Frankfurter Allgemeine Zeitung - 09.03.2020

(singke) #1

SEITE 2·MONTAG, 9.MÄRZ2020·NR.58 FPM Politik FRANKFURTER ALLGEMEINEZEITUNG


Alles wasSituationnicht verschlechtert, istpositiv
ZurWaffenruhe, dieWladimir Putinund der türki-
schePräsidentRecepTayyipErdogan für diesyri-
sche Provinz Idlibvereinbarthaben, schreibt die spa-
nischeZeitung „ElPaís“(Madrid):
„Das Waffenstillstandsabkommen, dasRussland und
die Türkei für den NordwestenSyriensgeschlo ssen ha-
ben (...), is tein wichtiger Ausgangspunkt, um eine di-
rekteKonfrontation zwischen beiden Ländern zu ver-
meidenund die sehr schwerehumanitäreKrise mini-
mal zu lindern. (. ..)Inj edemFall is tdie Situationder
Zivilbevölkerung in derRegion Idlib soverzweifelt,
dassjede Maßnahme, die die Situation nichtver-
schlechtert, positiv ist.Dies kann jedochnicht alsEnt-
schuldigung dafür dienen, andere konkrete Maßnah-
men aufzuschieben, die dazubeit ragen, einen bruta-
len Konflikt zu beenden, der bereitsZehntausende
vonOpfer ngeforderthat.“

Krankenhausgeräteaus demAusland als Problem
ZurLageimGesundheitswesen angesichts derwelt-
weiten Coronavirus-Ausbreitung schreibt dieitalie-
nischeZeitung „LaRepubblica“ (Rom):
„Umunser Gesundheitssystem werden wir auf der
ganzen Welt beneidet,weil es alles abdeckt undweil
es beirelativ geringen Kosten eine hohe Qualität bie-
tet. Es is tsoeffizient,weil es fast immer mitvoller Ka-
pazität arbeitet, ohne ungenutzteStrukturen,Abtei-
lungen und Maschinen. (...)Aber jetzt, um denNot-
fall zu bewältigen, istesdringend nötig, dieZahl der
Betten in den Intensivstationen zuvervielfachen –
und damit auchdie Zahl der Beatmungsgeräte, der In-
fusionspumpen und denRest der Ausrüstung für die
intensiveTherapie und Ähnliches zu erhöhen. Doch
die Versorgungsengpässewach sen gerade. Nursehr
wenigedieser Dinge(wohl nur die Betten für die In-
tensivstationen)werden in Italien hergestellt.Einige

stammenvonchinesischenUnternehmen, dievon
den Auswirkungen des Coronavirus selbstbetroffen
sind. Andere kommen aus europäischen Ländern, die
ihreGerät efür sic hbehaltenwollen, um den eigenen
Notfall in den Griffzubekommen.“

Ruhe be wahrenund weitermachen
ZumUmgangmit dem Coronavirusin Großbritan-
nien meint die britische Zeitung„The SundayTi-
mes“ (London):
„Die angeblichvon ParlamentspräsidentLindsay
Hoylefavorisierte Schließung desParlaments bis Sep-
tember für denFall, dassdortirgendjemand mit Co-
vid-19 diagnostiziertwird, is tkeine Option.(...) Wäh-
rend des ZweitenWeltkriegs, als HitlersBomben auf
London niederprasselten, musstedas Parlament zeit-
weilig in das Church HouseinWestminsterverlegt
werden. Nach der Rückkehr nutztedas Unterhaus zu-

nächs tdie Lords Chamber.Dochwährend dieserweit
größeren nationalenNotsituation arbeitetedas Parla-
ment weiter,was es au ch jetz ttun sollte. Man mussun-
terscheiden zwischenvernünftigen Gesundheitsvor-
kehrungen zur Bekämpfungeine sAusbruchs, der für
die meisten Menschen nurrelativ mildeFolgen hat,
und einer Belagerungsmentalität.Das Leben muss
weiter gehen, und Demokratie musssichtbar ausgeübt
werden. DasParlament sollte Ruhe be wahren undwei-
termachen.“

Regierung mussraschhandeln
Die britischeZeitung„The Independent“ (London)
kommentiert GroßbritanniensBemühungen zur Ein-
dämmung derwirtschaftlichenFolgen der Coronavi-
rus-Krise:
„Die Vorstellungdes Staatshaushalts in derkommen-
den Wochebiete tdem neuen Schatzkanzler Rishi

