Die Euro-Frage
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
49
Auch wenn Premier Giuseppe Conte die Zahl im
April verdoppeln will: Die Wirtschaft Italiens leidet
schwer. Nach der Ausgangssperre für die Italiener,
verhängt am 10. März, hat die Regierung am 25.
März die Produktion der Firmen gestoppt, mit Aus-
nahme von „lebensnotwendigen, essenziellen“ Gü-
tern. Ein ohnehin geschwächtes Land steht vor der
Pleite. 100 Milliarden Euro pro Monat werde der
Stopp kosten, erklärte der Präsident des Industrie-
verbands Confindustria, Vincenzo Boccia, und
spricht von „Kriegswirtschaft“. Das ist nur eine ers-
te Schätzung.
Die ökonomischen Auswirkungen sind enorm.
„In Italien trifft die Verbreitung von Covid-19 auf
ein Umfeld von moderatem Wirtschaftswachstum,
das relevanten Risiken ausgesetzt ist“, teilt die No-
tenbank in Rom mit. Das ist zurückhaltend formu-
liert. Denn auch ohne die Pandemie ist Italien nach
einem Minus von 0,3 Prozent des Bruttoinlands-
produkts (BIP) im vierten Quartal 2019 auf dem
Weg von der Stagnation in die Rezession. Italien
steht still, seit Langem: Die Wirtschaftsleistung ist
auf dem Niveau von 2006, der Internationale Wäh-
rungsfonds schätzt sie für 2019 auf 33 000 US-Dol-
lar pro Kopf – die Wirtschaft ist also in den vergan-
genen dreizehn Jahren nicht gewachsen.
Hausaufgaben nicht gemacht
Die Probleme sind bekannt, allesamt chronisch wie
hausgemacht: Zur Wachstumsschwäche kommen
das öffentliche Schuldenmachen der jeweiligen Re-
gierung, die fehlenden Strukturreformen, der rigi-
de Arbeitsmarkt, eine ausufernde Bürokratie, eine
öffentliche Verwaltung, die schlecht läuft, die lang-
same Ziviljustiz, die hohe Steuerlast, die große
Steuerhinterziehung, die sinkende Produktion und
die im Europadurchschnitt hohe Arbeitslosigkeit
von fast zehn Prozent, die bei den Jugendlichen im
Süden bei 29,3 Prozent. „Diese Probleme müssen
gelöst werden, damit das Land wieder so wächst
wie zuvor“, sagt Ökonom Carlo Cottarelli von der
Mailänder Università Cattolica.
Dazu kommt die Staatsverschuldung. Ende Ja-
nuar lag sie nach Angaben der Banca d’Italia bei
gut 2,4 Milliarden Euro, 136 Prozent der Wirt-
schaftsleistung. Der Schuldenberg wird mit der
Krise weiter wachsen. Doch immerhin, die EU-
Kommission hat die Schuldengrenze aufgehoben.
Und die Europäische Zentralbank den Aufkauf
von Schulden titeln und Unternehmensanleihen
von 750 Milliarden Euro zugesagt – das kam gut an
in Italien.
Getroffen werden jetzt auch Branchen, in denen
es bisher gut lief wie der Tourismus, der dreizehn
Prozent zum BIP beiträgt. Es gibt keine Flüge mehr,
die Reisen sind storniert, Hotels sind geschlossen.
Es fehlen vor allem die 5,3 Millionen chinesischen
Touristen, die 2019 nach Italien kamen und im
Schnitt pro Person 1 500 Euro beim Shopping aus-
gaben. Darunter leidet die exportabhängige Luxus-
branche. „Die Krise wird sich mindestens noch an-
derthalb Jahre auf die Unternehmen niederschla-
gen“, erwartet Claudio Marenzi, Präsident der
Herrenmodemesse Pitti Uomo.
„Dieses sehr schwere Unwetter kam, als es der
Wirtschaft trotz allem gerade besser ging“, sagt
Manzocchi, Chefvolkswirt der Confindustria. „Es
lief bis Januar ganz gut, im letzten Jahr haben wir
Waren im Wert von 550 Milliarden Euro exportiert,
außerdem waren die Investitionen wieder angestie-
gen.“ Jetzt werde die Bilanz sehr negativ aussehen,
vor allem im zweiten Quartal. „Wenn 50 bis 70 Pro-
zent der Unternehmen stillstehen, rechnen wir mit
Verlusten von 85 bis 100 Milliarden Euro pro Mo-
nat“, so Manzocchi. Vor Jahresmitte sieht er keine
Stabilisierung, alles hänge davon ab, wie lange die
Pandemie noch andauere. Sein Kollege Fabiano
Schivardi von der römischen Wirtschaftsuniversität
hat ein Szenario durchgerechnet: 40 000 italieni-
sche Unternehmen könnten bereits im März Liqui-
ditätsengpässe haben.
