Handelsblatt - 11.03.2020

(singke) #1
Emmanuel Macron:
Der Präsident hat hohe
Erwartungen geweckt.
Umso tiefer ist er in der
Gunst der Wähler gefallen.

imago images/IP3press

lierbaren Land zu werden, zerrissen
zwischen starken Rechtsextremen,
Grünen im Bündnis mit Kommunis-
ten, antieuropäischen Linksextremen
und den Resten der traditionellen
Konservativen, die nicht zu alter Stär-
ke zurückfinden. Der starke Pfeiler
Europas, der Frankreich mit Macron
ist, würde ins Wanken geraten.
Bei einem Treffen mit den Abge-
ordneten seiner Partei hat Macron
kürzlich selber angesprochen, dass er
in einer kritischen Lage ist: Seine
Amtszeit befinde sich in einer
„schwierigen Phase“. Durch die Re-
formen hätten er und seine Anhänger
einen Ruck der Veränderung durch
das Land geschickt. Darauf könnten
sie stolz sein, doch nun meldeten sich
Kräfte der Beharrung zurück.
Ist das die ganze Erklärung?
Richtig ist: Die lange Auseinander-
setzung um die Rentenreform mit
Protesten, wochenlangen Streiks bei
Bahn und Nahverkehr und der Blo-
ckade des parlamentarischen Verfah-
rens durch die Opposition hat tiefe
Spuren hinterlassen. Der Opposition
ist es gelungen, eine soziale Reform,
von der Geringverdiener profitieren
werden, als Anschlag auf den Sozial-
staat zu diffamieren.
Aber die Boshaftigkeit seiner Geg-
ner erklärt nicht alles, meint ein alter
Verbündeter des Präsidenten. „Ma-
cron hat es versäumt, eine Bewe-
gung mit eigener Identität auf die
Beine zu stellen, er hat sich voll auf
die Machtausübung konzentriert“,
sagt Jean Pisani-Ferry. Der Ökonom
hat 2017 das Programm für den jun-
gen politischen Quereinsteiger koor-
diniert. Nach der Wahl bekam der
Sozialliberale keinen Posten in der
Regierung. Er ging auf Distanz zu Ma-
cron, nachdem der in der Migrati-
onspolitik eine harte Linie einschla-
gen hatte, verteidigt aber nach wie


vor dessen Reformen. Auch über die
umstrittene weitgehende Abschaf-
fung der Vermögensteuer sagt er:
„Der trauere ich nicht nach.“
Viele Kritiker vergäßen, dass Ma-
cron „einiges für mehr soziale Ge-
rechtigkeit getan hat, für die Schu-
len, für die Berufsausbildung“, hält
Pisani-Ferry dem Präsidenten zugu-
te. Aber diese Reformen seien „nicht
genügend bekanntgemacht und he-
rausgestellt worden“, analysiert er.
Darum habe Macron Millionen von
linken Wählern verloren, die ihm
2017 noch zugeströmt waren. Statt
für die eigenen Sozialreformen zu
werben, habe die Regierung im Zu-
sammenhang mit der Einschränkung
der Vermögensteuer eine „absurde
Theorie des Durchtröpfelns“ dieser
Steuersenkung zu den ärmeren
Schichten vertreten.
Das OFCE, eines der drei großen
Wirtschaftsforschungsinstitute, hat
im Februar vorgerechnet, dass 90
Prozent der von Macron beschlosse-
nen Steuer- und Abgabensenkungen
den Reichen zugutekämen. Wie ge-
lähmt ließ die Regierung den folgen-
den Shitstorm über sich ergehen.
Nur Wirtschafts- und Finanzminister
Bruno Le Maire hielt schüchtern da-
gegen, mit einer Telefonkonferenz,
in der ein paar Dutzend Teilnehmer
darüber aufgeklärt wurden, dass die
Berechnung so nicht stimme. Eigene
Zahlen legten die Macron-Leute aber
nicht vor.
Die linke Mitte, einst begeistert
von Macrons Versprechen, wieder
für sozialen Aufstieg zu sorgen, hat
sich mittlerweile ihre Meinung gebil-
det: Der politische Quereinsteiger sei
in Wirklichkeit der Präsident der Rei-
chen. Sogar manche Rechte werfen
ihm heute vor, sozial unsensibel zu

sein und damit verantwortlich für
die Unruhe in der Bevölkerung.
Diese Unruhe drückte sich ab No-
vember 2018 in den Protesten der
„Gelbwesten“ aus. Bei den zusam-
mengewürfelten Demonstrationen
verarmter Handwerker, Rentner und
prekär Beschäftigter war Macron die
absolute Hassfigur. Aus seinem Präsi-
dentenpalast herausprügeln wollten
ihn viele, andere gar auf die Guilloti-
ne zerren.
Nur wenige Monate nachdem die
„Gilets jaunes“ ihre Westen wieder
eingepackt hatten, begannen die
Streiks und Massendemonstrationen
gegen Macrons Rentenreform. Man-
che Gewerkschafter marschierten
mit Macron-Köpfen aus Papp-
maschee auf langen Spießen durch
die Straßen, andere spielten nach,
wie er zu Boden geworfen und getre-
ten würde – makabre Schauspiele.
Sie zeigen, dass ein Klima der Gewalt
an die Stelle von „Versöhnen und