Sunak Gelegenheit, einigekühneund zielgerichtete
Maßnahmen sowie einen generellen Schub für
wirtscha ftliche Aktivitäten zu präsentieren. Eine
zeitli ch begrenzteSenkung der Mehrwertsteuer
oder einSteueraufschub solltenTeil eines Maßnah-
menpaketsgegen dieseakute Notsituation sein. (...)
Theoretischkönntedie Regierung Großbritannien
abriegeln: Die Häfen absperren, die Flugzeugeam
Boden lassen, die Schulen schließen. Dochselbst
daswürde nurwenig mehr tun, als die Ausbreitung
desVirus zuverlangsamen, obendrein zu unerträgli-
chen Kosten. Aber selbstgefälligzusein und nicht
rec htzei tigMaßnahmen zu ergreifen würdeMen-
schenleben aufsSpiel setzen.Unweigerlichwerden
Regierungsmitgliederntrotz derRichtliniendes
höch sten medizinischen BeratersauchFehler unter-
laufen. Dennochmüssen siehandeln, und zwar
rasch.“

STIMMEN DER ANDEREN


M


antua, Brennerautobahn
A22, Kilometer281, Rich-
tungsfahrbahn nachNor-
den. Hier müsstejetzt ei-
gentlichSchlusssein, es istdie Grenzlinie
zwischen der Region Emilia-Romagna
und derRegion Lombardei. Die Letztere
istlaut einem Dekretder italienischenRe-
gierungvonSonntagNach tumkurznach
zwei Uhr jetzt Sperrgebiet.Undzwarkom-
plett, mit allen zwölf Provinzen, ein-
schließlich der Hauptstadt Mailand.Und
allen insgesamtgut zehn MillionenEin-
wohnernder wirtschaftsstarkenRegion.
„Jede Ortsveränderung, das Betretenund
das Verlassen sowie jede Bewegung inner-
halb des betreffenden Gebiets,ist unter al-
len Umständen zuvermeiden.Ausgenom-
men sind Ortsbewegungen, die aus beruf-
lichen Gründen undwegenNotfälle nun-
abdingbar sind.“ Sosteht es in dem De-
kret,unterzeichnetvon Ministerpräsident
GiuseppeConte.
Außer für diegesamteRegion Lombar-
dei gelten die Bestimmungen fürweitere
14 Provinzen in den norditalienischenRe-
gionen Emilia-Romagna, Piemont undVe-
netien sowie in der mittelitalienischen Re-
gion Marken. Auch Venedig istvon dem
Dekret betroffen. Nimmt man die Lombar-
dei und diese 14 Provinzen zusammen,
dann gelten seit Sonntag bis zunächstzum


  1. April fürrund 16 Millionen Italiener
    strengeEinschränkungen der Bewegungs-
    freiheit. Das istein gutesViertelder rund
    60 Millionen Einwohner Italiens.
    Welche Folgen diese beispiellose Maß-
    nahme für das Land haben wird, istnoch
    nicht absehbar.Soll jeder vierte Italiener
    fürvierWochen zu Hause bleiben undwar-
    ten, bis das Coronavirus „besiegt“ ist, wie
    es in der zunehmendmartialischen Spra-
    cheder Politiker undFachleuteinRom
    heißt? Oder wirdman den im Dekret ver-
    wendetenBegriff „unabdingbar“ imZu-
    sammenhang mit ausnahmsweise zulässi-
    genOrtsveränderungen weit fass en?
    Wieoffen das „Sperrgebiet“noch am
    Sonntagwar,konnteman nicht erst auf der
    Brennerautobahnander Grenzevonder
    Emilia-Romagna zur „isolierten“ Lombar-
    dei erleben: Wederauf der Autobahn
    selbst noch an der Mautstation bei derAb-
    fahrtMantuaNord noch sonst auf einer
    Straße gabese ine Kontrolle odergar eine
    Sperre.Freie Fahrt–abgesehenvonder all-
    gemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung
    von130 Stundenkilometern –hattees
    auchschon weiter südlichauf derAuto-
    bahn vonRom und Bologna RichtungNor-
    den gegeben. Dort führendie A22 und
    auchdie große Nord -Süd-Magistrale A
    durch die ProvinzenModenaund Reggio
    Emilia in derRegionEmilia-Romagna, die
    ebenfallsseit derNacht zum Sonntag
    Sperrgebietsind. Auch dortgab es am
    SonntagmorgenkeineSperrenoder Kon-
    trollen, weder auf der Autobahn noch
    sonstirgendwo.
    Die Sperrgebiete sind keine neuen „ro-
    tenZonen“. Bei diesenhandeltessichum
    die Quarantänezonen, die schon am 23.Fe-
    bruar in einem Gebietmit elfStädten
    nahe Codogno in der Lombardei sowie um
    die GemeindeVo Euganeo inVenetien
    mit zusammenetwa 53 000 Einwohnern
    eingerichtet worden ware n. Diese „roten
    Zonen“ sindtatsächlichseit zweiWochen
    abgeriegelt:Alle Zufahrts straßen –jeden-
    falls die asphaltierten–sind vonCarabi-
    nieri,Polizei und Angehörigen derStreit-
    kräf te abgeriegelt.Niemandkommt hin-
    ein, undkeiner kommt heraus–außer
    Ortskundigeübereinschlägige Feldwege
    und Pfade. DieVersorgung der Bevölke-
    rung wirddurch „sichereKorridore“ si-
    chergestellt, überwelche nur Lastwagen
    mit Sondergenehmigung hineinfahren dür-
    fen.


