Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.03.2020

(Joyce) #1
Nicht „allein in den Amtsstuben der zu-
ständigen Ministerien“ werdeWissen-
schaftspolitik betrieben:Nein, „die Art
und Weise, wie jeder einzelneWissen-
schaftlerForschung und Lehre“ praktizie-
re,sei schonWissenschaftspolitik. Sigrid
Weigel sagtedies, als sie 2016 mit dem
Aby-Warburg-Preis der Stadt Hamburg
ausgezeichnetwurde. Dabei dachte sie an
die„Geistespolitik“desBegründersderbe-
rühmten Bibliothek.Ganz hanseatischbe-
griffsie WarburgsKulturwissenschaftals
einen der „erfolgreichsten Exportartikel“
der deutschsprachigenFächer.
In HamburghatteSigridWeigel mit ei-
nem Beitrag zur politischen Literaturge-
schichtsschreibung die Gelehrtenrepublik
betr eten, die nach1968 in zweiTeile zer-
fiel:dereinegelehrt,aberwenigrepublika-
nischgesinnt, der andereunter Einbußen
an Gelehrsamkeit politischaktiviert. Von
Anfang an zeichnete sichSigridWeigel
durch das Bemühen aus, die beidenTeile
zusammenzuführen. In ihrer Dissertation
zur Flugschriftenliteratur in Berlin 1848

zeigtesie, das snicht jede Mauer eingeris-
sen werden muss,wenn sie sichdoch her-
vorragend eignet, Plakateanzuschlagen.
Die Fragenach„Geschichte und Öffent-
lichkeit einer volkstümlichen Gattung“
setzt eTon und Thema. Auch das Verfah-
ren,dasimTeildasGanzeerkennt,warda-
mit ausgeflaggt.
WieSchreiben sichauchhinter Gefäng-
nismauernalsfreibegreifen konnte ,analy-
sierte SigridWeigel in ihrem zweiten
Buchüber Literatur,die in Kerkernent-
stand. Im langen neunzehnten Jahrhun-
dertsuchte die „bleierneZeit“ der Siebzi-
gernachSelbstdeutung. In denZellen
hingdieStickluf tderRestauration. DieLi-
teraturwissenschaftlerin suchte nicht al-
lein die langbärtigen Sozialrevolutionäre
in ihrer Dunkelhaftauf, sondernauch
WeraFignerundRosaLuxemburg.Diefol-
genden Untersuchungen zu Geschlechter-
topographienwarendialektischgedacht:
nicht bloß die bleiche Ophelia, sondern
auchdie mächtigeMedusa.AbyWarburg
hättedas gefallen.

Als die Berliner Mauer fiel, verließ
SigridWeigel das linkeHamburgund be-
gann ihrenParcoursdurch die Institutio-
nen: dasKulturwissenschaftliche Institut
in Essen, das Deutsche SeminarinZ ürich,
dasEinsteinForuminPotsdam.1999über-
nahm sie in Berlin die Direktion desZen-
trumsfürLiteraturforschung.Dasersteau-
ßeruniversitäreForschungsinstitut für ihr
Fach macht esie zu einerweit aus strahlen-
den Marke der Kulturwissenschaften.
Als Arbeit an Übergängen begreift
SigridWeigel den kulturwissenschaftli-
chen Zuga ng. Die Öffnung der Literatur-
wissenschaftenwar ein Signal derStärke,
nicht derVerzagtheit. Während andere
über die unübersichtliche Pluralität klag-
tenoder die Grenzen trotzig geschlossen
haltenwollten, suchte die Direktorin des
ZfL das Gespräch, aus derÜberzeugung
heraus, dassdie Literaturwissenschaften
etwaszulerne nundetwasversch enkenha-
ben –auchimGabentauschmit den Bild-
wissenschaften. Sig ridWeigel wirdheute
siebzig Jahrealt. HENDRIKJE SCHAUER

