Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

14 SCHWEIZ Samstag, 22. Februar 2020


Eine SVP-Politikerin halbiert die Spitex-Kosten


Martina Bircher geht bei der ambulanten Pflege in Aarburg neue Wege – und bringt damit eine ganze Br anche in Erklärung snot


SIMON HEHLI


«Es war ein Desaster, sie hätten mich fast
gesteinigt.» Heute kann Martina Bircher
lachen, wenn sie an die Informationsver-
anstaltung im Dezember 20 17 zurück-
denkt. Sie ist überzeugt, dass sierecht
behalten hat – die Zahlen sprechen da-
für. Bircher ist als Gemeinderätin in Aar-
burg zuständig für dasRessort Soziales,
Gesundheit undJugend. Was vor gut
zweiJahren im 80 00 -Einwohner-Dorf bei
Olten dieWogen hochgehen liess, war eine
Neuorganisation der Spitex. Zum ersten
Mal in der Geschichte erhielt nicht mehr
die Non-Profit-Spitex vomFrauenverein
den Leistungsauftrag der Gemeinde, son-
dern ein privaterAnbieter.
Was in Aarburg passiert, hat Signal-
wirkung über den Kanton Aargau hin-
aus. Denn schweizweit sehen sich Ge-
meinderäte mit derrasanten Alterung
der Gesellschaftkonfrontiert.Auf ein
kleines Zimmer im Pflegeheim haben
dieBabyboomer, die ein selbstbestimm-
tes Leben gewohnt sind,keine Lust.
Umso wichtiger wird deshalb die ambu-
lante Pflege, dank der die Senioren län-
ger in den eigenen vierWänden bleiben
können. Das ist zwar in den meisten
Fällen günstiger als ein Platz im Pflege-
heim. Doch diekommunalen Spitex-
Kosten drohen zu explodieren.


DerFrauenvereinwehrt sich


So entschloss sich dieSVP-Politikerin
Bircher zumTabubruch. Die Betriebs-
wirtschafterinkonnte ihreKollegen im
Gemeinderat überzeugen, dass es loh-
nenswert wäre,bei konkurrierenden
Spitex-Organisationen Offerten ein-
zuholen. Und dass Aarburg nicht mit-
machen sollte bei der grossenFusion,
mit der die Nachbarorte die öffentliche
Spitex günstiger machen wollten. Im
Juni 20 17 kündigte die Gemeinde den
Vertrag mit demFrauenverein. Dieser
wehrte sich bis vor Bundesgericht gegen
dasAus für seine Spitex, doch vergeblich.
Seit Anfang 20 18 ist das gemeinnützige
Gesundheitszentrum Lindenhof aus
dem Nachbarort Oftringen in Aarburg
für die Spitex-Versorgung zuständig.
Die Neuorganisation löste grosse
Ängste aus, wie sich an jener Informa-
tionsveranstaltung Ende 20 17 zeigte.
Insbesondere die Pflegenden der «alten»
Spitex, die bis auf eineAusnahme nicht
zum Lindenhof wechseln wollten, hätten
die Neuvergabe persönlich genommen
und Stimmung gegen die neue Spitex


gemacht, so erinnert sich Bircher. Die
älteren Gemeindebewohner wollten
wissen, ob denn die neuen Pflegenden
eine anständigeAusbildung hätten und
Deutschkönnten.
Bircher sagt, sie sei beschimpft worden.
«Ich wusste, dass unser Entscheid brisant
war, aber dass es so krass werden würde,
hätte ich nicht erwartet.» Nach zwei Stun-
den brach sie die Diskussion ab – und er-
klärte ihren Mitbürgern, sie lege die Hand
dafür insFeuer, dass Aarburg auch wei-
terhineinegute Spitex-Pflegebekomme.
Und vor allem eine deutlich günstigere:
Die Gemeinde an der Aarekonnte ihre
Ausgaben für die Spitex imJahr 20 18
mehr als halbieren. Statt 440 000 Fran-
ken waren es plötzlich nur noch187 000
Franken. Pro Einwohner des Dorfs sind
das 22Franken 90. In anderen Ortschaf-
ten ist es drei- bis fünfmal so viel.
Während die Beiträge derPatienten
und der Krankenkassen an die Spitex ge-
deckelt sind, gibt es für die Gemeinde
keine solche Obergrenze. «Die Spitex hat
mich jeweils zu sich geladen und mir er-

