Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1

Die Corona-Krise trifft nicht nur Galerien
und Kunstmessen, sondern auch die Auk-
tionshäuser. Viele deutsche Firmen haben
ihre Auktionen ganz eingestellt und alle
Termine verschoben, meist bis Ende Mai.
Einige Häuser verlegen ihre Auktionen
aber ins Netz, so das Wiener Dorotheum
und Ketterer. Sotheby’s will noch einige
Auktionen in London durchführen, doch
die meisten anderen Filialen sind ge-
schlossen. Christie’s hat am Mittwoch und
Donnerstag in London seine vorläufig letz-
ten Auktionen veranstaltet – in nahezu lee-
ren Sälen. Wir sprachen mit Dirk Boll,
dem Chef von Christie’s für Europa, Nah-
ost und Afrika, über Alternativen zur klas-
sischen Live-Auktion.


Per Telefon bei Auktionen mitzubieten,
das gibt es seit langem. Wie genau funkti-
onieren Online-Auktionen?
Man muss unterscheiden zwischen Live-
Auktionen, die man per Stream verfolgt,
und Online-Only-Auktionen.
Reden wir über letztere.
Das ist genau wie Ebay. Es gibt eine Frist
von ein paar Tagen, und wenn sie abgelau-
fen ist, bekommt der Höchstbietende das
Objekt. Es gibt keinen Auktionator, und
man kann das Objekt nicht besichtigen.
Bei diesen Auktionen gibt es eine klare
Wertschwelle nach oben. Das funktioniert
bislang nur im mittleren und unteren
Preisniveau. Sehr kostbare Werke kann
man so nicht verkaufen.


Könnte das Ihr Geschäft jetzt nicht trotz-
dem retten?
Wenn Sie eine Auktion, die Sie als Live-
Auktion konzipiert haben, ins Internet
schieben, bewegen Sie sich in ein ganz an-
deres Rechtsgebiet. Das ist streng genom-
men keine Auktion mehr. Nach der deut-
schen Versteigerungsverordnung und
den Pendants in anderen Ländern
braucht eine Auktion einen Auktionator.
Reine Internetauktionen fallen unter das
Fernabsatzgesetz. Das bedeutet, wir müss-
ten mit jedem Einlieferer einen neuen Ver-
trag machen. Das ist bei großen Auktio-


nen nicht wirklich machbar.
Auktionen im Saal entfesseln Bieter-
kämpfe, es gibt Applaus, überstürzte Ent-
scheidungen. Online fällt das alles weg.
In der Saalauktion haben Sie eine starke
zeitliche Komponente. Sie bieten, dann
bietet jemand höher, und dann schaut der
Auktionator Sie an, und Sie müssen ent-
scheiden, ob Sie noch mal höher bieten.
Online ist das alles gestreckt. Die emotio-
nale Seite ist viel geringer, leider.
Die andere Variante sind Live-Auktionen,
die man am Bildschirm verfolgt. Wie
sieht das aus?
Wir dürfen die Besucher nicht zeigen. Sie
sehen also nur den Auktionator und ein
paar Christie’s-Mitarbeiter. Und in einem
Extrafenster sehen Sie das Objekt. Was
Sie aber mitbekommen, ist die Atmosphä-
re im Saal, und wie der Auktionator seine
Gebote reinholt. Und sie sehen, ob die Ge-
bote von Saalbietern kommen, von Tele-
fonbietern oder von Internetbietern. Das
ist viel mehr als bei einer Online-Auktion.
Könnte man die nächsten Live-Auktio-
nen nicht einfach vor leerem Saal durch-
führen und in die Welt streamen?
Das hatten wir diese Woche in London
praktisch schon. Wir hatten heute fünf Be-
sucher im Raum, gestern waren es drei.
Aber am Telefon und online waren über
500 Leute dabei. Das Auktionshauses Auc-
tionata in Berlin hatte dieses Prinzip zum
Geschäftsmodell gemacht. Die hatten ein
Filmstudio in Potsdam und haben ihre
Auktionen abgefilmt und online gezeigt.
Wer wollte, konnte die Auktion im Studio
besuchen. Damit war die juristische Anfor-
derung, dass die Auktion öffentlich zu-
gänglich sein muss, erfüllt. Wir könnten
das jetzt auch machen, aber wir finden, es
ist nicht der richtige Moment.
Die großen Auktionen in New York und
London sind große Gesellschaftsevents.
Waren sie nicht schon vor der Corona-Kri-
se ein bisschen anachronistisch?
Von außen mag das so aussehen. Die Ge-
sellschaft trifft sich, dann geht man in ein
elegantes Restaurant. Aber eine Auktion
ist auch eine Meeting-Plattform, wo sich
die Industrie trifft, die Szene, wo man In-
formationen austauscht und erfährt, wo
der Markt steht. Im Auktionssaal hat man
eine ganz andere Wahrnehmung von der
Tiefe der Nachfrage. Es kann sein, dass
ein finanzkräftiger Bieter einsam gegen ei-
ne hohe Reserve geboten hat, oder dass 20
Bieter mitgeboten haben. Im Auktions-
saal sehen Sie das. Und Sie sehen, welche
Galeristen oder Händler bieten. Auktio-
nen erfüllen eine wichtige Funktion für
die Marktteilnehmer, ganz gleich ob es
professionelle oder private Sammler sind.
Als Treffpunkt und als aktuelle Wasser-
standsinformation.

