Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
Auch Stückls Vater Peter ist da. Er ist 79,
dies wäre seine 10. Passion.
Ein Oberammergauer Leben bemisst
sich nicht in Jahren, sondern in Passions-
einheiten. Die Passion stiftet Freundschaf-
ten, Liebesbeziehungen, sie verbindet die
ganz Alten mit den ganz Jungen. Sie löst in
den Leuten das Gefühl aus, Teil von etwas
zu sein, das größer ist als sie selbst. Die
Passion erinnert sie daran, warum es Sinn
hat, in diesem Dorf zu leben. Die meisten
stutzen, wenn man sie fragt, was sie vom
Mitmachen abhalten könnte. Ihnen fällt
nichts ein. Gut, abgesehen von Dingen der
höheren Gewalt. Todesfälle, Krankheiten.
Aber wann gibt’s das schon.
Ausgefallen ist die Passion nur zweimal.
1770 in den Wirren der Aufklärung und
1940, während des Zweiten Weltkriegs. Ein
paar Mal kommt es zu Verschiebungen,
1920 etwa, vor genau hundert Jahren, als
nach dem Ersten Weltkrieg zu viele gefallen
waren, da verschob man auf 1922.
Bemerkenswert oft klappte es wie geplant.
Die historische Gästeliste der
Passion: Kaiserin Elisabeth von
Österreich war da, Märchenkö-
nig Ludwig II., Henry Ford, Graf
Zeppelin, Jean-Paul Sartre, Si-
mone de Beauvoir. Auch für
2020 sind die Einladungen an
die Ehrengäste raus, und: Die
Spiele sind praktisch ausver-
kauft. Eine halbe Million Karten.

Szene 7: Die Mutter


Maria muss repräsentieren. Das
gehört auch zur Passion, des-
halb sitzt Eva Reiser an diesem
Abend Mitte Februar in der Bay-
erischen Vertretung in Berlin.
Ein Komitee aus Oberammer-
gau ist eingeladen, vor Ministeri-
albeamten und neugierigen Exil-
Bayern über die Spiele zu
sprechen. Je näher die Premiere
rückt, desto häufiger haben sie
solche Termine. Was Reiser erzählt,
scheint gar nicht so wichtig zu sein, die Gäs-
te schauen die lächelnde Maria einfach
gern an, so wie sie auch den Jesus gern an-
schauen. „Eva Reiser spielt die Mutter-
gottes, und auch sonst schwebt sie über
den Wolken, denn sie ist Flugbegleiterin“,
stellt sie der Moderator vor. Mit 35 könnte
sie zwar weder die Mutter von dem einen
noch von dem anderen Jesus sein, aber da-
für spielt sie mit warmer, klarer Stimme.
Und ihr liegt der Smalltalk, den kennt sie
aus dem Flugzeug. Selbst über mittelgute
Witze lacht sie in Berlin freundlich.
2010 spielte Reiser die Maria Magdale-
na und dachte schon, besser geht’s nicht
mehr. Maria Magdalena ist eine tolle Rolle,
unangepasst, wild, jung. Jetzt ist Reiser
zwar immer noch jung, aber das Leben
doch ein anderes. Sie fliegt die City-Line
der Lufthansa, jeden Tag drei, vier, fünf eu-
ropäische Städte, Frühstück in Marseille,
die Nacht in Kopenhagen. Oberammergau

ist das Zuhause, an dem ihr die Welt kurz
egal sein kann, zumindest ist das Mitte Fe-
bruar noch so. Ein paar Monate zuvor starb
ihr Vater, sie war bei ihm in den letzten Ta-
gen. „Ich spüre, dass mir das die Rolle der
Maria sehr nahebringt“, sagt Reiser. Sie
weiß, wie es ist, jemanden gehen lassen zu
müssen. Bei den Proben überwältigt es sie
ab und an. „Aber ich glaube, manchmal
muss man dahin, wo es wehtut. Die Maria
zu spielen, ist ein bisschen wie Therapie.“
Eva Reiser hat sich von April bis Okto-
ber beurlauben lassen. Fliegen geht nicht
in Teilzeit. Sie passt ihr Leben im Passions-
jahr dem Spiel an. Der Eigenbetrieb Ober-
ammergau Kultur, Veranstalter der Passi-
on, zahlt jedem Spieler ein Honorar, um
den Verdienstausfall im Beruf, so gut es
geht, zu kompensieren. Jeder soll sich die
Teilnahme leisten können. Geld sollte da
sein, die Passion ist neben dem Tourismus
der größte Wirtschaftsfaktor des Orts. Für
2020 rechnet man eigentlich mit Einnah-
men um die 31 Millionen Euro. Mit dem Vi-
rus aus China rechnet niemand.
Am 24. Februar erklärt die
WHO, es handle sich bei dem
Ausbruch nicht um eine Pande-
mie. Noch verbreite sich Corona
nicht unkontrolliert in der Welt.