Eine vergleichbareAbriegelung der
Lombardei–mit knapp 24 000 Quadratki-
lometernetwas größer als das Bundesland
Hessen–ist schon aus topographischen
Gründen nicht möglich. Es heißt, es führ-
ten10000 Straßen,vonAutobahnen über
Staatsstraße nbis zu Gemeindewegen, aus
den vier umliegendenRegionen und aus
dem Nachbarland Schweiz in die Lombar-
dei. DieAutobahnenvonBologna, Genua
und Venedig in Richtung Mailand an den
Außengrenzen der Region zu sperren
oder gardie Grenze zur Schweiz abzurie-
geln scheint undenkbar.Ähnliches gilt für
die 14 „gesperrten“ Provinzen Modena,
Parma, Piacenza,Reggio Emilia, Rimini,
Pesaround Urbino, Alessandria, Asti,No-
vara,Verbano-Cusio-Ossola,Vercelli, Pa-
dua, Treviso undVenedig.
Schon die Bekanntgabe des Dekrets
warchaotischverlaufen. Am Samstag-
abendgegen21Uhr kursierte der Ent-
wurferstmals, wurde bald darauf alsFak-
simile über die InternetseitenvonZeitun-
genund vonFernseh- undRundfunksen-
dernsowie überdie sozialen Medien allge-
mein zugänglich.Zu diesemZeitpunkt
konferierte der Krisenstabumden Regie-
rungschef inRomnoch mit den Präsiden-
tender betroffenen Regionen, denRegie-
rungen der Provinzen und den Bürger-
meistern der Städte. Es soll Entsetzen
und Konsternation, aber auchVerständ-
nis undZustimmung geäußertworden
sein –immer auchabhängigvonder poli-
tischen „Farbgebung“ der jeweiligenRe-
gional-, Provinz- undStadtregierung.

Keine neuen „roten Zonen“

Als Ministerpräsi dent Conte, der seit Sep-
tember die Linkskoalitionvonpopulisti-
scherFünf-Sterne-Bewegung und Sozial-
demokraten führt,weit nac hMitternacht
endlich vordie Presse trat, bezeichnete er
es als „unverantwortlichund inakzepta-
bel“, dassjemandden Text des Dekrets
vordessenformaler Verabschiedung im
Krisenkabinett an die Presse durchgesto-
chen habe. Dies habe zuVerunsicherung
und Verwirrung geführt. Contesagteaus-
drücklich, bei den Sperrgebietenhandele
es sic hnicht um neue „roteZonen“.Fahr-
tenindie Gebieteund aus diesen heraus
dürften aber nur aus den im Dekret ge-
nannten „unabdingbaren“ Gründen unter-
nommenwerden. Die Sicherheitskräfte
würdenKontrollenvornehmen und die
Menschen nachdem Grund ihrerReise
fragen, sagte Conteund fuhrfort:„Wirste-
hen voreiner nationalenNotlage.“Von
möglichen Sanktionen imFall von„unnö-
tigen“Reisen istbisher nicht dieRede.
Attilio Fontana,Regionalpräsident der
Lombardei, derwegeneiner Coronavi-
rus-Infektion eines Mitarbeitersseit rund
einerWocheinhäuslicher Quarantäne
ist, signalisierte Zustimmung zu den Maß-
nahmen. Er bezeichnete das Dekret im
Ganzen aber als unausgegoren und als

