Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
interview: christian mayer

SZ: Herr Bregman, Sie haben ein Buch ge-
schrieben, in dem Sie die These vertreten:
Der Mensch ist gut. Gilt das auch noch in
der Corona-Krise?
Bregman: Das ist ein faszinierender Test-
fall für meine These. Aber ich finde, die
Menschen verhalten sich sehr vernünftig.
Viele denken im Angesicht der Pandemie
erst mal an sich und an ihr allernächstes
Umfeld. Was ist gut an Hamsterkäufen?
Natürlich gibt es jetzt entsprechende Be-
richte im Internet – etwa von bewaffneten
Räubern in Hongkong, die Toilettenpapier
in Supermärkten stehlen. Ich halte mich
aber lieber an die Erkenntnisse der Wissen-
schaft, die herausgefunden hat, was wirk-
lich in vergleichbaren Krisenzeiten in Ge-
sellschaften passiert ist. Die jetzige Corona-
Krise kann man sehr gut vergleichen mit
der Lage nach Naturkatastrophen wie Erd-
beben oder Tsunamis. Meist hört man
dann schreckliche Geschichten, Berichte
über Plündereien oder Gewaltausbrüche;
angeblich zeigen die Menschen in solchen
Extremsituationen ihre schlechteste Seite.
Immer wieder hört man: Die Zivilisation
ist eben nur eine dünne Schutzschicht.
Und Sie halten das für Quatsch?
Richtig. Man könnte stattdessen von einer
krisenbedingten Explosion der Selbstlosig-
keit sprechen. Nach Naturkatastrophen
kann man eher das Phänomen erleben, als
habe einer den Reset-Button im menschli-
chen Gehirn gedrückt – mit der Folge, dass
sich die meisten Menschen auf einmal sehr
sozial verhalten. Politische Ausrichtungen
wie rechts oder links und Besitzverhältnis-
se wie arm oder reich spielen auf einmal ei-
ne sehr viel geringere Rolle. Die Hilfsbereit-
schaft dagegen wächst rapide.
Wie bewahrt man die Fassung in Corona-
Zeiten? Weniger im Internet lesen?
Nein. Sie müssen nur bedenken: Jede Nach-
richt über egoistische Panikmacher, die
ein ganzes Warenlager Klopapier zu Hause
horten, wird überstrahlt von den vielen
Tausend Menschen, die etwas in der Krise
tun, die vielen selbstlosen Ärzte und Kran-
kenschwestern zum Beispiel. Wir alle müs-
sen unser Leben ändern, um das Virus zu
besiegen; viele tun das schon auf vorbildli-
che Weise. Die Leute in Italien haben eine
Botschaft in die Welt geschickt, auf Plaka-
ten und im Netz: „Andra tutto bene“, es
wird alles wieder gut werden. In der Krise
finden Menschen einen Sinn für ihr Leben:
Wir brauchen einander, um zu überleben.