öffnet, wie hochihr Defizit sein werde.
Dieses hatte ich dann gefälligst in das
Gemeindebudget einzuplanen», sagt
Martina Bircher, ohne ihren Ärger über
diese «Anspruchsmentalität» zu verber-
gen. Dem Lindenhof zahlt die Gemeinde
nun nur noch einen fixen Betrag für jede
geleistete Pflegestunde. Nach hundert
Tagen im neuenRegime machte Aarburg
eine Umfrage bei denPatientinnen und
Patienten der Lindenhof-Spitex; die Be-
wertungen waren alle gut oder sehr gut.
Es habe bis heutekeinerleiReklamatio-
nen gegeben, sagt Bircher.
DietieferenKosten haben laut der Ge-
meinderätin, die mittlerweile auch für die
SVP im Nationalrat sitzt,ebenfalls nichts
mit Lohndumping beim Pflegepersonal
zu tun, sondern mit mehr Effizienz.Viele
althergebrachte Spitex-Organisationen,
die aus wohltätigenVereinen hervor-
gegangen seien, hätten denAnschluss an
die heutige Zeit verpasst und seien über-
fordert, kritisiert Martina Bircher. Sie er-
zählt, die Mitarbeiterinnen der «alten»
Aarburger Spitex hätten sich jeweils am

Morgen zum Kaffee getroffen und da-
bei diskutiert, wer anschliessend zu wel-
chemPatienten gehe. «Das war ineffi-
zient, aber mit einem Blankocheck von
der Gemeinde kann man es ja machen.»
Der Lindenhof hingegen versteht sich
als einVorzeigeprojektin Sachen Effi-
zienz. Alles ist aus einer Hand geplant.
Das Gesundheitszentrum bietet den
Senioren neben dem klassischen Pflege-
heim vor Ort auch betreutesWohnen
an. Spitex-Personal steht dort auf Abruf
parat – und es sind dieselben Pflegen-
den, die nun auch die Spitex-Dienste in
Aarburger Privatwohnungen überneh-
men. «So haben wir weniger Leerzeiten
undkönnen unseren Pflegenden höhere
Arbeitspensen anbieten», sagt der Lin-
denhof-Geschäftsführer Ralph Bürge.
Wenn eine Pflegefachfrau bei einem
Patienten ist, richtet sie ihm nicht nur die
Medikamente oder wechselt denVer-
band, sondern macht auch eineKörper-
wäsche. Dies übernähmen in anderen
Spitex-Organisationen zwei verschie-
denePersonen. Der Grossbetrieb mit

über zweihundert Angestellten kann die
Rechnungsstellung, die Logistik oder die
Personalverwaltung günstiger betreiben
als eine kleine Spitex-Organisation – und
entsprechend den Preis drücken.
EinenTeil der Einsparungen, sie
spricht von rund 5 Prozent,konnte Mar-
tina Bircheraberauch erzielen, weil die
Gemeinde nichts mehr an die hauswirt-
schaftlichen Leistungen bezahlt. Pro
Stunde müssen die Klienten nun dem
Lindenhof denvollenTarif von 50 Fran-
ken berappen, bei der alten Spitex waren
es bloss 23Franken. Dieser tiefeTarif sei
nur möglich gewesen durch Quersubven-
tionierungen zulasten der Gemeinde-
kasse, sagt Bircher. «Ein Millionärkonnte
sich also aufKosten der anderen Steuer-
zahler billig das Haus putzen lassen.» Sie
betont, dass für jene Bürger, die zu wenig
Geld hätten, die Ergänzungsleistungen
die hauswirtschaftlichen Services finan-
zierten. Der Kanton Aargau hat dasVor-
gehenin Aarburg fürrechtens erklärt.