Szene 8: Der Glaube


Zwei Tage später, Aschermitt-
woch, 10 Uhr, Kreuzprobe mit
Jesus-Darsteller Frederik May-
et. Zwischen malernden Hand-
werkern und einem Eimer Esel-
kot steigt er in Jeans und Pulli
auf einer Leiter ans stehende
Kreuz. Er lässt sich festmachen.
Sein Kopf schwebt für den
Geschmack des Bühnenbild-
ners zu weit oben, Jesus soll ein
wenig mehr zusammensacken.
Mayet wird tiefergelegt. Damit
es sich halbwegs schmerzfrei
hängt, muss ein Kreuz gut an-
gepasst sein. Die beiden unterschiedlich
großen Jesus-Darsteller aber teilen sich ei-
nes, aus Effizienzgründen. Sonst liege hier
im Theater ja so viel herum, sagt einer der
Schreiner, der gerade an seinem eigenen
Kreuz bohrt. Er spielt einen der Schächer,
die neben Jesus hängen. Vor der Kreuzi-
gungsszene ziehe man einen Sicherheits-
gurt unter den Lendenschurz an, erklärt
er, wie beim Fallschirmspringen. Wenn
das Kreuz aufgerichtet wird, sagt Mayet,
denke er trotzdem jedes Mal, er kippe ein-
fach vornüber in den Zuschauerraum.
Mayet weiß um seine Verantwortung, er
spielt den Superhelden des Christentums.
Und überhaupt: Ohne Glaube kein Gelöb-
nis, ohne Gelöbnis keine Passion. Die Passi-
on lag zwar von Beginn an in den Händen
der Gemeinde, war also nie eine Kirchen-
veranstaltung. Die Kirche mischte sich
natürlich trotzdem ein, bis 2010 gab es ei-
nen sogenannten „Patronatsvertrag“, der
es dem Bischof theoretisch erlaubte, in die

Regie einzugreifen. Zur Passion gingen lan-
ge eher jene Kirchgänger, die auch nach
Lourdes pilgerten. Auf Mission ist in Ober-
ammergau heute niemand mehr. „Aber
auf eine Weise muss sich das, was wir auf
der Bühne erzählen, im eigenen Leben wi-
derspiegeln“, sagt Stückl vorsichtig. „Ich
leb die Bibel nicht hundertprozentig. Aber
der Passionstext geht über einen Theater-
text hinaus für mich.“ Der Text macht die
Spieler nicht religiöser, aber doch emp-
fänglicher für so etwas wie einen größeren
Zusammenhang der Dinge. Oder die Schön-
heit von Gemeinschaft. Möglicherweise ist
beides sowieso dasselbe.

Szene 9: Die Vorzeichen


Die Passion absagen, wegen eines Virus?
Niemals. Es ist dann auch erst mal ein ge-
wöhnlicher Infekt, der Stückl Anfang März
niederstreckt. Zum ersten und einzigen
Mal sagt er eine Probe ab, er schläft zwölf
Stunden durch. „Hast du schon gehört?
Den Christian hat’s gscheit erwischt“, re-
den die Leute am Morgen im Dorf. Am
Nachmittag aber sitzt der Christian schon
wieder in seinem Atelier, schniefend.
Nichts, was sich nicht mit Cola, Schmerz-
tabletten und Zigaretten richten ließe.
Stückl gibt ungern die Kontrolle ab. Dass
sie ihm gewaltsam entzogen werden könn-
te, das wird nun immer wahrscheinlicher.
Täglich steigt nun auch in Deutschland die
Zahl der Corona-Infizierten.
Die Planungen der langmütigen Ober-
ammergauer werden eingeholt von einem
unheimlich schneller werdenden neuen
Rhythmus. Am 5. März sagt Oberammer-
gaus Bürgermeister Arno Nunn: „Wichtig
ist, die Ruhe zu bewahren. Wir fahren auf
Sicht.“ Hände schütteln da noch alle.
Fünf Tage später müssen alle Theater
schließen. Für die Passion geprobt wird
jetzt in kleinen Runden, alte Menschen dür-
fen zu Hause bleiben.
Am 12. März wird der erste Corona-Fall
im Landkreis Garmisch-Partenkirchen
gemeldet. Die strengen Restriktionen der
Regierung gelten bis 19. April. Das ist nicht
der 16. Mai. Bayern glauben ja gerne, dass
sie weniger verwundbar sind als andere.
Aber will man es drauf ankommen lassen,
dass sich Menschen anstecken? Gegen das
Virus ist der Mensch machtlos, selbst ein
Jesusmacher. Stückl sagt: „Ich hab schon
im Büro Sudoku gespielt. Du kannst nichts
machen. Nichts.“