interview: jörg häntzschel

Dirk Boll.
FOTO: CHRISTIE'S

von ingo arend

A


IDS. Vier braune Buchstaben
auf grünem und gelbem Grund,
spiegelbildlich auf einer Lein-
wand angeordnet wie die zwei
Seiten eines Rohrschachtests.
„Great Aids“ – das Werk des Künstlerkol-
lektivs General Idea ruft eine Epidemie
auf, die 30 Jahre zurück liegt.
Eigentlich hatte die Berliner Galerie Es-
ther Schipper die Arbeit für einen Preis
von 50000 Euro aufwärts auf der Art Basel
Hongkong verkaufen wollen, die in diesen
Tagen hätte stattfinden sollen. Jetzt kann
man sie wenigstens im Netz bewundern.
Ein „Online-Viewing-Room“ soll die
schon vor einigen Wochen wegen Corona
abgesagte Messe nun ersetzen. Über 2000
Kunstwerke von 233 internationalen Gale-
rien sind auf dem virtuellen Marktplatz zu
sehen. Wer eine der virtuellen Kojen be-
tritt, wird eingeladen, auf einer leeren
Bank Platz zu nehmen und kann sich von
dort zu den gezeigten Werken klicken.
Die Online-Schau soll nicht nur helfen,
wenigstens einen Teil der Umsätze zu ret-
ten, sie soll auch die Präsenz der ins Wa-
ckeln geratenen Art Basel demonstrieren:
Was nicht live gezeigt werden kann, soll
das Publikum wenigstens im Netz sehen
können.
Ob die bislang gemeldeten Verkäufe ei-
niger Blue-Chip-Galerien wie Zwirner und
Gagosian die Hongkonger Geschäfte erset-
zen können, bleibt abzuwarten. Jedenfalls
ist es ein zweifelhafter Genuss, Werke der
Schweizer Malerin Miriam Cahn oder die
Abfallskulpturen der Hongkonger Bildhau-
erin Leelee Chan in gekrümmter Haltung
vor dem Bildschirm zu goutieren statt mit
Champagnerglas und charmanter Beglei-
tung daran entlang zu flanieren.
Die wichtigere Frage aber ist, ob diese
„aufregende neue Plattform“, wie die Mes-
se ihr virtuelles Surrogat nennt, die schlei-
chende Auszehrung der Mutter aller Kunst-
messen aufhalten kann, die sich nicht erst
seit gestern abzeichnet. Und die hat nicht