D


as MuseoNacional Thyssen-
Bornemisza hat nur einen
Rembrandt in seiner Samm-
lung, das „Selbstporträt mit
Hut und zweiKetten“ von1642/43.Um
dieses Bildnis herum hat das Haus eine
Ausstellung zusammengebracht, nochim
Nach klang zum 350.Todestagimvorigen
Jahr.Dochesgeht bei denrund hundert
Gemälden und Grafiken nicht nur um
Rembrandt, sondernüberhauptumdie
Porträtmalerei in Amsterdam in den Jah-
ren1590 bis 1670.Vonihm selbstkom-
men rund vierzigWerke, darunter gut
zwanzigPorträts. So entsteht einreizvol-
les Panoptikum,gleichsam ein Gruppen-
bildnismitunmittelbarenVorläufern,Kol-
legen,Konkur renten undNach folger nim
niederländischen GoldenenZeitalter.
Als Rembrandt im Jahr 1631vonseiner
Geburtsstadt Leiden nachAmsterdam
zog, gabesinder größtenStadt der unab-
hängigen Niederlande eineriesigeNach-
frag enachPorträts. Eine enorme Anzahl
vonKundenwollten sichund ihr eFami-
lien als repräsentativen häuslichen
Schmuckgemalt haben. Der Bedarfkam
vomPatriziat,vonden urbanen Eliten der
Amts- undWürdenträger,aber auchvon
Bürgern,die in der prosperierendenStadt
ihreVermögen mit Handel und Gewerbe
gemacht hatten. Das nicht längervorwie-
gend kir chlichgebundene oder dem Adel
vorbehaltene, sondernprivate Bedürfnis
erstarktevorallemseit1578,mitdemEin-
zugdercalvinistischenHerrschaftin Ams-
terdam. BeredteZeugnisse dafür sind die
Gruppenbildnisse der Bürgergarden und
Bürgerwehren:DasGenrederniederländi-
schen Gruppenporträts erreicht seinen
Höhepunkt.Ambekanntesten wirdRem-
brandts „Nachtwache“von1642 werden,
die Darstellung der Amsterdamer Büch-
senschützengilde.
Es is tanzunehmen, dassdamalsTau-
sendevonPorträts in Amsterdam gemalt
wurden,vondenendieallermeistenverlo-
rengingen. Dochblieb ein beträchtlicher
Teil erhalten. Bis heute sind mehr als 130
der Maler identifizierbar,die vomEnde

des sechzehnten bis ins letzteDrittel des
siebzehnten JahrhundertsPorträts produ-
ziertenund vondenen manWerkekennt.
Die Preisewarenhoch: Ein Brustporträt
in Lebensgröße kosteteetwavierzig Gul-
den, ein Bildnis in Halbfigur sechzig Gul-
den und ein Dreiviertelporträt um die
achtzig Gulden; für hundertGuldengab
es ein lebensgroßes Ganzporträt.Zum
Vergleich: Ein einfacher Handwerkerver-
dientemaximal 250 Gulden im Jahr.
Als Rembrandt nachAmsterdam kam,
hatteer, heißt es, nochkein Porträtge-
malt.Dabei gabesinder Hauptstadt star-
ke Konkur renz, und sie hatteKlasse, wie
die in MadridgezeigtenWerkeeindrucks-
voll vorAugen führen: Cornelisvander
Voort, CornelisKetel und Jacob Backer
oder Aert und GerritPieterszlauten die
Namen der erfolgreichen Kollegen.
Nach Amsterdam wurde Rembrandt
vonHendric kvan Uylenburghgeholt, der
Kunsthändler und als solcherAtelier-Un-
ternehmerwarund ein wichtigerFörde-
rerRembrandtswurde.Uylenburghrekru-
tierte auchanderePorträtistenvonaußer-
halb, wieFrans Hals und später Govert
Flinckoder Ferdinand Bol, die beiRem-
brandt lernten.RembrandtbrachteUylen-
burghsWerkst att bis Mitteder dreißiger
Jahrezum Blühen. Die Einführung in den