«Da stimmtetwas nicht»


Aber bei der öffentlichen Spitex herrscht
noch immer Unmut. «Da stimmt etwas
nicht», sagte ein Aargauer Spitex-Vertre-
ter letztesJahr: Die tiefenKosten müss-
ten zu einem Leistungsabbau führen. Es
stehtauchderVerdacht imRaum, dass
die GemeindeAarburgihre Senioren
früher ins Pflegeheim steckeund so die
Spitex entlaste. Oder dass die Einsparun-
gen vorallem eineFolge davon seien, dass
es zufälligerweise gerade eine besonders
tiefe Anzahlkomplexer Pflegefälle gebe.
All dies bestreiten Martina Bircher und
der Lindenhof-ChefRalph Bürge vehe-
ment. «Es gibt im Gesundheitswesen bru-
tal viel Luft, aber fast niemand hinter-
fragtdie Strukturen», sagt Bürge.
MariannePfister, die Geschäftsführe-
rin des nationalenVerbandes Spitex
Schweiz, weist denVorwurf zurück, die
Non-Profit-Spitex sei träge und arbeite
ineffizient: «Die Spitex-Organisatio-
nenstellen sich densichverändernden
Rahmenbedingungen und bemühen
sich um unternehmerische Optimie-
rung.» Die Gemeinden und die Kran-
kenkassenkontrollierten die Leistun-
gen undKosten sehr genau, betont Pfis-
ter. Dass die Spitex künftig günstiger
arbeitenkönnte, glaubt sie nicht. «Es
sind immer mehr Spezialdienstleistun-
ge n gefragt wie Psychiatrie-Spitex oder
Palliativpflege daheim.Dafür braucht es
immer besser ausgebildetesPersonal–
mit entsprechenden Löhnen.»

Bundesrat spielt den schwarzen Peter der Post zu


Laut der Regierung gab es b ei Postau to keinen Zielkonflikt zwischen Renditeerwartun gen und Gewinnverbot


For. Bern· Postauto Schweiz hat über
mehrereJahre durchTr icksereien bei
der Buchhaltung Gewinne imregiona-
lenPersonenverkehr verschleiert und so
Subventionen erschlichen. Es ging um
rund 200 MillionenFranken.Das Unter-
nehmen befandsich in einem Zielkon-
flikt. Es wurde vom Eigner angehalten,
unternehmerisch tätig zu sein und eine
Rendite zu erwirtschaften. Gleichzeitig
durften in densubventionierten Berei-
chenkeine Gewinne angestrebt werden.
Dieser Sichtweisewiderspricht jetzt
der Bundesrat, wie er in seiner Stel-
lungnahme zu einem Bericht der Ge-
schäftsprüfungskommission (GPK) des
Ständerats schreibt.Das Verkehrsdepar-
tement und dieFinanzverwaltung wuss-
ten zwar seit 20 11, dass sich diePost laut
eigenerDarstellung in einem Zielkon-
flikt zwischen den strategischen Zielen
des Bundesrats und denVorgaben für
denregionalenPersonenverkehr befand,
wie der Bundesrat schreibt. Doch den
betroffenen Bundesstellen sei stets klar
gewesen, dass die strategischen Ziele
keinenVorrang gegenüber den gesetz-
lichenVorgaben hätten und diePost
dieseVorgabeneinhalten müsse. Zu-
dem bezog sich das damalige Ziel zur
Sicherung oder Steigerung des Unter-


nehmenswertes laut Bundesrat auf die
Post als Ganzes und nicht auf einzelne
Bereiche wiePostauto. Er sieht deshalb
«keinen effektiven Zielkonflikt», wie er
schreibt. Für den Bundesrat gibt es also
keinenFehler imSystem.
Die GPK sieht das anders. Für sie ist
es nicht nachvollziehbar, dass die damals
zuständige Bundesrätin Doris Leuthard
zwar vom problematischen Zielkonflikt
wusste, aber nichts dagegen unternahm.
Die GPK sprach für dasVersäumnis
eine «deutlicheRüge» aus.

Protokoll durchgesickert


DieseWoche hat der «Blick» ein Doku-
ment publik gemacht, das auch die GPK
des Ständerats thematisiert hatte. Laut
dem Protokoll hat derVerwaltungsrat
derPost 2013 über Gewinne beiPost-
auto diskutiert. «Eskommt dieFrage
auf, ob bei ‹Gewinnverbot› im öffent-
lichenVerkehr die Gewinne nicht ein-
fach verschoben werdenkönnen. Hier
untersuchtPA(gemeint ist diePostauto
AG) gemeinsam mit F (Finanzabtei-
lung), wie dies möglich wäre, das sei je-
doch nicht einfach umsetzbar», heisst es
in einemAusriss aus demVerwaltungs-
ratsprotokoll vom 26.Juni 2013.Das