„großes Durcheinander“.Luca Zaia, Präsi-
dent derRegion Venetien und wieFonta-
na Mitglied der rechtsnationalistischen
Legades früherenInnenministers Matteo
Salvini, äußerte seine Verwunderung dar-
über,dassesind em Dekret keine klaren
Vorgaben über denWarenv erkehr gebe:
Müsstengemäß Dekret auchLastwagen
und Lieferwagenanden Außengrenzen
der Sperrgebiete haltmachen, odergelte
das faktischeFahrverbotnur fü rPersonen-
beförderung?Zaia sprachvon einemKa-
talog widersprüchlicher Maßnahmen,wel-
chedie Regierung angesichts sichhäufen-
der katastrophaler Meldungenvonder Vi-
rusfront „auf den letzten Drücker“ be-
schlossen habe und die man an Ortund
Stelle kurzfristiggarnicht werdedurchset-
zen können.
Tatsächlichherrschte am Sonntagmor-
genUnsicherheit,wasden Zug- und Flug-
verkehr betraf–zumal vonund nachMai-
land undVenedig. DerAutoverkehr schien
unterdessen unbeeinträchtigt.AmBahn-
hof in Mailand erfuhrenFahrgästeamfrü-
hen SonntagmorgenerstMinutenvorder
geplantenAbfahrtdes Fernverkehrszuges
nachLyon, dassdie Verbindunggestri-
chen wurde.AndereZügeverkehrtendage-
gengemäßFahrplan.Auch an den Flughä-
fenvon Mailand undVenedig herrschte zu-
nächs tnormaler Betrieb,wenngleichdie-
ser seitTagenstark eingeschränkt is t.
Gemäß Dekret müssen in den Sperrge-
bietenMuseen und Theater,Kinos und
Kulturzentren, Kneipen und Diskothe-
ken, dazuFitnessstudios, Skigebiete und
Schwimmbädergeschlossenwerden. Es-
pressobarsdürfenvon 6bis 18 Uhrgeöff-
netbleiben,Restaurants darüber hinaus
auchamAbend –vorausgesetzt, eskann
der für dasganze Land im öffentlichen
Raum empfohlene Mindestabstandvonei-
nemMeter zwischen den Gästeneingehal-
tenwerden.
Schon seit Donnerstag sind imganzen
LandalleBildungseinrichtungengeschlos-
sen. Die „Zwangsferien“ für Kindergär-
ten, Schulen undUniversitätengelten zu-
nächs tbis zum 15. März, aber eineVerlän-
gerung bis zum 3. April gilt alswahrschein-
lich. Ebenfalls landesweit gilt für Beschäf-
tigteimGesundheitswesen eineUrlaubs-
sperre.Schon amFreitag hattedie Regie-
rung in Rombeschlossen, zusätzlich
25 00 0Mitarbeiter zur Bekämpfung derVi-
rusepidemie zu mobilisieren:vonpensio-
niertenÄrztenund Medizinstudenten
kurz vorder Approbation über Pflegekräf-
te bis zu Mitarbeitern für dieVerwaltun-
gender Polikliniken und Krankenhäuser.
Angesichts derweiter sprunghaftsteigen-
den Zahlen vonInfizierten droht ein Zu-
sammenbruchder intensivmedizinischen
Versorgung, zumal in der Lombardei.
Bei herkömmlichen EinsätzenvonRet-
tungsfahrzeugen,etwa bei Verkehrsunfäl-
len und bei akuten Herzerkrankungen,
kommt es zu erheblichen und potentiell
lebensbedrohlichenVerzögerungen.