lokalenMarktgelangihm mitderberühm-
ten „Anatomie des Dr.Tulp“, die er 1632
fertigstellte. Sie bildetdie Amsterdamer
Chirurgengilde ab, wie sie dem Doktor
bei der Arbeit an einer Leiche zuschaut.
Diese Kompositionwarvöllig neu–ese r-
eignete sicheine Handlung,Rembrandt
führte die Regeln der Historienmalerei in
das Gruppenporträt ein. Die erzähleri-
sche Struktur findetsichdann auch, so-
weit möglich, in seinenPorträts. Darin
sieht derKuratorder Schau,NorbertMid-
delkoopvomAmsterdam Museum, den
entscheidenden BeitragRembrandts zur
holländischenPorträtkunstseiner Zeit.
Im Museum Thyssen-Bornemisza hän-
genzehn frühePorträtsvon ihm aus den
dreißiger Jahren des siebzehnten Jahrhun-
derts beieinander,wie eine Phalanx, die
sichauchbeim virtuellenRundgang auf
der Websitegut abschreiten lässt (derzeit
istdas Museumgeschlossen):Neben zwei
hübschen, kleinformatigen Charakterpor-
trätsoder „Tronies“, für deren Modellge-
meinhin seine Schwester Elisabethvan
Rijn gehalten wird, gibt es dortetwadas
„Bildnis eines Mannes am Schreibpult“
von1631 (aus der Eremitage), auf dem
sichdas Gesicht des Herrn über dervolu-
minösen HalskrausevomAkt des Schrei-
bens wegdirekt dem Betrachter zuwen-

det. Undeshängt übrigens auch–zwi-
schen dem „Brustporträt eines alten Man-
nes in Phantasiekostüm“von1635 (aus
der Sammlungder englischenKönigin)
unddem„Porträt einesMannes (derDich-
terJan Harmensz Krul)“von1633 (aus
Kassel) –jenes „Bildnis eines jungen
Herrn“von 1633/34 im neumodischver-
schwenderischen Spitzenkragen und Puff-
ärmeln (in Privatbesitz), das erst vorzwei
JahrenRembrandt zugeschrieben wurde.
Hier trittRembrandtsKunsthervor, seine
Modelle aus einem, wie immervagenHin-
tergrund herauszuschälen, beinah plas-
tischfür die Betrachter sein zu lassen.
Den Rahmen, nicht bloß für diese klei-
ne Schönheitsgalerie, bilden ebendiePor-
träts seinerZeitgenossenvonMännern,
FrauenundFamilien,besondersdieGrup-
penporträtsder Gilden und bürgerlichen
Amtsinhaber in Amsterdam. Vonbemer-
kenswerter Lebendigkeitwarschon 1613
Jan Tengnagels Gemälde eines Banketts
der Kompanie des Capitain GeurtDircksz
vanBeuningen. Odervorständischem
Selbstbewus stseinberstendievie r„Vorste-
her der Amsterdamer Gold- und Silber-
schmiedegilde“ 1626/27 auf ihremPorträt
vonThomas deKeyser.Und Dirck Sant-
voorthält die „Leiterinnen undWärterin-
nen des Spinhuis“ 1638 imganzen Wis sen
um dieVerantwortung ihres Amtesfest.
Der Charme derAusstellung liegt in
dieserZusammenschau. Sie istein Streif-
zug durch acht Jahrzehnte,voller Streben
nachVirtuosität undkonkur renzbefeuer-
terDarstellungsfreude–auf Seiten der
Malerwie ihrer Modelle. Die eminente
Rolle Rembrandts wirdsichtbar,ohne
dassseine Kollegen in den Schatten trä-
ten, alle im Bemühen, die vielfältigen
Char akter eeinerflorierendenStadtgesell-
schaf tzuerfassen.

Rembrandt and AmsterdamPortraiture,
1590 –1670.Im MuseoNacional Thyssen-
Bornemisza, Madrid; bis zum 24. Mai. Die
Ausstellung istvorübergehendgeschlossen,
es gibt einen virtuellenRundgang auf der
Websitedes Museums. Der informative,
reichbebilderteKatalogkostet38 Euro.

