvonKrankheiten, Monar-
chen, Gottesgnadentum und anderen
blödenTraditionen. SeitKant stehe die
positiveFreiheit imVordergrund. Mit
Sartregesprochen,wäre der Mensch
nun „zur Freiheit verdammt“. Hübls
Pointelässt jetzt nicht langeauf sich
warten: Beim Homeoffice empfänden
wir positiveFreiheit.Und merkten: Das
kann aucheine Bürde sein. Hübl emp-
fiehlt deswegen:Steuererklärung ma-
chen oder denKeller ausmisten. Beides
Wege,umaus der „existenziellenVerun-
sicherung“rauszukommen.
Mit solchen Philosophen macht die
Steuererklärunggleichdoppelt so viel
Spaß: weil sie nämlicheine kultur-
geschichtlicheinmaligeResonanz ein-
geht mit den Themenfeldern„Home
Schooling“, „Zoom-Konferenz“ und
der Jagd nachfrischer Backhefe.

Extrem schöneResonanzerlebnisse
Apropos Resonanz: Einer der Haus-
götter der neuen Krisenphilosophen ist
der Jenaer Entschleunigungs-Soziologe
Hartmut Rosa. Nicht nur die Schriftstel-
lerinNoraBossongfindetineinem
nachdenklichen Essay: „DieStille regt
einen zu wunderbaren Möglichkeiten
an.“AuchSvenja Flaßpöhler,die Chef-
redakteurin des „Philosophie Maga-
zins“, verrät in ihremFernseh-Tage-
buch, dassesgerade dieReduzierung
der Optionen sei, die, mit Hartmut
Rosa gesprochen, „extrem schöneReso-
nanzerfahrungen“ erzeuge. Empfeh-
lung desTages: stoische „Seelenruhe“.
Seelenruhe, wasfür ein schönes
Wort!Dochwie soll man seelenruhig
werden, bei derartig seelenlosenState-
ments zum planetarischen Drama? Soll
man Matthias Horxlesen, der sichinei-
nem vielgeteilten Artikel einer onanis-
tischenZukunftsvision hingibt?Wirer-
innernuns: Horxhatteeinsttreffsicher
das Ende des Internetsvorhergesagt.
Oder sollen wir der FDP-Politikerin
und Corona-Überlebenden Karoline
Preisler dabei zuhören, wie sie sichbei
MarkusLanz dieFragegestattet, ob sie
jemals wieder mit ihren Kindernwird
singenkönnen? Oder sollen wir uns
vonder Philosophie abwenden und
gleichdem Astrophysiker Harald Lesch
in die Armefallen? Der sieht nämlich
jetzt dieStunde derNaturwissenschaft
gekommen.Undzwarals Alleinherr-
scherin über alle anderen Disziplinen.
Wissenschaftund Forschung, sagteer
in seiner ZDF-Sendung „LeschsKos-
mos“ am 24. März, seien uns nochnie
so nahgewesen wie jetzt. „Ichbin so
froh, dasswir den Quacksalbern, Maul-
helden und anderenWissenschaftsver-
ächternjetztdiekalteSchulterzeigen,
sie ignorieren.“
Dochhalt, nicht alle sind Maulhel-
den! Es gibt nocheinen drittenWeg
zwischen demWissenschaftspositivis-
mus àlaLeschund der philosophi-
schen Corona-Party unsererTage.Der
informierte und hyperprofessionelle
GertScobel hat in seinerWissenssen-
dung vom2.April interdisziplinäre
Standardsgesetzt:„Wer entscheidet, ob
ein Todkranker behandelt wirdoder
nicht, nachwelchen Kriterien?Undba-
siertdie medizinischeVersorgung in
Deutschland überhauptauf durchweg
ethischen Prinzipien,wenn viele Klini-
kenimNormalbetrieb nachder Logik
vonFallpauschalen wirtschaften?“ Die-
se heiklenFragen diskutiertenauf ho-
hem Niveau diestellvertretende Vorsit-
zende des Deutschen Ethikrats, Clau-
dia Wiesemann, der PsychiaterStefan
Brunnhuber und der Erkenntnistheore-
tiker Markus Gabriel. DiekalteSchul-
terhaben diese Krisendenker nichtver-
dient!
Wiesteht es also nun um die ange-
wandteCorona-Philosophie? Sie wird
uns weiter beatmen. In einem bereits
letzten Herbsterschienenen metaphysi-
schenTagebuchnamens „Uneigentliche
Verzweiflung“schreibt der Schriftstel-
ler Frank Witzel:„Aucheine Bezeich-
nung wie Philosoph istkeine Berufsbe-
zeichnung,sondern eineZuschreibung,
die nur durch Drittevorgenommenwer-
denkann, ähnlichwie Rockst ar,Held
oder Heiliger.“ KATHARINA TEUTSCH