Offenbar sah sichdie Regierung zu der
Einrichtung der Sperrgebiete veranlasst,
weil es am Samstag alarmierendeZahlen
bei dertägl ichen PressekonferenzvonZi-
vilschutz und nationaler Gesundheitsbe-
hördegab. Binnen 24Stunden hattesich
die Zahl der infiziertenPersonen um
mehr als 1200 auffast 5900 erhöht;eswar
der stärksteAnstieg innerhalb einesTa-
gesseit demAusbruc hder Epidemievor
zwei Wochen. DieZahl derTotenlag am
Samstagabend bei 233, ein Anstieg um 36
gegenüberdem Vortag. 85 Prozent der In-
fektionen und sogar 92 Prozent derTodes-
fälle entfielenauf die Lombardei, dieEmi-
lia-Romagna undVenetien, sagteZivil-
schutz-Chef Angelo Borrelli.

RegerBetrieb in Cafés

Das Durchschnittsalter der an derVirus-
epidemieVerstorbenen liegebei 81 Jah-
ren. Fast drei Viertelder Todesopfer seien
männlich,fast alle hätten anVorerk ran-
kungengelitten, sagteBorrelli und fuhr
fort:„Wirwerden diesenKampfgewin-
nen, wenn sic hunsereBürgerverantwort-
lichverhalten und ihren Lebensstil än-
dern.“Unddann wiederholteer, wasdie
Regierung seitTagenals Goldstandard
der Vorbeugung in denZeiten des Corona-
virusverkündet: keinen Handschlag und
keinen Wangenkusszur Begrüßung; Men-
schenansammlungen meiden;häufig und
gründlichdie Händemit Sei fe undfließen-
dem Wasser waschen; nicht an Mund,
Nase undAugenfassen.
Am Samstaggab Nicola Zingaretti, Prä-
sident derRegion Latium undVorsitzen-
der der Sozialdemokraten, seine Infekti-
on mit dem Coronavirus bekannt.Papst
Franziskus, der seineErkältungweitestge-
hend auskurierthat, sprachamSonntag
das Angelus-Gebetals Vorsichtsmaßnah-
me nicht wiegewohnt am offenen Fenster
des ApostolischenPalastes, sondernin
der dortigen Bibliothek,von wo es über
Großleinwände auf denPetersplatz über-
tragen wurde.Wird in Italien, in der Lom-
bardei und in Mailandgelingen,wasin
China, in der Provinz Hubeiund in der
Metropole Wuhan offenbar glückte:
durch drastische Eingrif fe in den Alltag
und dieFreiheit der Menschendie Aus-
breitung der Epidemie einzudämmen?
Am Sonntagmittag herrschtauf derPiaz-
za Sordello im HerzenvonMantua bei
schönstemVorfrühlingswetter regerBe-
trieb in den Cafés undRestaurants. Die
Sonnenschirme sind nochnicht aufge-
spannt. Den Prosecco und den Aperol
Spritz nimmt man in der milden Sonne.
Pärchen flanieren, Familienspazieren,
Freunde klopfen sichlachendauf die Schul-
ter. Am Lungolago Gonzagasteht eine Po-
lizeistreifeamStraßenrand. Die beiden Be-
amten plaudernmit einem Jogger,kein
Auto wirdkontrolliert, sie schauennur
nachdem Rechte n. Aufden Radwegen am
Ufer des Lago Inferioreist re gerVerkehr.

Alltag in Mailand: Die EinkaufspassageGalleriaVittorio Emanuele II und der Domplatz am Sonntag FotoGetty

