Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1

I


n diesen Tagen erhalten Mitarbeiter
des Gesundheitswesens aus der Poli-
tik viel Applaus, sie erfahren Solidari-
tät. Der Stress, dem sie ausgesetzt sind, be-
sorgt die Gesellschaft. Die Angst, dass Pati-
enten nicht richtig versorgt werden könn-
ten, ebenso. Doch unter extrem verknapp-
ten Bedingungen zu arbeiten, Menschen
nicht immer gut versorgen zu können, das
ist in der Geburtshilfe seit Jahren tatsäch-
lich Alltag. Die Situation verschärft sich in
der aktuellen Krise unter dem Radar,
denn Kinder kommen weiter zur Welt. Es
ist in gewisser Weise tragisch ironisch, ei-
ne derartige Kapazitätenkrise in einem
Jahr zu erleben, das von der Weltgesund-
heitsorganisation als Jahr der Hebammen
und Pflegenden ausgerufen wurde.
Als letztes Land in Europa hat Deutsch-
land mit dem Hebammenreformgesetz
die grundständige Ausbildung von Heb-
ammen vollständig an Hochschulen über-
führt. Die Hinzuziehungspflicht, also die
Anwesenheit einer Hebamme bei jeder Ge-
burt, bleibt erhalten, ebenso Tätigkeiten
wie Geburtshilfe und Wochenbettbetreu-
ung. Die Zuständigkeiten in der geburts-
hilflichen Versorgung scheinen geklärt zu
sein. Das Gesetz unterstützt den Professio-
nalisierungsprozess des Berufs. Es verbes-
sert jedoch nicht die finanzielle und perso-
nelle Ausstattung der Geburtshilfe.


Obwohl freiberufliche Hebammen
durch den Sicherstellungszuschlag für die
Berufshaftpflichtversicherung entlastet
wurden, ist in den vergangenen Jahren ein
akuter Hebammenmangel spürbar gewor-
den. Dieser konnte allerdings bisher nicht
eindeutig mit Zahlen belegt werden, denn
es gab bisher keine Meldestelle für aktive
Hebammen. Verschiedene Bestandsauf-
nahmen auf Bundes- und Länderebene


zeigen: Das Hauptproblem, das es zu lösen
gilt, ist die angespannte Situation in der
klinischen Geburtshilfe. Hier geht es um
Zuständigkeiten, Arbeitsabläufe und die
wirtschaftliche Ausrichtung im Gesund-
heitssystem. In den letzten Jahren wurden
zahlreiche geburtshilfliche Abteilungen in
Kliniken geschlossen. Zusätzliche Gebur-
ten mussten von anderen, umliegenden
Kliniken bei gleichbleibender Anzahl von
Kreißsälen und Personal betreut werden.
Die Geburtenzahlen sind seit 2018 auf ei-
nem relativ hohen Niveau konstant. Also
verdichtet sich die Arbeit, in jedem Dienst.
In einer Befragung für eine Studie in
Nordrhein-Westfalen berichten Hebam-
men von vielen Überstunden und Zusatz-
diensten, auch von vorübergehenden
Kreißsaalschließungen. Die Unzufrieden-
heit ist groß: Hebammen fehlen Gestal-
tungsmöglichkeiten in der klinischen Ar-
beit, sie müssen sich in Hierarchien fügen
und aufgrund von Zeitmangel eine Ge-
burtshilfe praktizieren, die dem Berufsver-
ständnis eigentlich widerspricht. Die Qua-
lität der Betreuung gerät in den Hinter-
grund, muss diese doch überhaupt erst
mal aufrechterhalten werden.
Diese Situation steht konträr zu der wis-
senschaftlich fest etablierten Erkenntnis,
dass eine Eins-zu-eins-Betreuung – eine
Hebamme betreut also nur eine Frau in
der aktiven Phase der Geburt – entschei-
dend für die Sicherheit und langfristige
Gesundheit von Mutter und Kind ist. Aus
gesundheitsökonomischer Sicht ist es da-
her erstaunlich, wie wenig sichtbar die Be-
rufsgruppe der Hebammen ist – im Sys-
tem und in den Gremien, die über die Orga-
nisation der Geburtshilfe entscheiden. Da-
bei gibt es mit dem Deutschen Hebammen-
verband eine Interessenvertretung und
mit der Deutschen Gesellschaft für Heb-
ammenwissenschaft eine Fachgesell-
schaft. Beide wirkten an der Vorbereitung
und Verabschiedung des Hebammenre-
formgesetzes mit. In Neuseeland, Großbri-
tannien und Australien haben Hebammen-
kammern hingegen eine langjährige Tra-
dition. Dort zeigt sich: Je mehr Hebam-
men sich politisch einmischen und Gehör
finden, desto besser ist es für ihre Arbeits-
bedingungen – und für die Bedingungen,
unter denen Frauen gebären.
Dafür werden Hebammen gebraucht,
die nicht (nur) in der Versorgung tätig sind,
sondern beratend, als Lobbyistinnen; die
als Managerinnen für eine Geburtshilfe
sprechen, die Frauen und ihre Kinder und