In der Corona-Krise wird es nicht immer
einfach sein, anderen zu helfen, wenn
man sich selbst schützen soll.
Aber das ist ja gerade das, was der Gesell-
schaft insgesamt helfen kann: Die selbst-
gewählte Isolation, um die Verbreitung des
Virus zu verzögern. Den Menschen fällt
das ungeheuer schwer, schließlich sind wir
so beschaffen, dass wir uns stets mit ande-
ren verbinden wollen. Und das ist einer der
Gründe, warum diese Pandemie so gefähr-
lich ist.
Wie spüren Sie das als Buchautor?
Bei meiner Lesereise durch Deutschland
und die Schweiz, die ich vergangene Wo-
che abbrechen musste, habe ich erlebt,
dass sehr viele Leute mir gerne die Hand
schütteln wollten. Da musste ich mich
zwingen, einfach mal zurückhaltend zu
sein. Das ist ja die menschliche Intuition:
freundlich zu sein. Es steckt tief in uns.
Es widerspricht der menschlichen Natur,
sich in Quarantäne zu begeben?
Oh ja. Wir sind als Einzelwesen nicht so un-
geheuer klug und stark, wie manche glau-
ben. Wir sind allerdings unglaublich gut
darin, mit anderen zu kooperieren – als so-
ziale Wesen, die einander vertrauen. Das
ist die wahre menschliche Supermacht: Al-
leine hätten wir nie die Pyramiden gebaut
und wären nie zum Mond geflogen.
Das mag ja stimmen, aber alleine wären
wir auch nicht in der Lage, Kriege zu füh-
ren und fürchterliche Verwüstungen auf
der Erde anzurichten. Von den Verbre-
chen der Nationalsozialisten ganz zu
schweigen.
Das ist eine große Frage, warum Menschen
auch die Fähigkeit haben zu hassen. War-
um wir nicht nur die freundlichste Art auf
der Erde sind, sondern auch die grausams-
te. Es gibt keine anderen Arten, die ihres-
gleichen in Lagern wegsperren oder kollek-
tiv vernichten. Haben Sie schon mal von ei-
nem Pinguin gehört, der andere Pinguine
gefangen hält? Das sind genuin menschli-
che Verbrechen. Aber man kann diesen gro-
ßen Widerspruch erklären mit den neu-
eren Erkenntnissen der Biologie, dass wir
Menschen grundsätzlich freundlich sind,
dass es ein „survival of the friendliest“
gibt. Und dazu gibt es leider eine dunkle
Seite.
Können Sie das erläutern?
Der dringende Wunsch, einer Gruppe anzu-
gehören, kann zu einem Herdentrieb füh-
ren. Man wird Teil einer Bewegung. Im Ex-
tremfall entwickelt man im Kollektiv ein
generelles Misstrauen gegen alle anderen,
die außerhalb stehen; man fängt an, Au-
ßenstehende zu hassen, weil sie nicht zur
Gruppe gehören und in irgendeiner Weise
anders sind. Empathie, die sich gerne auf
Menschen bezieht, denen man nähersteht,
hat also eine Kehrseite: Fremdenfeindlich-
keit. Das ist eine bittere Erkenntnis.
Wie kamen Sie überhaupt darauf, das Gu-
te im Menschen zu suchen? Gab es da ein
Schlüsselerlebnis?
Vor fünf Jahren habe ich das Buch „Uto-
pien für Realisten“ geschrieben. Es stellte
einige radikale Ideen vor, die gegenwärtig
vielen als verrückt erscheinen mögen, aber
in Zukunft realisiert werden könnten. So
wie andere utopische Ideen ebenfalls Wirk-
lichkeit wurden – die Abschaffung der Skla-
verei, die Demokratie oder die Rechts-


gleichheit für Männer und Frauen. Eine
meiner Ideen war, dass jeder Mensch ein
bedingungsloses Grundeinkommen erhal-
ten sollte. Das würde die Armut beseitigen.
Jeder könnte selbst entscheiden, was er
mit dem Geld machen würde. Ich sammel-
te wissenschaftliche Beweise für meine
Theorie und war sehr enthusiastisch. Dann
ging ich auf Lesereise und sprach mit vie-
len Leuten darüber. Überraschenderweise
diskutierte ich aber nicht über das Grund-
einkommen, sondern es entwickelte sich
meist nach einer halben Stunde eine Dis-
kussion über die menschliche Natur.
Mit welchem Ergebnis?
Es gab die Skeptiker, die sagten: Schöne
Idee, so ein Grundeinkommen, aber man
kann den Leuten nicht das Geld einfach so
in die Hand geben – das verstärkt nur die
Faulheit und den Egoismus! Am Ende sit-
zen sie nur auf dem Sofa, schauen den gan-
zen Tag Netflix und trinken Bier. In mei-
nem neuen Buch wollte ich daher zeigen,
dass man den Menschen vertrauen kann.
Muss man eigentlich ein netter Mensch
sein, um die Welt besser zu machen?
Nein! Manchmal wird die Utopie zur Wirk-
lichkeit – aber meist sind nicht die freund-

lichsten Menschen die treibenden Kräfte
der Gesellschaft. Um etwas zu bewirken,
braucht man ein gewisses Aggressionspo-
tenzial, sehr starke Überzeugungen und
manchmal auch einen etwas schrillen Ton,
um sich überhaupt Gehör zu verschaffen.
In der Umwelt- und Protestbewegung,
auch im Feminismus gibt es solche Figu-
ren, die man als schwierig und selbstbe-
wusst bezeichnen würde. Aktivisten haben
es nun mal an sich, dass sie anderen auf die
Nerven gehen müssen. Aber wir brauchen
diese unfreundlichen Antreiberinnen und

Antreiber, wenn wir Fortschritte machen
wollen.
Man ahnt schon, wen Sie meinen. Auch
Greta Thunberg hat gelegentlich etwas Pe-
netrantes ...
Ich würde nicht sagen, dass Greta Thun-
berg ein unfreundlicher Mensch ist, aber
sie hat den Mut, über den Elefanten im
Raum zu sprechen – über das, was keiner
so radikal sagen möchte. Und sie packt
ihre Botschaften nicht in Beschönigungs-
floskeln. Deshalb halte ich sie für eine un-
glaublich wichtige Figur für die Menschen