SigridWeigel Foto Zentrum für Literaturforschung

Im Vollbewusstsein ihrerVerantwortung: Dirck Santvoortmaltedie „Leiterinnen und Wärterinnen des Spinhuis“ 1638. FotoAHM

Kritische LiteraturgeschichteGmbH &Co. KG


Die Literaturwissenschaftlerin SigridWeigel wirdsiebzig


Ein „völlig neues Kapitel Gesell-
schaftspolitik“habedasBundesverfas-
sungsgerichtmitseinem„Paradigmen-
wechsel in einerFrageauf Leben und
Tod“ auf denWeggebracht. Schon
jetztzeichnesichab, das sdasKarlsru-
her Urteil zur Suizidhilfevom 26.Fe-
bruareinevonsolchenhöchstrichterli-
chen Entscheidungen „in derVergan-
genheit oftbewirkt eBefriedungder
Debatte“diesmalnichterreichenkön-
ne. Stattdessen löse es „offenen Wi-
derspruchnicht nur im Bundestag“
aus. Es istinsgesamt ein Szenario des
politischenWiderstands, das Michael
Brand entwirft,einer der Initiatoren
des fürverfassungswidrig erklärten
Paragraphen 217 des Strafges etz-
buchs, wie er 2015vomDeutschen
Bundestag mit großer überparteili-
cher Mehrheitverabschiedetwurde.
Es sei „offen“, so Brand, ob es bei der
anstehendenNeuregelung der Suizid-
hilfezueinem„Vollzug“derVorgaben
aus Karlsruhe kommenwerde.
Das Urteil,erklärtBrand in der
April-Nummer derkatholischenZeit-
schrif t„HerderKorrespondenz“,wer-
de „aufrechtliche wie praktische Pro-
bleme treffen, nicht zuletzt auf er-
heblichenWiderstand in der Ärzte-
schaft“. Ob jetzt für ein neues,ver-
fassungsgemäßes Suizidhilfe-Gesetz
„nur nochprozedurale Kriterien als
Regelungsgegenstand“ offenblieben,
sei im Bundestag, dem das Gericht
„engeFesseln“ angelegt habe, derzeit
eine zuRecht gestellteFrage.Gegen-
über einer solchen Prämisseformiere
sichein parlamentarischer Boykott:
„Daranwollensichviele Abgeordne te
nicht beteiligen.“
Dochwassch webtdemCDU-Abge-
ordne tenBrand vor, wenn er mit ei-
ner Rhetorik derVerweigerung den
Vollzug derKarlsruher Anweisungen
in Fragestellt? Soll der Gesetzgeber
etwa ein zweites Mal amVerfassungs-
gerichtscheitern?Undwelche ande-
renKriterien neben „nur nochproze-
duralen“ sollen bei einerNeuregelung
durchschlagen? Das zu erfahren wäre
informativ.Dann würde auchdas
„nur noch“ im Zusammenhang mit
„prozedural“ begründungspflichtig.
Denn dievomZweiten Senat skizzier-
tenprozeduralen Kriterien für eine
möglicheRegulierung der Suizidbei-
hilfelaufen nicht inhaltlichleer.Sie
sollen,wenn sie vomGesetzgeber
berücksichtigtwerden, dem Lebens-
und Autonomieschutz dienen.
IndiesemSinnelegtdasGerichtge-