Familien in den Mittelpunkt stellt. Eine
Akademisierung des Berufes und eine Ent-
wicklung der eigenen wissenschaftlichen
Fachdisziplin können diesen Prozess be-
schleunigen. Vor allem aber sollten zu-
künftig politische und organisatorische
Maßnahmen initiiert werden, um die an
der gesundheitlichen Versorgung beteilig-
te Berufsgruppen stärker in Gestaltungs-
und Entscheidungsprozesse einzubinden.
Für die Hebammen würde das bedeu-
ten: Bundesweit und flächendeckend lei-
ten Hebammen die Geburtshilfe bei unkri-
tischen Verläufen auch in der Klinik. Das
ist gesetzlich legitimiert und wird außer-
klinisch bereits so praktiziert. Es gäbe ei-
ne Chefhebamme in jeder Abteilung, die
neben dem Chefarzt für die Betreuung
von physiologischen Geburten zuständig

und verantwortlich ist; die auch Budget-
verantwortung trägt, über Investitionen
entscheidet und für die Ausgestaltung der
klinikinternen Geburtskultur verantwort-
lich ist. Auf politischer Ebene wäre nach
aktueller Rechtsprechung eine Hebam-
menkammer das politische Organ, das
Mitspracherecht und Selbstverwaltung
auf höchster Ebene stärken könnte. Heb-
ammen würden beispielsweise berufs-
gruppenintern über Qualitätskriterien
und Weiterbildungsrichtlinien entschei-
den. Ebenso gäbe es eine bindende Berufs-
ethik. An dieser Stelle sei gesagt, dass ein
starker Verband, eine Fachgesellschaft, ei-
ne Gewerkschaft und eine Kammer an un-
terschiedlichen Stellen, die mit unter-
schiedlichen Blickwinkeln und für unter-
schiedliche Gruppen sprechen, sich in ih-
ren Aufgaben ergänzen.
Und wieso nicht eine Hebamme im Bun-
desministerium für Gesundheit, die für
die Belange von schwangeren und gebä-
renden Frauen und deren Versorgung zu-
ständig ist und in den entsprechenden Gre-
mien deren Standpunkte einbringen
kann? Die Bundesregierung hat mit Andre-
as Westerfellhaus auch einen Pflegebevoll-
mächtigten. Derzeit beruft sich die Politik
so sehr auf Gesundheitsexperten wie nie
zuvor. Konsequent weitergeführt, könnte
das eine echte Verbesserung für gebären-
de Frauen bedeuten – und für diejenigen,
die sich um sie kümmern.

Andrea Villmar ist Hebamme und Gesundheitsöko-
nomin. Sie arbeitet an der Hochschule für Gesund-
heit in Bochum.