meiner Generation. Weil ich glaube, dass
sie hundertprozentig recht hat.
Ist Greta Thunberg eine Pessimistin?
Sie ist weder Optimistin noch Pessimistin.
Letztlich will sie die Hoffnung nicht aufge-
ben, dass man den Planeten retten kann.
Sie gibt Hoffnung in düsteren Zeiten: In die-
ser Generation gibt es so viele Menschen,
die das Problem endlich erkannt haben
und jetzt handeln wollen. Das ist ja der Un-
terschied zwischen einem Optimisten und
einem hoffnungsvollen Menschen: Der Op-
timist sagt: Mach dir keine Sorgen, sei ein-
fach glücklich, alles wird gut. Der Hoff-
nungsvolle sagt: Wandel ist möglich, wir
müssen uns nur genug anstrengen.
Warum hält sich die Idee, dass der Mensch
ein Egoist ist, denn so hartnäckig?
Lange Zeit dominierte bei uns die neolibe-
rale Bewegung. Sie geht bis heute davon
aus, dass die meisten Menschen nur aus Ei-
geninteresse handeln. Seit den Siebziger-
und Achtzigerjahren haben wir unsere In-
stitutionen nach dieser Lehre eingerichtet:
Unsere Märkte, unsere Schulen, unsere
Jobs basieren auf einem negativen Men-
schenbild. Das Ganze wurde dann zur Self-
fulfilling Prophecy. Wir kennen ja die Re-

sultate dieses neoliberalen Denkens: wach-
sende Ängste, wachsende Ungleichheit,
brüchig werdende Demokratien, der Bre-
xit und der Aufstieg Donald Trumps. Aber
gerade erleben wir auch eine Zeit der Hoff-
nung, es gibt einen Wandel weg vom Neo-
liberalismus hin zu einem Neorealismus,
wie ich es nennen würde: Wir entwickeln
ein realistischeres Menschenbild.
Aber viele Hoffnungen haben sich nicht er-
füllt: Zum Beispiel der Glaube aus der Zeit
der Jahrtausendwende, dass das Internet
uns alle miteinander verbinden würde –
in einem gewaltfreien Raum, in dem man
für jedes Problem eine Lösung findet.
Klar, es gibt Hass und Hetze auf Facebook
und Twitter. Dazu kommt: Das Internet
funktioniert wie ein großer Verstärker für
jede Art von Empörung. Wer sich zu lange
allein dort aufhält und alles aufsaugt, wird
automatisch zum Zyniker oder depressiv.
Aber jede Generation hat ihre eigene Tech-
nologie – es kommt darauf an, wie man sie
nutzt. Und jetzt, in Zeiten von Corona, zeigt
sich, wie wertvoll diese grenzüberschrei-
tende Verbindung für die Menschheit ist.
Experten aus der ganzen Welt können an
einer Lösung für die Krise arbeiten. Und es
ist so leicht, alle relevanten Informationen
über die Pandemie zu finden, wenn man se-
riöse Medien nutzt.