setzliche Prozeduren nahe zur Prü-
fung derFreiverantwortlichkeit eines
Suizidwunsches, zur Aufklärungs-
pflich tüber Alternativen, zur Hem-
mung vonmöglichen Pressionen
durchDritte.DievonBrandalsZumu-
tung dargestellteVorgabe, entlang
vonprozeduralen Kriterien zu einer
Neuregelung zukommen, soll nach
dem einstimmigenWillen der Richter
gerade jene Risiken minimieren hel-
fen, welche Brand selbstwie folgt be-
schreibt:„die Risiken vonMiss-
brauch,So gwirkungsowiezunehmen-
dem Druckinsbesondereauf vulnera-
ble, alteoder physischwie psy chisch
erkrankteMenschen“.Warumman
um solcher Risikominimierung willen
nicht in dievonKarlsruhe nahegeleg-
tenRegelung prozeduralerRestriktio-
nen einsteigen möchte, erschließt
sichnicht.Aneiner grundsätzlichen
Freigabe vonSterbehilfevereinen
wirdder Gesetzgeber nachder Ent-
scheidung des Zweiten Senats jeden-
falls nicht herumkommen.
Es wirdsichzeigen, ob durch die
Zulassung solcher untergesetzliche
Auflagen gebrachterVereine schon
das behauptete „völlig neueKapitel
Gesellschaftspolitik“ geöffne twird.
Brand zeigt sichdavonüberzeugt:
„Es is tempirisc hnachg ewiesen, dass
geschäftsmäßigeAngebo te zu mehr
Suiziden führen, über die sehr kleine
Zahl derer hinaus, die dies involler
Selbstbestimmung tun.“ Wobei
Brand selbstdaranerinnert, dassSui-
zid und Suizidbeihilfenicht erst,wie
vielfachfalschdargestellt oder nahe-
gelegt wird, erst durch Karlsruhe ent-
kriminalisiertworden seien.
Es warvielmehr dervonBrand mit
initiierte und nun für nichtig erklärte
Paragr aph 217 desStrafgesetzbuchs,
in dem „Suizid wie Suizidassistenz
grundsätzlichstraffrei blieben“,wo-
mitbeispielsweiseAngehörigenexpli-
zit die Beihilfezur Selbsttötung ihrer
Verwandten alsrechtenseingeräumt
wurde, mit allen Pressionsrisiken, die
auchdamiterwiesenermaßen verbun-
den sind.Vondaher dürftedie Rede
vomKarlsr uher „Paradigmenwech-
sel“mitVorsichtzugenieße nsein,zu-
mindestrelativiert sie sich.
Aufschlussreichbleibt, wasBrand
schon zum jetzigenZeitpunkt über
die parlamentarische Meinungsbil-
dung in Sachen Suizidhilfe-Regelung
mitteilt:„DieEntscheidungimParla-
ment,das scheint sicher, wirdsich
einmal mehrüberdie Fraktionsgren-
zen hinwegineiner Gewissensent-
scheidung herausbilden.“Insoweit
stünde eine „gesellschaftlic hwie ver-
fassungsrechtlichbedeutsameDebat-
te“bevor.AmEndewirdeine Rege-
lung stehen, in die beides eingeflos-
sen ist: Gewissensbildung und Ge-
richtsurteil. CHRISTIANGEYER