Gremium stand damals unter der Lei-
tung vonPeter Hasler. Die NZZ wies
bereits imJuni 20 18 auf die Brisanz die-
ses Protokolls hin.
DiePost-Sprecherin LéaWertheimer
sagte, dasVerwaltungsratsprotokoll vom
Juni 2013 sei seit längerem bekannt. Bei
der externen Untersuchung durch die
AnwaltskanzleiKellerhals Carrard sei
es geprüft worden. Die Kanzlei sei zum
Schluss gekommen, dass das im April
2018 gefundene Dokument das Ge-
samtbild nicht verändere.Deshalb sei
es nicht explizit in den Untersuchungs-
bericht aufgenommen worden.
Auch die GPK des Ständerats hat das
Dokument thematisiert. «LautPost lag
das Protokoll erst nachFertigstellung
des Berichts vor, weshalb esKellerhals
Carrarddem Eigner am 29. Mai 20 18
separat unterbreitete», schreibt die GPK
in ihrem Bericht. Und weiter: Der Bun-
desrat habe sich bei seinen Entscheiden
im Hinblick auf die Generalversamm-
lung auf eine gesamthafte Beurteilung
gestützt, und das zusätzliche Protokoll
habe «nichts am Gesamtbild geändert».
Es stellt sich dieFrage, wieso dieses
Dokument jetzt an die Öffentlichkeit
gelangt ist. EineVermutung lautet, dass
es zurVerteidigungsstrategie vonPer-

sonen gehört, die in ein Gerichtsverfah-
ren involviert seinkönnten. Demnach
soll der Eindruck entstehen, dieTr ick-
sereien seienaufBefehl von oben, also
vomVerwaltungsrat, geschehen.

Fedpol-Verfahren endet bald


Das Bundesamt fürPolizei (Fedpol)
führt wegen der Bilanzmanipulationen
gegen sechs Ex-Kader derPost Verwal-
tungsstrafverfahren – unter anderem
gegen den ehemaligenPostauto-Chef
DanielLandolf und seinenFinanzchef,
den früherenPost-Finanzchef Pascal
Koradi. Das Verwaltungsstrafverfahren
desFedpolkommt in die Schlussphase.
Die Sprecherin Cathy Maretrechnet
mit einem Abschluss in denkommen-
den Monaten. Eine genaue Prognose ist
schwierig, weil dieParteienFristverlän-
gerungen und Beweisergänzungen ver-
langenkönnen, was zusätzliche Zeit in
Anspruch nimmt. Nach Abschluss des
Verfahrens gibt es zweiVarianten. Die
Fedpol-Direktorin kann auf Antrag des
Ermittlungsleiters Bussen oder Geld-
strafen verhängen.Falls dieTatbestände
als gravierender eingestuft undFrei-
heitsstrafen beantragt werden,kommt
es zu einem Gerichtsprozess.

FDP will


keine PUK zur


Crypto-Affäre


Frakti on fordert Untersuchungen
durch Geschäftsprüfungsdelegation

cb.· Die Einsetzung einer Geschäfts-
prüfungsdelegation (GPDel) ist nach
Meinung der FDP der schnellsteWeg zu
einerAufklärung der Crypto-Affäre, da
die Delegation auf bestehende Struktu-
ren zurückgreifen und die Untersuchun-
gen ohneVerzögerungen in Angriff neh-
menkönne. Dies teilte die FDP amFrei-
tag mit. Die GPDel müsse jedochin den
kommendenWochen beweisen, dass sie
ebenfalls an einer lückenlosenAufklä-
runginteressiert sei, heisst es in der
Medienmitteilung. Entsprechend fordert
die FDP-Fraktion Zwischenberichte, um
eine fundierte Debatte führen zukönnen.
Sollte dabei klarwerden,dass die
Untersuchungen nicht zur gewünschten
Aufklärung führen,sei eine parlamentari-
sche Untersuchungskommission (PUK)
«weiterhin eine Option». Die FDP er-
warte zudem, dass der Bundesrat alles
in seiner Macht Stehende unternehme,
um alleFragen so schnell wie möglich
lückenlos zu klären.Das Vertrauen der
Schweizer Bevölkerung in die Neutrali-
tät der Schweiz sei wiederherzustellen,
heisst es in der Mitteilung.

MartinaBir cher glaubtan denWettbewerb – und macht sich damit nicht nurFreunde. GAETAN BALLY / KEYSTONE
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