Szene 10: Der Tod


Die Passion kurz vor der Premiere abzubre-
chen, das wäre wie Luft holen und dann
nicht zu singen. Es hieße, Texte wieder zu
vergessen, Haare zu schneiden. Niemand
in Oberammergau will das. Niemand will
das. Am Dienstagabend dieser Woche kom-
men die Spieler und Stückl auf der Mittel-
bühne des Passionstheaters zusammen.
Da ist genug Platz, Abstand zu halten, so,
wie man das jetzt machen muss, obwohl da

gerade noch so viel Nähe zwischen ihnen
war. Eva Reiser kommt vom Flughafen, wo
sie schon an Kurzarbeitsmodellen für Flug-
begleiter arbeiten. Sie ist nervös, wäscht
sich ständig die Hände. „Ich will nicht die
sein, die die Pest ins Dorf bringt.“ Stückl
sagt bei dem Treffen: „Wir werden spie-
len.“ Und: „Lernt euren Text!“ Eva Reiser
möchte dem Spielleiter weiter folgen, wie
in Israel, alle ihm hinterher, bis zum Ziel.
Aber sie ahnt, dass diese Reise hier endet.
Einen Tag später werden die Passions-
spiele abgesagt.
Zu riskant, heißt es, das Gesundheits-
amt beruft sich auf das Infektionsschutz-
gesetz. Die Oberammergauer mögen noch
an ein Wunder geglaubt haben, aber es ist
ihnen keine Wahl geblieben. Gemeinderat
und Spielleitung stimmen der Absage zu.
Es sei auch eine Erleichterung, sagt Stückl,
endlich Klarheit. Am Donnerstag wird die
Öffentlichkeit informiert, bei einem Pres-
segespräch vor dem Theater. An jenem
Ort, an dem vergangenes Jahr der Bart-
erlass verkündet wurde. Es ist wieder ein
sonniger Märztag in Oberammergau.
Die Passion ist 2020 zwar zum ersten
Mal versichert, die bisher geleisteten Aus-
gaben sind womöglich gedeckt. Aber da ist
ja auch noch das Leben. Eva Reiser, die
Flugbegleiterin, weiß nicht, ob sie einfach
in ihren Beruf zurückkann, sie ist jetzt un-
bezahlt beurlaubt. Die Geschäfte im Ort,
die Hotels und Restaurants stellen sich auf
ein schlimmes Jahr ein. Die Menschen sind
erschlagen, aber nicht einmal gemeinsam
weinen und einander umarmen geht an
diesem Tag, sie dürfen ja nicht mehr. Und
die Friseurläden, zu denen sie jetzt wenigs-
tens wieder gehen dürften: geschlossen.

Szene 11: Die Wiederauferstehung


Vom Dorf aus führt ein Weg auf eine Anhö-
he, eine Marmorstatue steht da. Jesus am
Kreuz, daneben Maria und Johannes, die
Gesichter im Schmerz verzerrt. König
Ludwig II. besuchte 1871 eine Privatvorstel-
lung der Passionsspiele, völlig entzückt
schenkte er dem Ort die Statue. Monumen-
tal und unverwüstlich, ein bisschen grö-
ßenwahnsinnig. Wie die Passion.
Wer hier in diesen Tagen hochkommt,
hört es zwitschern und summen, der Früh-
ling ist da. Ruhig liegt unten das Passions-
theater, vor dem schon die Krokusse blü-
hen. Noch ruhiger wird es werden, wenn
erst alle Kreuze verräumt, die Bühnenbil-
der eingelagert und die Werkstätten ge-
schlossen sind. Stückl wird bald weiter am
Text arbeiten. Die Spiele sind ja nicht abge-
sagt, sie sind verschoben. Und was sind
schon zwei Jahre Warten bei zehn Jahren
Vorbereitung, bei fast 400 Jahren Ge-
schichte? Die Menschheit hat schon ganz
andere Krisen überstanden, die Passion so-
wieso. Und während die Welt sich gerade
von Tag zu Tag hangelt, ohne Halt, haben
die Oberammergauer ihr neues Ziel schon
wieder fest im Blick: die Wiederauferste-
hung der Passion, am 21. Mai 2022.

Man
rechnet
mit vielen
Gästen.
Mit einem
Virus
rechnet
niemand

Frederik Mayet, 40,
darf schon zum
zweiten Mal den
Jesus spielen. Nebenbei
ist er Pressesprecher
der Passionsspiele – und
plötzlich immer öfter
auch Krisenmanager.

Ins Passionstheater
passen rund 4500 Men-
schen, knapp eine halbe
Million Gäste hatten
sich für die Spiele 2020
angekündigt (oben). Seit
Monaten laufen die
Vorbereitungen – wie
etwa in der „Flügelei“
(unten), in der Requisi-
teurinnen für die Engel
riesige Flügel aus
Tausenden Federn
zusammenstecken.

Eva Reiser, 35,
spielt die Maria. Sie
ist Flugbegleiterin
und hat sich für die
Passion beurlauben
lassen. „Es wird schon
irgendwie weitergehen
jetzt“, sagt sie.

DEFGH Nr. 68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 BUCH ZWEI 13


Über allem wacht der
nimmermüde Spiellei-
ter Christian Stückl
(oben), hier aus-
nahmsweise in Jacke.
Sogar der Passions-
Esel Sancho (unten)
wirkt halbwegs enthu-
siastisch und nimmt
Kontakt mit Jesus-
Darsteller Frederik
Mayet (mit Mütze)
auf, bevor er ihn nach
Jerusalem trägt.
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