Wenn Spanieneinigermaßen durch
die Finanzkrisevon2008 gekommen
ist,ohnedassdieArmenundBenach-
teiligten auf die Barrikaden gegan-
genwären –soeine häufiggeäußerte
Meinung –, lag es auchander immer
nochengen Beziehung zwischen den
Generationen. AndersalsinDeutsch-
land und manchen anderen Ländern
des nördlichen Europas nämlicheint
im katholischen Spanien einfester
sozialer Kitt Großeltern, Elternund
Kinder.Umdas zu erkennen, genügte
früher ein BlickinRestaurants und
Cafés auf öffentlichen Plätzen.
Ausgerechnetdiese Verbindung,
auf die das LandwegenfehlenderSo-
zialeinrichtungen schon seit langem
angewiesen ist, hat dasVirusbrutal
gekappt: Die Großelterndürfennicht
mehr auf die Kleinen aufpassen, die
mittlereGenerationkann die Alten
nicht nachHause holen,kurz:Die
spanische Großfamilie als essentielle
soziale Einheit hat in einerZeit, in
der das Heil instrengsterIsolation
liegt, vorläufig ausgedient.Indiesem
Verkümmernlassen ausVorsicht be-
reiten sichkommende seelische
Krankheiten einer ganzen Gesell-
schaf tvor.
„Wir erleben mit unserenFamilien
gerade ein tägl iches soziologisches
Experiment“,schreibtmirdieJourna-
listin Beatriz Álvarez, die schon seit
langemHomeofficebetreibtundjetzt
mit Mann und BabyzuHause ist. Um
in der kleinenWohnungnicht durch-
zudrehen, hat dieFamilie sichRegeln
gegeben: Morgens teilen sie den Ar-
beitstagein, schauen nur nochzu
bestimmten Uhrzeiten aufsSmart-
phone, sehen nur nocheine einzige
Nach richtens endung, nicht fünf,
schaf fenZeit für sAufräumen,geben
sichMühe mit demAbendessen und
so fort.Neue Softwarefür Videokon-
ferenzen machtdie Runde; jeder will
verbunden bleiben. „Und um 20
Uhr“, sagt Beatriz, „gehtganz Spa-
nien auf die Balkone, um mit Ap-
plaus den Ärzten, Krankenhäusern
und Pflegedienstenzudanken.“ Cha-
rakter formtsichanSonntagnachmit-
tagen, hat der baskische Schriftsteller
Ramón Edergesagt. Für vi ele hat der
ewigeSonntagnachmittaggerade er st
angefangen.
Die MadriderFreundesgruppe, der
Beatriz Álvarezangehört, traf sich
früheralle vierWochen zueinem lan-
genAbendessen. Jetzt schickendie
einzelnenMitgliederüberdie Social
Media alarmierendeNachrichten aus
einerHauptstadtunterAusgangssper-
re.Vor wenigen Tagenhat einer der
Freunde seinenVaterverloren, einer
der vielen Alten, die nichtgerettet
werden konnten. Aber durch den
Chat liefvonAnfang an aucheine
kräftigeUnter strömungvonWitz-
und Spaßvideos. Es istGalgenhumor
angesichts einerNotsituation, die in
Madrid jede Normalitätverschlun-
genhat.Wenn schonganz Spanien
die Os terprozessionen absagen muss,
das so inbrünstig gefeierte Ereignis,
aufdassic hdieGemeindenzwölfMo-
natelang vorbereiten,kann manwe-
nigstens über denStaubsaugerrobo-
termit aufmontierterJungfrauMaria
lachen, der zu denfeierlichen Klän-
gender banda de música durchshei-
mischeWohnzimmer wirbelt.
Ein anderesVideo zeigt einen al-
tenMann im Seniorenheim,der sich,
weil es überall an Desinfektionsmit-
telfehlt, mit Whiskyseelenruhig Ge-
sicht, Haar und Hände einreibt.Ge-
lächter im Hintergrund. Die Grob-
heit is tjanicht neu, siekönnteindie-
sen finsterenZeiten aber zumStan-
dardwerden: Mitleid und Solidarität
in einem Moment, Albernheit und
Sarkasmus im anderen.
Natürlic hist esauc hdieStunde der
Kolumnisten, der Starautoren, die
ihreLeser Wochefür Woche auf den
Kultursei tenderspanischenTageszei-
tungenansprechen.Der Schriftsteller
Julio Llamazares hatgerade in der
Zeitung „El País“ einen düsteren
Blicknachvorngeworfenund an den
Satz vonStephen Hawking erinnert,
die Menschheitwerdenicht durch ei-
nen Atomschlag, sonderndurch ein
Viruszugrundegehen.Warum, fragt
Llamazares,geben wir dann sowenig
für medizinische Forschung aus –
undimmernochsovielfür neueWaf-
fensysteme?
Unterdessen hat das Sportmassen-
blatt„Marca“inseinerOnline-Ausga-
be einen langen Artikel über dasAuf-
gebotder spanischenFußball-Natio-
nalmannschaftfür diePartien gegen
Deutschlandund dieNiederlandever-
öffentlicht.Lustig, nichtwahr? Jede
Position wirdPunkt für Punkt durch-
gegangen. Ach, die Spiele sind abge-
sagt? DerNationalcoachLuis Enri-
queist nicht einmalvordie Pressege-
treten? Das stört„Marca“ wenig.
Wenndie Sport-Streamingdienste ge-
rade magischePartien aus früheren
Jahrzehnten senden, um dieFußball-
pause zu füllen, dann darfman auch
an Mannschaftsaufstellungen für
Phantasiespiele basteln, die niestatt-
finden werden. PAULINGENDAAY


Amsterdam


zog die Maler an


Washeißt


hier „nur“?


EinAbgeordne ter


zumSuizidhilfe-Urteil


Alle auf die


Balkone


Madrid isteine Stadtim


Ausnahmezustand


Das Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid


zeig tvirtuelldie Porträtkun st Rembrandts und


seinerKollegen/Von Rose-Maria Gropp


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH, 25.MÄRZ 2020·NR.72·SEITE 11

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