CarlBlechens Ölskizze„Ausdem Apen-
nin“ hält den Moment desAufstiegs ins Ge-
birge fest.Rechtslieg tein vonBäumen be-
kränzter See, in den sich breit eFelsen
schieben, links zieht sich einunbefestigter
Pfad den Hang hinauf.Die Wegränder aus
Gebüschund Geröllhat Blechen mitbrei-
tenPinselstrichen markiert,den Himmel
dagegen mitfeineren Bewegungen ausge-
tupft.Überden Horizont zieht sicheine
bräunlich-schwarze Gewitterfront, deren
Keil recht sobeninden hellenAbendhim-
mel stößt.Anihrem unteren,wie vonStahl-
bürsten zerrupftenRand liegt eineschma-
le Zone verdicht eten Lichts,vor deren
Weiß sichdie fernen Bergkuppenwie ge-
meißeltabheben. DieSzenestehtauf der
Kippe zwischen Bedrohungund Erlösung,

denn das GewitterkönnteebensoimAb-
ziehenwie im Herannahen begriffensein.
Blechenwarein Virtuosesolcher mit
Ausdruckgesättigten Landschaften, die er
auf seinerItalien-Reisevon1828/29 zu Dut-
zenden in Öl undSepia, alsZeichnung und
Aquarellfesthielt, um siespäterimAtelier
zu größerenKompositionenauszubauen.
Die Apennin-Skizze wurde 1915 für die Ble-
chen-Sammlung in Cottbus erworben, der
Geburtsstadt des Malers, die er mit vierund-
zwanzigJahrenverlassen hatte, um an der
Berliner Akademie derKünste zustudie-
ren. 1943 wurde das Bild in ein brandenbur-
gisches Gutshaus ausgelagert, aus dem es
nachKriegsende zunächstspurlos ver-
schwand. In den neunziger Jahren tauchte
es überraschendinPrivatbesitz wieder auf.

Jetzt hat dieStadt Cottbusgemeinsam
mit der Stiftung Fürst-Pückler-Museum
Park und SchlossBranitz und mitUnterstüt-
zung derKulturstiftung der LänderBle-
chens Apenninlandschaftfür einen mittle-
renfünfstelligen Euro-Betrag zurückerwor-
ben. Damit wirddie gut achtzigWerke um-
fassendeBlechen-Sammlung in SchlossBra-
nitz um ein wichtigesStückreicher.Denn
Blechenwar, ähnlichwie sein Generations-
genosse Camille Corot,nicht nur einÜber-
winderder frühromantischen, sondern
auchein wichtigerWegbereiter derrealisti-
schen und impressionistischen Malerei.
WieCorot hat Blechen seine moderns-
tenLandschaftenals Reiseskizzengeschaf-
fen, die nicht zumVerkauf bestimmtwaren.
NurdassBlechen nicht die lange und erfüll-

te Künstlerkarriereseines französischen
Kollegenvergönntwar: 1831 auf Empfeh-
lung Schinkels zum Professor für Land-
schaftsmalerei und zwei Jahrespäter zum
Akademiemitglied berufen, erkrankteer
bald darauf an einem psychischen Leiden,
das seine Lehr-und Künstlertätigkeit bin-
nen kurzem beendete. 1840starb er ingeis-
tigerUmnachtung.Ausder deutschenMale-
reides neunzehnten Jahrhunderts sind Ble-
chens Bildernicht wegzudenken. Theodor
Fontane, der ein unvollendetesManuskript
über Blechen hinterließ, nannteihn einen
„MenzelvorMenzel“, und der Berliner Kri-
tikerKarl Scheffler brachtesein Werk auf
die griffige Formel: „WahrheitundRoman-
tik umarmen sich.“ Das gilt auchfür „Aus
dem Apennin“. ANDREASKILB

BillWithers(1938 bis 2020) FotoLaif

Zwischen Bedrohung undErlösung


Kein Kriegsverlustmehr:Die Stadt Cottbushat ein BildvonCarlBlechen zurückerworben


Die Stunde der


Maulhelden


Seele zum


Anlehnen


ZumTod des


SoulsängersBill Withers


Seit einpaarWochen


haben wirein neues


intellektuellesGenre:


das philosophische


Corona-Tagebuch.


Es dokumentiert


einenTiefpunkt.

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