DerParteichefvonWuhan hat imchi-
nesischen InterneteinenSturm der
Entrüstunghervorgerufen. In einer Vi-
deokonferenzmitFunktionärensagte
er,essei notwendig, „die Bewohner
derganzenStadt in Dankbarkeit zu
schulen, damit sie demGeneralsekre-
tär (derPartei,Xi Jinping) und der
Kommunistische nPartei Chinas dan-
kenkönnen, im Gleichschritt mit der
Partei marschieren undpositiveEner-
gieverbreitenkönnen“.
Dankbarkeit wofür? Die Bevölke-
rung vonWuhan hat mitAbstand die
schwersten Lastender Corona-Epide-
mie zu tragen.Fast drei Viertelaller
3646 weltweitregistriertenTodesopfer
stammenaus dieserStadt.Zehntausen-
de in Wuhan sind an Covid-19 er-
krankt.Die Millionenstadt is tseit mehr
als eineinhalb Monatenvonder Außen-
welt abgeschnitten.Viele vondenen,
die ihreWohnung seitherkaum verlas-
sen haben, leiden unter Ängstenund
Depressionen, anderehaben ihren Ar-
beitsplatzverloren oder ihreErsparnis-
se, weil sie weiter Miete zahlen müssen
für ein Geschäft, das seit dem 23. Janu-
ar geschlossen ist.
Das Leid derWuhaner hat die Propa-
ganda längstfür sichvereinnahmt.
Staats- undParteichef Xi Jinping hat
das Epizentrum der Epidemieals „ he-
roischeStadt“ bezeichnet. Der Wuha-
ner Parteisekretär wollteoffenbar sei-
nem Chefgefallen und sagteamFrei-
tag: „Die Wuhaner sind heldenhafte
Leute, und sie sind dankbareLeute.“
Die Empörung darüber,dassdem obers-
ten Funktionär derStadt die Loyalität
gegenüber derParteiführung offenbar
wichtiger schien als die Empathiege-
genüber der eigenen Bevölkerung, ließ
nicht langeauf sic hwarten. Die Wuha-
ner SchriftstellerinFang Fang, die sich
in der Corona-Krise zu einer der meist-
gelesenen Stimmen derStadt entwi-
ckelt hat, schrieb im sozialenNetzwerk
Weibo: „Das schöneWort Dankbarkeit
hat nun einen schmutzigen Beiklang.“
Nicht die Bevölkerung, sonderndie Re-
gierung müsse dankbar sein. Etwaden
Angehörigen derTausendeToten, „weil
sie dieTrauer still ertragen habenund
nicht Lärmgeschlagen haben, obwohl
ihreLieben eineKatastrophe erlitten
und sie sie nicht einmal begraben konn-
ten“. Dankbar müsse die Regierung
auchden 40 000 Ärzten und Pflegekräf-
tensein, die ihr Leben imKampfgegen
das Coronavirusriskierthätten.Auch
den vielen freiwilligen Helfern, die das
Leben in derStadt am Laufen hielten.
Die Regierung müssedem Volk die-
nen, nicht umkehrt,schrieb Fang Fang,
derenTexte vonden Zensoren meist
rasch aus demInternetgelöschtwer-

den.Die Schriftstellerin verlangt evon
der Regierung Aufklärungdarüber,
werfür dieVertuschungder Gesund-
heitskrise in denWochen nachdem
Ausbruc hdes neuartigen Coronavirus
verantwortlichsei. Sobald dasVirusun-
terKontrolle sei, müsse dieseFrage in
den Vordergrundrücken. „Wenn es
zehn oder 20Verant wortlichegibt, die
ihreFehler eingestehen und zurücktre-
ten, würde daszeigen, dass es in dieser
GenerationnochFunktionäremitei-
nem Gewissen gibt.“
Vermutlichwar es die Angstvor sol-
chen Fragen, die den lokalenParteichef
auf die Idee brachte, denWuhanern
„Dankbarkeitsbildung“ zuverord nen.
Vielleichtwollteerdamit klarstellen,
dassdie Partei keine öffentlichenZor-
nesbekundungen dulde, wie sie der
stellvertretenden Ministerpräsidentin
Sun Chunlan am Donnerstag entgegen-
schlugen. Als sie inWuhan einenWohn-
komplexbesuchte,riefen viele Anwoh-
ner aus den Hochhäusern herunter
„Schwindel, alles Schwindel“.Videos
davonwurden im Internetverbreitet.
Viel Aufmerksamkeit erhielt am
Samstagauchder Text des Journalisten
und BloggersChu Chaoxin. Es sei „ein
Akt derUnmenschlichkeit“, zu diesem
Zeitpunkteine Kampagne der „Dank-
barkeitsbildung“ startenzuwollen,
schrieb er aufWechat. „Die Wuhaner
habengerade eineKatastrophe durch-
lebt, sie stehen nochimmer unter
Schock.“Jeder,„dessen Herznicht
blind ist,kann das spüren“, schrieb er.
Die Wuhaner brauchten Hilfe,Trost,
materielle Sicherheit–und eine Ent-
schuldigungvonjenen, die für die Krise
verantwortlichseien. Der lokalePartei-
chef müssegeschultwerden, wie er der
Bevölkerung dienen könne. Erwar-
tungsgemäß wurde Chu Chaoxins Es-
sayschnell gelöscht.Aber auchdie Be-
richte üb er dieÄußerungen desPartei-
chefsverschwanden aus dem Internet,
als habe es sie niegegeben. Offenbar
hatteerdie Reaktion der Öffentlichkeit
nicht erwartet.
Es warnicht das erste Mal in denZei-
tendes neuen Coronavirus, dassdie Be-
völkerung mitZorn und Empörung auf
eine neue Propagandakampagne rea-
gierte.Die Kommunistische Jugendliga
musstedeshalbgerade zwei Comicfigu-
renaus demVerkehr nehmen, mit de-
nen sie unter jungen Internetnutzern
patriotische Gefühle weckenwollte.
Unddie Pr ovinz Gansu musstePropa-
gandavideos zurückziehen, in denen
Krankenschwestern vordem Einsatz in
Wuhan die Haaregeschoren wurden,
um sie als nationalistische Helden zu
vereinnahmen. All das sind Anzeichen
für einen massiven Glaubwürdigkeits-
verlustder Partei.