Was ist zu tun? „Um die Wirtschaft zu stützen,
kann man im Moment nichts anderes tun, als das
Defizit zu erhöhen, denn das Bruttoinlandsprodukt
fällt und wird weiter fallen“, sagt der ehemalige
IWF-Ökonom Cottarelli. Gebraucht würden jetzt
Garantien des Staates und Hilfe für die, die ihre
Einkünfte verlieren. Die Regierung müsse den Un-
ternehmen mit einem Garantiefonds die „gesamte
Liquidität zur Verfügung stellen, die sie benötigen,
um die Übergangsphase im Falle einer freiwilligen
oder unfreiwilligen Schließung zu überwinden“,
fordert auch Confindustria, der italienische BDI.
Die Rückzahlung der so entstehenden Schulden
müsse auf 30 Jahre nach der Überwindung der Kri-
se gestreckt werden. Cottarelli ist kategorisch. „Das
ist ein klassischer, heftiger Schock, der mit keyne-
sianischen Mitteln behandelt werden muss.“ Ein
Land, das so eine hohe Verschuldung habe wie Ita-
lien, könne so viel Geld nicht leihen.
Brennpunkt Banken
Besonders im Fokus stehen die italienischen Ban-
ken. Die Gefahr ist groß, dass sie Auslöser einer
neuen Finanzkrise werden können, wenn es zu
Kreditausfällen kommt. Zwei Probleme belasten
die Branche: die notleidenden Kredite und die An-
zahl der Staatsanleihen in den Büchern. Das waren
nach Angaben der Notenbank Ende Dezember gut
380 Milliarden Euro. „Nach der Krise 2011/12 ha-
ben sich die Banken in Italien schneller erholt als
von vielen gedacht. Der Abbau der notleidenden
Kredite verlief gut, und die Banken hatten neue
Renditequellen gefunden, etwa Finanzdienstleis-
tungen wie Versicherungen für die eigenen Kun-
den“, sagt Cottarelli. Doch jetzt bestehe die Ge-
fahr, dass bei einer Rezession die notleidenden
Kredite wieder anstiegen. Der Bankenverband ABI
versucht zu beruhigen. „Alles hängt von der Dauer
des Notstands ab“, sagt Generaldirektor Giovanni
Sabatini. Die Auswirkungen könnten vorüberge-
hend sein, „wir rechnen mit einem robusten
Wachstum 2021“.
Auch die Anzahl der Staatsanleihen bei den Ban-
ken war gesunken. Ende Dezember 2019 hätten sie
ein Volumen von 313 Milliarden gehabt, ein Anteil
von 9,8 Prozent an den Bilanzen, noch zu Beginn
2015 seien es 403 Milliarden gewesen, so Noten-
bankgouverneur Ignazio Visco kurz vor der Coro-
nakrise. Alles hängt jetzt davon ab, wie sich die Ri-
sikoaufschläge, der Spread, entwickeln.
Egal, mit wem man spricht, alle fordern mehr
europäische Solidarität. „Das ist endlich ein Test
für die Glaubwürdigkeit“, meint Paolo Scudieri,
Chef des Verbands der Autozulieferer in Italien, An-
fia. Dazu gehört die übereinstimmende Forderung
nach Euro-Bonds, die nun Corona-Bonds heißen.
„Jetzt wäre die Gelegenheit, etwas Ähnliches wie in
den USA zu schaffen, einen gemeinsamen Haus-
halt, der im Krisenfall ins Defizit gehen kann“,
meint Cottarelli. „Wer glaubt, dass jedes Land in
Europa im Alleingang vorgehen kann, hat nichts
von der Welt kapiert, in der wir leben“, so der Öko-
nom Andrea Boitani.
Rom im Stillstand:
Die Situation ist kritisch.
Faktencheck Italien
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Veränderung zum Vorjahr in Prozent
Staatsverschuldung
in Prozent des BIP absolut
in Mrd. €
Anteil der Staatsverschuldung an der
Verschuldung der Euro-Zone
Privatverschuldung im 3. Quartal 2019
(Unternehmen und Verbraucher)
in Prozent des BIP
Haushaltssaldo
in Prozent des BIP
Leistungsbilanz
in Prozent des BIP
HANDELSBLATT
Quellen: Thomson Reuters, Bloomberg,
EU-Kommission, BIZ
+2
+1
±0
-1
-2
-3
+0,1 %
0,0
2 421
2,9 %
1 9 20
2010 2019
136,2 %
2010 2019 2010 2019
150
120
90
60
30
0
Euro-Zone
gesamt:
Italien
2 420, 7
Mrd. €
Anteil:
23,6 %
10 260,8
Mrd. Euro
-2,2 %
2010 2019
2019
0
-1,5
-3,0
-,5
2
0
-2
-
2010
Italien
Spanien 110,5 %
Griechen-
land
REUTERS
Um die
Wirtschaft zu
stützen, kann
man im
Moment nichts
anderes tun,
als das
Defizit zu
erhöhen.
Carlo Cottarelli
Ökonom