nur mit dem vermaledeiten Virus zu tun,
der Menschenleben genauso dahinrafft
wie – via Börsencrash – märchenhafte
Sammlervermögen.
Begonnen hatte alles im Sommer 2018.
Es war ein Donnerschlag, als sich 200 Uh-
renhersteller, allen voran die Firma
Swatch von der Luxusmesse Baselworld
zurückzog. Kunstfreunden dürfte der Na-
me damals kaum etwas gesagt haben. Da-
bei war diese Messe, nicht etwa die Art Ba-
sel, das wichtigste Standbein der Schwei-
zer Messegesellschaft MCH Group, die
2010 aus der Fusion der Messen in Zürich
und Basel entstanden war.
In der Folge musste MCH-CEO René
Kamm zurücktreten, der dem Unterneh-
men 20 Jahre lang vorgestanden und die
Baselworld gegründet hatte. Herumreißen
konnte Kamms Nachfolger Bernd Stadlw-
ieser das Ruder aber auch nicht. Kurze Zeit
später strich der frühere Chef des Uhren-
herstellers Mondiane drei weitere beliebte
Publikumsmessen.
Aber auch das half nicht, aus den roten
Zahlen zu kommen, die die Messe schon
seit 2017 schrieb. Im Frühjahr 2019 musste
Stadlwieser 35 der rund 900 Mitarbeiter
entlassen. Seit dem Ausbruch der Corona-
Krise hat die MCH Kurzarbeit angemeldet.
Der Betrieb ist faktisch zum Erliegen ge-
kommen.

Die diesjährige Baselworld, die ab Ende
April stattfinden sollte, wurde schon im Fe-
bruar auf Anfang 2021 verschoben. Es ist
aber auch kaum vorstellbar, dass sich An-
fang Juni wieder Hunderttausende zur Art
Basel treffen können. Ein existenzielles Di-
lemma also für die MCH. Doch noch will
sie sich nicht festlegen. „Zum jetzigen Zeit-
punkt hoffen wir, die Messe wie geplant
im Juni abzuhalten und prüfen die Mög-
lichkeit, die Messe auf den Herbst zu ver-

schieben, falls dies erforderlich werden
sollte“, formulierte die Sprecherin der Art
Basel am Mittwoch vorsichtig.
Zwar wird jeder einsehen, dass dieser
Schritt wohl unausweichlich sein wird.
Trotzdem wäre selbst eine Verschiebung –
so kurz nach der Absage in Hongkong – ein
symbolischer Schock. Schließlich ist die
Art Basel, nach der Biennale in Venedig, ei-
ne Art Olymp der Kunstwelt. Womöglich
wäre die Absage aber auch eine überfällige
Reaktion auf eine tiefere Krise des Kunst-
messen-Betriebs.

Anzeichen dafür gibt es seit längerem.
2017 posaunte die Messe ihre neue Strate-
gie in die Welt, mit dem Zukauf eines Port-
folios regionaler Kunstmessen von Lon-
don über Düsseldorf bis Neu Delhi einer-
seits den internationalen Kunstmarkt
langfristig zu stabilisieren und anderer-
seits sich zu dessen beherrschendem Play-
er aufzubauen. Doch schon im Herbst 2018
gab sie den Plan Hals über Kopf wieder
auf.
Der Notfall Corona wäre ein willkomme-
ner Anlass, die „tiefgreifende Transforma-
tion“, die sich die MCH nach dem Basel-
world-Desaster auf die Fahnen geschrie-
ben hatte, weiterzutreiben. Und die Digita-
lisierung und Nomadisierung in Angriff zu
nehmen, die MCH-Chef Stadlwieser sich
für den Konzern vorgenommen hatte.
Auffällig ist schon, dass der „Curiator“
bislang von dem großflächigen Gesund-
schrumpfen der MCH-Kunstsparte ausge-
nommen geblieben ist. Dieses Online-Tool
hatte die Gruppe 2016 von den US-Soft-
ware-Ingenieuren Tobias Boonstoppel
und Moenen Erbuer gekauft. Der Name
des Start-ups ist Programm. Auf „der
„größten kollaborativen Art Collection der
Welt“ können sich Kunstfreunde und
Sammler eine virtuelle Kunst-Kollektion