In Deutschland ist dieZahl der bestätig-
tenCoronavirus-Fälle bis Sonntagmor-
genauf 847gestiegen. ImVergleichzu
Samstagnachmittagstieg dieZahl damit
um 52Fälle, wie dasRobertKoch-Insti-
tutamSonntagmitteilte. Bundesgesund-
heitsministerJens Spahn (CDU)sagte
der Zeitung „BildamSonntag“, auchin
Deutschlandmüsse mitTotengerechnet
werden. Spahnregtedie Absagevon Ver-
anstaltungen mit mehr als 1000Teilneh-
mernan, eineflächendeckende Schlie-
ßungvonSchule nforder terbislang
nicht. Am stärkstenbetroffen vomCoro-
navirus istnochimmerNordrhein-West-
falen mit inzwischen 392Fällen,hier
stieg dieZahl seit Samstagnachmittag
um 19. Mehr als 200 davonentfallen auf
den Landkreis Heinsberg, demgrößten
InfektionsherdinDeutschland.
Um eine weiter eAusbreitung einzu-
dämmen, sind einzelne Schulen ge-
schlossenworden. Spahnforder te,die
europäische Seuchenbehörde ECDC zu
stärken, um Epidemienvernünftig be-
gleiten zukönnen.„Wirbrauchen eine
Arteuropäisches RobertKoch-Institut.
Dafür müssen wir im nächstenEU-Haus-
halt das entsprechende Geld zurVerfü-
gung stellen,“ sagteder Minister.

Die Behörden in Spaniengreifen un-
terdessen zu immer drastischeren Maß-
nahmen,umdie Ausbreitung des Coro-
navirus zustoppen.Nach der Schlie-
ßung vonmehr als 200Tageszentren für
Senioren in Madrid wurden amWochen-
ende Teile der KleinstadtHarounter Po-
lizeikontrolle gestellt.Die Beamten
überwachtendie Infiziertenindem Ort
in derAuto nomenRegion La Rioja mit
12 000 Einwohnern, um sicherzustellen,
dass sie die Quarantäne einhalten. Zwi-
schen 3000 und 600 000 EuroGeldstra-
fe drohen denjenigen, die sich nicht an
die Vorschriften halten.
Beim Einsturzeines als Quarantä-
ne-Unterkunftgenutzten Hotels in der
chinesischen Küstenstadt Quanzhou
sindmindes tens zehn Menschenums
Lebengekommen. 23 Menschenwur-
den nochvermi sst, be richtete derchi-
nesischeStaatssenderCCTVamSonn-
tag. Nach dem EinsturzamSamstag
wurdendemnach38Menschen aus
den Trümmerngerettetund ins Kran-
kenhausgebracht.Laut staatlichen Me-
dienergab eineerste Unte rsuchung,
dassRenovierungsarbeiten in dem Ge-
bäude derAuslöser für dasUnglückge-
wesen seinkönnten. F.A.Z.

Freie Fahrtins Sperrgebiet

Immer schön


dankbarsein


Das Regime verlangt vonder Wuhaner Bevölkerung


Demutsgesten/ VonFriederikeBöge, Peking


Zahl der Corona-Infiziertensteigt


Mehr als 800Fälle in Deutschland


Wegendes Co ronavi rus


hat ItaliensRegi erung


dieLomba rdei sowie 14


Provinzen zum


Sper rgebieterklärt.Wie


geht das Lebendort


weiter ?Ein Besuch in


Mantua.


VonMatthiasRüb,


Mantua

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