D


as „Handbuch des Staatsrechts“
ist ein beeindruckendes Werk.
Es besteht aus 13 dicken Bän-
den, es hat insgesamt 17 026 Sei-
ten; 81 Rechtsprofessoren haben daran
mitgeschrieben; der letzte Band erschien



  1. Das monumentale Projekt handelt
    von der Verfassungsordnung und von den
    Grundrechten; von der Mobilität der Men-
    schen, der Güter und Ideen; von den Frei-
    heitsrechten und den Gefahren, die diesen
    drohen. Wo, wenn nicht dort, sollte man et-
    was darüber finden, wie der Staat in der
    Corona-Krise agieren muss?
    Indes: Mit dem Infektionsschutz, frü-
    her Seuchenschutz genannt, beschäftigt
    sich das gewaltige Werk nur auf knapp
    zwei (!) Seiten. Das ist bezeichnend für die
    Brutalität, mit der das Virus auch ins
    Rechtsgefüge einbricht. Das Infektions-
    schutzgesetz, das bis vor ein paar Wochen
    kaum jemand gekannt hat und das auf
    den nur zwei von 17026 Seiten abgehan-
    delt wird, ist die Grundlage für die ein-
    schneidendsten Beschränkungen der
    Grund- und der Freiheitsrechte, die es in
    der Bundesrepublik je gegeben hat. Selbst
    die heftig umstrittenen Sicherheitsgeset-
    ze der RAF-Zeit und die Sicherheitspake-
    te, die nach 9/11, in der Zeit des islamisti-
    schen Terrorismus, gepackt worden sind,
    waren nicht so grundstürzend wie die Ver-
    waltungsverfügungen, mit denen heute
    die als Gesundheitspolizei handelnden
    Verwaltungsbehörden in die Grundrechte
    eingreifen. Aber das Denken, wonach zur
    Vorbeugung noch härter zugegriffen wer-
    den darf als zur Strafe, nahm in der RAF-
    und der Al-Qaida-Zeit seinen Anfang. Das
    hat Auswirkungen aufs gesamte Recht.
    Im Jahr 1977 wurde, aus Anlass der Ent-
    führung des Arbeitgeberpräsidenten
    Hanns Martin Schleyer, in rasender Eile
    ein Kontaktsperregesetz gegen RAF-Ter-
    roristen beschlossen. Es unterband – für
    72 Häftlinge – jeglichen Kontakt mit der
    Außenwelt. So weit gehen die Corona-Kon-
    taktsperren nicht. Aber sie greifen tief ein
    in die Grundrechte nicht nur von Straftä-
    tern, sondern in die Freiheitsrechte von
    Millionen unbescholtener, aber potenziell
    krankheitsgefährdeter oder infizierter
    Bürgerinnen und Bürger – nicht zur Stra-
    fe, sondern zum Schutz der öffentlichen
    Gesundheit. Wie weit darf das gehen?
    Das öffentliche Leben wird von Verwal-
    tungsbehörden geschlossen, das private
    Leben wird auf drastische Weise reglemen-
    tiert, wirtschaftliche Existenzen werden
    vernichtet. Noch reagieren viele Men-
    schen mit Verständnis, ja zum Teil sogar
    mit der Aufforderung an die Politik, radi-
    kaler vorzugehen und tiefer in Freiheits-
    rechte einzugreifen – auch mit Mobilitäts-
    und Ausgangssperren oder Ausgangsbe-
    schränkungen, wie sie Bayern jetzt landes-
    weit angeordnet hat. Wie lange so eine


Grundstimmung hält, weiß niemand. Dies
hängt von der Dauer der Verbote und Sper-
ren ab. Aber ein Fundament für Freiheits-
beschränkungen sind Stimmungen ohne-
hin nicht. Das Fundament ist das Recht. Es
darf mit Verweis auf Notstand und Katas-
trophenfall nicht weggeschoben werden.
Es stimmt nicht, dass Not kein Gebot
kennt. Auch für die Not gibt es Regeln.
Bei den RAF-Terroristen endete die
Kontaktsperre nach ein paar Wochen. Sie
wurde drei Tage nach den Selbstmorden
von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und
Jan-Carl Raspe von Bundesjustizminister
Hans-Jochen Vogel aufgehoben. Wann die
Corona-Kontaktsperren enden, ist nicht