In Ihrem Buch beschreiben Sie den gro-
ßen Sündenfall: Wie die Menschen vor et-
wa 10000 Jahrenanfingen, sichgegensei-
tig zu misstrauen – genau in der Zeit, als
allmählich Städte, Privateigentum und
Monarchien entstanden. Woher nehmen
Sie diese Erkenntnis?
Da muss man etwas ausholen. Es gibt die
Untersuchungen von Anthropologen, die
sich mit der Lebensweise der Jäger und
Sammler beschäftigen. Wie sah das Leben
dieser Menschen aus? Die Jäger und Samm-
ler waren freie Gemeinschaften, ihr Leben
war nicht nur von Arbeit dominiert, es gab
viel Zeit für andere Dinge. Man kann auch
annehmen, dass das Leben damals gesün-
der war als in späteren Epochen, es gab
noch kaum Probleme mit Infektionskrank-
heiten. Bis sich das Leben komplett änder-
te – durch die Erfindung des Eigentums
und neue Formen von Herrschaft.
Mit dieser Sicht stehen Sie im Wider-
spruch zu anderen Autoren. Etwa zu Ste-
ven Pinker, der in seinem Bestseller „Ge-
walt. Eine neue Geschichte der Mensch-
heit“ die These vertritt, dass es im Natur-
zustand einen Krieg aller gegen alle gab
und die Gewalt erst abnahm, als die Men-
schen zivilisierter wurden.
Pinker und andere berufen sich auf Tho-
mas Hobbes – und seine These vom ur-
sprünglichen „Krieg aller gegen alle“.
Wenn man aber die wissenschaftlichen Ar-
beiten von Archäologen und Anthropolo-
gen liest, dann findet man so gut wie kei-
nen Hinweis auf einen gewaltsamen Urzu-
stand oder Kriege in prähistorischer Zeit.
Es gibt wenig Skelette aus dieser Zeit, die
Spuren von physischer Gewalt aufweisen;
auch die bekannten Höhlenmalereien sind
frei von kriegerischen Szenen.
Ist es nicht etwas zu schlicht, von Höhlen-
malereien auf das Wesen der Menschen zu
schließen?
Ich will gar nicht behaupten, dass damals
das Paradies herrschte, die Menschen sind
keine Engel. Es gab das übliche Maß an Ge-
walt und Aggression. Aber das Leben war
besser als nach der Sesshaftwerdung, als
viele Bauern ums Überleben kämpfen
mussten und in Abhängigkeit von anderen
gerieten; seit dieser Zeit deutet viel auf ei-
ne massive Zunahme der Gewalt hin. Wir
haben vergessen, wie schrecklich die meis-
ten Zivilisationen in der Geschichte waren.
Wenn die Menschen prinzipiell eher gut
sind, warum wählen sie dann Anführer
wie Donald Trump?
Gute Frage, ich habe keine Antwort. Aber
stellen Sie sich mal Donald Trump in der
Steinzeit vor. Ein Egomane wie er unter Jä-
gern und Sammlern. Ich glaube, so ein Typ
hätte das nicht lange überlebt. Bescheiden-
heit und Zurückhaltung spielten eine zen-
trale Rolle, die Menschen mussten sich auf-
einander verlassen können. Ein narzissti-
sches Großmaul wäre rasch aus der Ge-
meinschaft verstoßen worden. Jemand
wie Hugh Grant, mein britischer Lieblings-
schauspieler, hätte sich dagegen großartig
geschlagen – mit seiner Freundlichkeit
und seinem einnehmenden Wesen.
Beim Weltwirtschaftsforum 2019 hatten
Sie einen spektakulären Auftritt: Sie war-
fen den Superreichen, die gerne mit dem
Helikopter nach Davos fliegen, Heuchelei
vor – statt schöne Reden zu halten, sollten
sie lieber malSteuern zahlen. Danach wur-
den Sie im Internet als Held gefeiert. War
das nicht zu viel des Guten?
Natürlich habe ich mich geschmeichelt ge-
fühlt nach den vielen positiven Reaktio-
nen. Was ich beim Weltwirtschaftsforum
gesagt habe, denken ja Millionen Men-
schen. Ich wollte bei der Diskussion eigent-
lich nur über mein Buch sprechen, aber
meine Frau überredete mich am Abend zu-
vor, etwas zum fundamentalen Problem
von Davos zu sagen – ich hasste ja diese
Konferenz und hielt die reichen Teilneh-
mer tatsächlich für Heuchler. Hinterher
gab es ein überwältigendes Feedback. Auf
der anderen Seite sollte man sich nicht auf
den Beifall im Netz verlassen. Wenn man
sich nur mit Leuten umgibt, die einen im
Bewusstsein der eigenen Grandiosität be-
stärken, dreht man schnell durch.
Sie schreiben ja selbst, wie verführerisch
Erfolg und Macht sind.
Klar, das gilt für alle, auch für mich. Zum
Glück lebe ich in den Niederlanden, wo
man sofort einen Kopf kürzer gemacht
wird, wenn man nur den Eindruck vermit-
teln will, ein ganz toller Hecht zu sein. Das
ist eine gesunde Einstellung, finde ich.

RutgerBregmankam 1988 als Sohn eines evangelischen Pastors und ei-
ner Lehrerin in Renesse in den Niederlanden zur Welt. Er studierte Ge-
schichte an der Universität Utrecht und an der University of California in
Los Angeles. Als Journalist und Historiker schrieb er für niederländische
Medien, auch für dieWashington Post. Aufsehen erregte er mit seinem
Buch „Utopien für Realisten“ und beim Weltwirtschaftsforum in Davos
2019, als er die Teilnehmer hart kritisierte und eine gerechte Besteue-
rung für Reiche forderte. Gerade ist sein Buch „Im Grunde gut: Eine neue
Geschichte der Menschheit“ bei Rowohlt erschienen (auch als E-Book).

RUTGER BREGMAN


ÜBER


DAS GUTE


„Ein Typ wie Donald Trump
hätte in der Steinzeit
nicht lange überlebt.“

FOTO: MAARTJE TER HORST

„Haben Sie mal von einem
Pinguin gehört, der andere
Pinguine gefangen hält?“

52 GESELLSCHAFT DAS INTERVIEW Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020, Nr. 68 DEFGH


Er sitzt im Soho-House in Berlin, seine aktuelle Buchtour hat er abgebrochen.


Der Historiker und Kapitalismuskritiker Rutger Bregman, 31, gilt als einer


der wichtigsten jungen Denker. Ein Telefongespräch in Zeiten von Corona über die


menschliche Natur und den Mut, den es braucht, um die Verhältnisse zu ändern


Zur Person

Free download pdf