Wohlwollen“ getreten ist, die Macron
predigte und die in den ersten Mona-
ten seiner Amtszeit auch spürbar wa-
ren: Frankreich wirkte plötzlich ge-
lassen, vernünftig, aufgeschlossen
für Modernisierung.
Davon ist nicht mehr viel übrig ge-
blieben. Schuld daran sind nicht nur
Macrons Gegner, die ihn von vorn -
herein als „Rothschild-Politiker“ dif-
famiert haben. Er selbst hat einen
großen Teil dazu beigetragen – durch
Übermut, unsinnige Entscheidungen
und schlecht vorbereitete Gesetze.
Potenzielle Bündnispartner hat er
hochmütig übergangen. „Schauen
Sie sich an, was mit der (reformeri-
schen Gewerkschaft) CFDT und de-
ren Chef Laurent Berger geschehen
ist“, ärgert sich der linksliberale So-
ziologe Michel Wieviorka: „Das war
ein Traumpartner für Macron, ge-
achtet, reformerisch, verhandlungs-
bereit, doch die Regierung hat die
CFDT missachtet.“

Schlimmer noch: Macron hat sie
ins Lager seiner Gegner getrieben.
Als einzige große Gewerkschaft stand
die CFDT hinter Macrons Rentenre-
form, einem Kraftakt, der die bishe-
rige Altersruhe sowie 42 Sonderren-
tensysteme mit vielen Privilegien
durch eine gemeinsame Rente für al-
le, auf Punkten basierend, ersetzt.
Doch dann kam Premierminister
Edouard Philippe und verkündete
Renteneinsparungen in der Größen-
ordnung von acht Milliarden Euro.
Für die CFDT ein Casus Belli: Ihr
blieb keine andere Wahl, als ins La-
ger der Gegner umzuschwenken.
„Man versteht nicht, warum der Prä-
sident seinen Premierminister hat
machen lassen. Es gab keine Notwen-
digkeit, auf die Reform des Systems
budgetäre Maßnahmen draufzupa-
cken“, wundert sich Pisani-Ferry.
Es war nicht die erste Fehlleistung
des Premiers. 2018 verordnete er
dem ländlichen Frankreich ohne je-
de Debatte eine generelle Geschwin-
digkeitsbegrenzung auf 80 Kilometer
je Stunde. Bei den Menschen in der
Provinz kam das nicht nur als ein Akt
Pariser Arroganz an, sondern auch
als völlige Ablösung von der Lebens-
wirklichkeit der „France oubliée“,
des vergessenen Frankreichs. Philip-
pe löste damit die erste Welle der Ge-
walt aus, die fast flächendeckende
Zerstörung von Radarfallen. Das war
die Vorstufe zu den Gelbwesten.
Aus der folgenden tiefen Krise der
Gelbwesten-Proteste hat Macron sich
aus eigener Kraft befreit. Im Rahmen
einer „großen nationalen Debatte“
zog er wochenlang durch ganz
Frankreich, stellte sich bis zu acht
Stunden am Stück dem Gespräch mit
den Unzufriedenen. Alle Kritiker, die
ihm Arroganz vorwerfen, vergessen,
wie rückhaltlos er sich auf harte Dis-
kussionen mit allen einlässt, die ihm
skeptisch gegenüberstehen – und
dass er sie oft überzeugt, mit Sach-
kenntnis, Verve und überschäumen-
der Energie.

Klarheit über die Linie
Jean-Thomas Lesueur vom konserva-
tiven Institut „Thomas Morus“
glaubt, dass Macron seine letzte Pa-
trone noch längst nicht verschossen
habe. „25 bis 30 Prozent der Wähler
hat er noch hinter sich“, schätzt er,
„nämlich die Globalisierungsgewin-
ner.“ Das entspricht den Zustim-
mungswerten, auf die der Präsident
kommt. Die schwanken um 30 Pro-
zent.
Spannend für Frankreich und sei-
ne europäischen Partner ist, mit wel-
cher Politik Macron auf die absehba-
re Niederlage bei den Kommunal-
wahlen reagieren wird. Bevor die
Corona-Epidemie alles andere domi-
nierte, wirkte er unentschlossen: Mal
stapfte er über einen schmelzenden
Alpengletscher und verkündete von
dort den Kampf gegen den Klima-
wandel als oberste Priorität. Dann
fuhr er in ein Problemgebiet in Mul-
house und bezeichnete „den islamis-
tischen Separatismus“ als gefähr-
lichsten Feind der Republik.
Mal blinkt der Präsident grün, mal
umgarnt er rechte Wähler. Eine klare
Linie ist nicht auszumachen. In sei-
ner Umgebung, in der Fraktion und
sogar in der Regierung liegen sich die
Anhänger einer linksliberalen Politik
wie Arbeitsministerin Muriel Péni-
caud und der konservative Premier
Philippe in den Haaren. Noch ge-
währt die Epidemie ihm Aufschub.
Doch bald wird Macron entscheiden
müssen, mit welchem Kurs er in den
restlichen zwei Jahren versuchen
will, wieder aus der Defensive zu
kommen.

Protest gegen
Rentenreform,
Besuch im Kranken-
haus, Diskussion
mit Senioren:
Der Präsident kann
noch immer
Energie und Hoffnung
versprühen,
viele Maßnahmen
kamen aber in der
Bevölkerung
nicht gut an.

AP

imago images/Hans Lucas

Macron hat es versäumt, eine


Bewegung mit eigener Identität


auf die Beine zu stellen, er hat sich voll


auf die Machtausübung konzentriert.


Jean Pisani-Ferry
Ökonom

AFP

Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 11. MÄRZ 2020, NR. 50
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