absehbar. Virologen sprechen nicht mehr
nur von Wochen, sondern von Monaten,
und Jahren. Sie sollten sich mit solchen Äu-
ßerungen zurückhalten, weil sie so den
Notstand herbeireden, den die Notmaß-
nahmen verhindern sollen. Diese sollen
Gesellschaft und Demokratie schützen,
nicht ihre DNA verändern; sie sollen die Zu-
kunft sichern. Es geht um Überwindung
von Angst, nicht um das Provozieren neu-
er Ängste. Die Zukunftsfähigkeit der Ge-
sellschaft hängt davon ab, dass sie sich
nicht in ein Corona-Schicksal ergibt, son-
dern Zuversicht bewahrt. Virologen dür-
fen radikal, ja maßlos denken. Politiker
aber müssen Maß halten und über die Ver-
hältnismäßigkeit der Mittel nachdenken.
Dieses Maß der Mittel wird im demokra-
tischen Rechtsstaat vom Recht bestimmt,

nicht von Stimmungen und auch nicht
von der Virologie. Das Robert-Koch-Insti-
tut ist eine Bundesoberbehörde, es hat die
Aufgabe eines Leitinstituts für Infektions-
schutz; es berät die Politik; es ist aber kein
Entscheidungsträger und schon gar nicht
eine Notregierung. Gute Virologen sind
wichtig. Demokratie ist aber auch in pan-
demischen Zeiten mehr als Virologie. Sie
darf nicht zur Virolokratie werden.
Das Infektionsschutzgesetz vom 1. Ja-
nuar 2001 ist eine nur sehr schwammige
Grundlage für sehr harte Maßnahmen. Im
zentralen Paragraf 28 heißt es: „Die „zu-
ständige Behörde“ trifft die „notwendigen
Schutzmaßnahmen“ – dann folgt die Auf-
zählung von einzelnen Quarantäneaktio-
nen. Das ist der vage Kern aller Eingriffe,
die jetzt die Grundrechte einschränken;
auf dieser Basis wurden nicht nur Schulen
und Kindergärten, sondern auch Gaststät-
ten und Geschäfte landesweit geschlos-
sen. Ob dies für existenzvernichtende Ver-
bote reicht? Für landesweit strikte Aus-
gangssperren reicht das nicht. Deren Kriti-
ker werden als pedantisch gescholten. Das
Beharren auf Grundprinzipien ist aber
nicht pedantisch, sondern rechtsstaatlich.
Je allgemeiner eine Rechtsgrundlage ist,
desto wichtiger ist die Prüfung der Verhält-
nismäßigkeit der Mittel.
Es gehört zur Psychologie der Krise,
dass in der Not derjenige als Führungsper-
sönlichkeit gelobt wird, der sich um Ver-
hältnismäßigkeit wenig kümmert. Die
Rhetorik der Entschlossenheit kann aber
das Recht nicht ersetzen. Langfristig be-
währt sich dessen Einhaltung und Verbes-
serung. Hermann Höcherl, Adenauers letz-
ter Innenminister, ist mit dem Satz in Erin-
nerung geblieben, dass die Beamten nicht
„den ganzen Tag mit dem Grundgesetz un-
term Arm herumlaufen“ können. Doch. In
Krisenzeiten müssen sie das.

Die Arbeit wird dichter
und dichter – und das
in jedem Dienst

Die Gesellschaft darf
sich nicht in ein
Corona-Schicksal ergeben

Wieso nicht eine Hebamme im
Gesundheitsministerium, die
für gebärende Frauen eintritt?

Heribert Prantl ist
Autor und Kolumnist der
Süddeutschen Zeitung. Reisevorbereitungen

HURZLMEIERMALEREI


DEFGH Nr. 68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 MEINUNG 5


HURZLMEIER-RUDI.DE

Existenziell


Menschen nicht immer bestmöglich versorgen zu
können, ist für Hebammen schon lang Alltag.
Es gibt konkrete Wege, die Situation zu verbessern

VON ANDREA VILLMAR


Maß halten


Die Bekämpfung des Virus stellt die Menschen und
das Recht unter Quarantäne. Aber auch die Not
kennt ein Gebot – das Prinzip der Verhältnismäßigkeit

VON HERIBERT PRANTL

Free download pdf