zusammenstellen. Auf dieser Website ist,
frei nach Joseph Beuys, jeder Mensch sein
eigener Kurator.
Noch wichtiger ist ein anderer Um-
stand: Stadlwieser hatte 2019 vorgerech-
net, dass die Hallen der Messen durch-
schnittlich nur zu 25 Prozent genutzt sind.
Es stelle sich also die Frage, ob die MCH
überhaupt noch eigene Hallen benötige.
Andere internationale Messefirmen besä-
ßen überhaupt keine Hallen mehr. Weni-
ger Ballast bedeute weniger Fixkosten und
mehr Flexibilität. Dem Manager schweb-
ten Roadshows vor, wo Werbeinhalte „von
Ort zu Ort wandern.“
Auch die moderne Basler Messehalle, er-
baut von Herzog & de Meuron, würde der
MCH-Chef am liebsten loswerden. Der
430 Millionen teure Prunkbau war 2013 er-
öffnet worden. Spötter nannten den Bau
angesichts des schrumpfenden Messege-
schäfts „die teuerste Lagerhalle der Welt“.
Stadlwieser schwärmte stattdessen von
Live-Marketing-Lösungen. Schließlich
nennt sich die MCH Group bereits „Das ein-
zigartige Live-Marketing Netzwerk“. Soge-
nannte Business-to-Business-Messen, die
auf den Fachhandel fokussiert sind, will
Stadlwieser ergänzen mit originellen und
neuen Marketingaktionen. „Warum nicht
zusammen mit Netflix Interessierte zu ei-
ner „Bird Box Challenge“ in Doppeldecker-
bussen einladen?“, fragte er. Dabei werden
Interessierten wie im Film die Augen ver-
bunden.
Auf die Art Basel wäre dieses Prinzip na-
türlich nur begrenzt anwendbar. Es zeigt
aber eine mögliche Entwicklungs-Rich-
tung für das Messewesen insgesamt an.
Die „Preview“ getaufte Verlegung einer
Messe ins Internet wäre dann eine Art Vor-
schau auf die goldene Messezukunft à la
Stadlwieser: Kunstmesse goes digital. Soll-
te der Test erfolgreich sein, könnte die
MCH trotzdem immer noch dort vor Ort
temporär einen Art-Pop-Up-Store dort öff-
nen, wo alte und neue Käuferschichten es
lohnend erscheinen lassen: Ob nun in Ba-
sel, Frankfurt, Miami oder in Singapur.

Das für Mai geplante Gallery Weekend
Berlin wird doch verschoben. Es soll
jetzt vom 11. bis 13. September stattfin-
den, wie die Veranstalter am Donners-
tag mitteilten. Zwischenzeitlich war er-
wogen worden, das Gallery Weekend in
reduzierter Form zum üblichen Termin
im Mai stattfinden zu lassen und, vor al-
lem für internationale Sammler, im Sep-
tember ein zweites Wochenende mit
größeren Events zu veranstalten. dpa

Unter die vielen abgesagten oder verscho-
benen Kulturereignisse ist jetzt auch die
New Yorker Ausgabe der Kunstmesse Te-
faf zu zählen. Statt im Mai wird sie nun
vom 31. Oktober bis 4. November stattfin-
den. Das teilten die Veranstalter am Frei-
tag mit. Erst in der letzten Woche war die
Tefaf in Maastricht, wohl die letzte Kunst-
messe, die noch stattfinden konnte, auf
Anweisung der Behörden vier Tage frü-
her als geplant beendet worden sz


Ballast


Die Art Basel galt bisher als konkurrenzlos unter den Zeitgenossenmessen.


Nun ist sie ins Trudeln geraten. Daran hat nicht nur die Corona-Krise Schuld


Doch nur eines


Gallery Weekend erst im Herbst


Keine Kunst


Tefaf New York verschoben


Der Uhrenmesse Baselword
geht es nicht gut, und das
gefährdet auch die Art Basel

2017 kaufte sich die MCH bei
Regionalmessen ein, 2018
verwarf man den Plan wieder

Blick in den Äther aus der teuren Messehalle, die Herzog & de Meuron 2013 gebaut haben. Heute wären die Messechefs froh, sie könnten sie verkaufen. FOTO: IMAGO

DEFGH Nr. 68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 FEUILLETON KUNSTMARKT 19


Die Emotionen fehlen


Ein Gespräch mit Dirk Boll von Christie’s über
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